Ralf Roth­mann: Theo­rie des Re­gens

Ralf Rothmann: Theorie des Regens
Ralf Roth­mann:
Theo­rie des Re­gens

No­ti­zen, Apho­ris­men, kur­ze Er­eig­nis­split­ter oder ein­fach nur Er­schau­tes und Re­fle­xi­ves von All­täg­li­chem: in den letz­ten Jah­ren zieht mich die­se Form von Li­te­ra­tur im­mer mehr an. Der »gro­ße Ro­man«, die kunst­vol­le »Short-Sto­ry« – schon recht. Aber manch­mal spürt man zu sehr den Wil­len oder auch den Wi­der­wil­len des Au­tors, ei­ne Ge­schich­te vor­an­trei­ben zu müs­sen. Die­ser Zwang ent­fällt in die­ser Kür­zest­pro­sa (die frei­lich an­de­re Fall­stricke auf­weist).

Roth­manns No­ti­zen mit dem ly­ri­schen Ti­tel Theo­rie des Re­gens um­fas­sen den Zeit­raum von 1973 bis 2023, al­so sat­te fünf­zig Jah­re. Da­bei zei­gen die nur et­was mehr als 200 Sei­ten, dass hier ei­ne Aus­wahl vor­liegt. Die Ein­tra­gun­gen sind chro­no­lo­gisch, aber ab und zu stockt die Zeit­fol­ge und Roth­mann be­ginnt zu bi­lan­zie­ren, sich mit dem heu­ti­gen Wis­sen zu er­in­nern, et­wa wenn er »das kal­te, ta­schen­so­zio­lo­gi­sche Men­schen­sor­tie­ren in der Li­te­ra­tur die­ser frü­hen acht­zi­ger Jah­re« kri­ti­siert, üb­ri­gens, wie er be­kennt, »auch zwi­schen mei­nen Zei­len«. Manch­mal wer­den, so hat man das Ge­fühl, be­wusst Jah­res­zah­len ein­ge­fügt, da­mit der Le­ser ei­nen Über­blick er­hält.

Der Vor­teil des nicht son­der­lich mit dem Werk ver­trau­ten ist die Un­vor­ein­ge­nom­men­heit, mit der man die Lek­tü­re be­geht. 1973 ist Roth­mann 20 Jah­re alt, lebt im als eng emp­fun­de­nen West-Ber­lin und ist prak­tisch mit­tel­los. Es ist die Zeit der »Ge­burt des Er­zäh­lers aus der Lieb­lo­sig­keit«, »be­fan­gen in ei­ner ma­ni­schen Au­gen­blick­lich­keit«. Für 600 Mark stellt er sich als Stroh­mann für ei­nen Au­to­käu­fer im Iran zur Ver­fü­gung und macht sich mit an­de­ren Stroh­män­nern und ei­nem Käu­fer auf den Weg nach Te­he­ran. Es ist ei­ne von meh­re­ren Rei­sen, die at­mo­sphä­risch dicht skiz­ziert wer­den. So wie die­ser Ame­ri­ka-Trip zehn Jah­re spä­ter, mit Auf­ent­hal­ten in New York, Me­xi­ko-Ci­ty, Ti­jua­na, Aca­pul­co, schließ­lich Ecua­dor und Pe­ru (zu Zei­ten des »Leuch­ten­den Pfad« ge­fähr­lich). Um­wer­fend dar­in die Epi­so­de ei­ner Ge­birgs­tour mit dem fur­zen­den Fós­fo­ri­to, dem sei­ner­zeit klüg­sten Pferd in Ecua­dor; ei­ne Ge­schich­te mit ei­ner my­sti­schen Poin­te.

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Ralf Roth­mann: Im Früh­ling ster­ben

Ralf Rothmann: Im Frühling sterben
Ralf Roth­mann:
Im Früh­ling ster­ben

»Das Schwei­gen, das tie­fe Ver­schwei­gen, be­son­ders wenn es To­te meint, ist letzt­lich ein Va­ku­um, das das Le­ben ir­gend­wann von selbst mit Wahr­heit füllt.« So be­ginnt Ralf Roth­mann sei­nen Ro­man »Im Früh­ling ster­ben«. Man sieht vor sei­nem gei­sti­gen Au­ge förm­lich den prä­ten­tiö­sen Aus­druck des Dich­ters oder Vor­le­sers, der be­deu­tungs­schwe­re Duk­tus, der den Le­ser, die Le­se­rin, auf die­se Li­te­ra­tur vor­be­rei­ten soll und un­um­wun­den si­gna­li­siert: Hier ent­steht et­was ganz Be­son­de­res, ein Mei­ster­werk. Das Schwei­gen, »wenn es To­te meint«, füllt das Le­ben mit »Wahr­heit«. Fra­gen, wes­sen Le­ben mit Wahr­heit ge­füllt wer­den soll und wie dies mit dem »tie­fen Ver­schwei­gen« ge­meint sein könn­te, wir­ken da eher stö­rend, nach dem Sinn die­ses Sat­zes zu su­chen erst recht.

Sechs­ein­halb Sei­ten skiz­ziert ein Ich-Er­zäh­ler mit star­ken Stri­chen das Le­ben sei­nes Va­ters Wal­ter Ur­ban. Das schweig­sa­me We­sen, sei­ne Hilfs­be­reit­schaft (»das Wort hoch­an­stän­dig fiel oft«), die Jacken von C & A, die er ger­ne trug. 30 Jah­re ar­bei­te­te er als Hau­er im Berg­werk in Es­sen, oh­ne Ge­hör­schutz. Er er­taub­te und ver­stand nur noch sei­ne Frau, »ob es ih­re Stimm­fre­quenz war oder die Art der Lip­pen­be­we­gung« weiß der Er­zäh­ler nicht. Nach der Früh­ver­ren­tung, die ihn kränk­te, war das Le­ben prak­tisch schon zu En­de. Es gab die Zei­tung, Heft­chen­ro­ma­ne und, lei­der, den Al­ko­hol. Schließ­lich der Krebs mit 60, das war 1987. Der Er­zäh­ler schenkt ihm ein Heft, in dem er et­was vom Krieg, von sei­nem Le­ben auf­schrei­ben soll, aber au­ßer ein paar Orts­na­men schreibt Wal­ter Ur­ban nichts hin­ein. Der Schrift­stel­ler sei doch er, be­merkt er spitz­bü­bisch. Auf dem Ster­be­bett be­ginnt er im Schlaf zu spre­chen. Er sei jetzt »wie­der im Krieg« sagt dann sei­ne Frau.

Und dann, auf Sei­te 13, be­ginnt ei­ne Ge­schich­te von Wal­ter Ur­ban ab Fe­bru­ar 1945. Er ist Mel­ker­lehr­ling in Nord­deutsch­land, der Prü­gel-Va­ter im Feld ir­gend­wo auf dem Bal­kan (straf­ver­setzt, weil er Ge­fan­ge­nen Zi­ga­ret­ten ge­ge­ben ha­ben soll), die Mut­ter mit sei­ner Schwe­ster in Es­sen. Es ist Sonn­tag und es gibt ein Fest. Der »Reichs­nähr­stand« gibt ei­nen aus. Man trifft sich im »Fähr­hof«, die Ka­pel­le, die aus Kriegs­ver­sehr­ten be­steht, spielt Hans Al­bers, Za­rah Le­an­der und Heinz Rüh­mann. Ir­gend­wo steht auch ein SS-Mann mit der Auf­schrift »Frunds­berg« – schö­ner Gruss von Roth­mann an Gün­ter Grass.

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