Joachim Lottmann: Happy EndIrgendwann hat das jeder einmal erlebt. Man steht am Tresen in einer Kneipe und wartet auf ein Bier. Da kommt ein Mensch (es ist immer ein Mann), nicht unsympathisch, stellt sich neben einem und beginnt, zu erzählen. Über das Bier hier in der Kneipe, die Bedienung, seine Arbeit, über Politik, seinen Urlaub, seine Beziehung, die Ungerechtigkeit in der Welt – es geht einfach um Alles. Erst ist man nett abgelenkt, nickt zuweilen aus Höflichkeit, aber irgendwann wünscht man sich, dass ein ehemaliger Schulfreund das Lokal betritt, das leise im Hintergrund dudelnde Radio eine weltbewegende Nachricht verkündet oder mindestens dass das Mobiltelefon klingelt – inständig ersehnt man einen sozial halbwegs glaubwürdigen Grund, dem Redeschwall zu entfliehen.
In etwa ist das die Situation mit Joachim Lottmanns neuem Buch »Happy End«. Der wichtigste Unterschied ist, dass ich, der Leser, mich sozusagen an Lottmanns Tresen gestellt habe. Und das da jemand nicht über Beziehungsprobleme erzählt, sondern bereits auf den ersten Seiten seine Frau Elisabeth, genannt Sissi, eine 38jährige erfolgreiche Linksintellektuelle, die über das Elend in der Welt in Vergangenheit und Gegenwart zielsicher schreiben kann und in »geriatrischen« Filmen heult, in den höchsten Tönen lobt. Weiter geht es um Urlaubsreisen, Lektüreeindrücke, Kolumnenschreiberei (Schwerpunkt Tierkolumnen), seine Magenschmerzen, die auf eine zu starke Vereinnahmung durch die so vergötterte Frau hindeuten und eine Geheimwohnung in Wien. Dass einem bei der Lektüre der Kopf vor lauter Müdigkeit nicht auf das E‑Book-Lesegerät fällt vermag man nur zu vermeiden, indem man diesen gelegentlich schüttelt. Eine Melange aus Hoffnung, Pflichtbewusstsein und Masochismus führt dazu, dass man bis zum Ende liest.
Harry S. Nowack lebt im Ruhrgebiet, ist freier Fotograf und kann sich die Art seiner jeweiligen Unfreiheit daher aussuchen. Wenn er annimmt, seine Bilder wären nicht nur Nachrichten, sondern gültige Deutungen der Ereignisse bietet er sie Bildagenturen oder Lokalzeitungen an. Ansonsten schlägt er sich durch mit kleinen Aufträgen unter anderem auch von der Polizei, der er ansonsten skeptisch gegenübersteht, durch. Nowack ist trotz stets drohender Mittellosigkeit Künstler, Bonvivant, Frauenheld und auch ein bisschen ein Revoluzzer, der sich von linken politischen Heilsidealen noch nicht ganz entfernt hat. Aber vor allem ist Nowack ein Phantast, der alle Erscheinungen sofort in surreale Traum- und auch gelegentlich Alptraumszenarien verwandelt und sie unentwirrbar mit der Realität verknüpft. Diese Bilder, diese wilden, psychedelischen Assoziationsgewitter und skurrile Wirklichkeitsverzerrungen, bilden den Kern von Wolfgang Körners Roman »Nowack«.
Dreh- und Angelpunkt von Nowacks Unternehmungen ist neben seiner Kellerwohnung das Café Capocci, in dem er die mit Spitznamen bezeichneten Protagonisten trifft: Jack the Ripper, Dr. Stein, Dr. Seiler, Ferdo Gawrilowicz, Drogenpeter. Und natürlich die Frauen, die entweder irgendwann vor seiner Tür stehen, wie die Sechszwölfteljungfrau, die ihn stets in aufreizender Designer-Garderobe aufsucht und ihren vermögenden Mann verlassen will (es kommt dann in einer urkomischen Szene ein wenig anders), das Schreibmaschinenmädchen Beate, die er im Pfandhaus kennen- und dann auch lieben lernt oder seine Ex-Geliebte Monika, die er vor allem beim Beischlaf mit den anderen Frauen einfach nicht vergessen kann.
Tatsächlich ist die Verankerung Nowacks im Ruhrgebiet essentiell für diesen Roman. Es geht um lokale Ereignisse, die ihre Schatten voraus werfen: Das sogenannte Zechensterben und die damit verbundenen massiven Änderungen in der Lebens- und Arbeitswelt der Menschen vor Ort. Daher kann »Nowack« nicht in Hamburg oder München spielen. Seine surreale Bilderwelt, die immer wieder aufbricht und praktisch keine Szene naturalistisch zu Ende erzählt, ist hingegen jenseits geographischer Verortungen.