Noch ein Preis­ge­krön­ter

Al­les wie­der im Lot – so der Te­nor der Pres­se­er­klä­rung des Lan­des Rhein­land Pfalz. Ro­bert Men­as­se be­kommt trotz ei­ni­ger Ein­wän­de die Zuck­may­er-Me­dail­le, die, wie man le­sen kann, für »Ver­dien­ste um die deut­sche Spra­che und um das künst­le­ri­sche Wort« ver­ge­ben wird. Da Li­te­ra­tur­prei­se im­mer auch Ge­sin­nungs­prei­se sind, hat­te man ei­gent­lich nichts an­de­res er­war­tet. Das biss­chen Krei­de, dass Men­as­se es­sen muss­te, spielt da kei­ne Rol­le.

Men­as­se war in die (li­te­ra­tur­be­trieb­li­chen) Schlag­zei­len ge­ra­ten, weil er Zi­ta­te des er­sten Vor­sit­zen­den der Kom­mis­si­on der Eu­ro­päi­schen Wirt­schafts­ge­mein­schaft, Wal­ter Hall­stein, ge­fälscht und ihm ei­ne Re­de in Ausch­witz an­ge­dich­tet hat­te. Der Knack­punkt war, das Men­as­ses Fäl­schun­gen nicht nur in sei­nen Ro­ma­nen ge­tä­tigt wur­den, son­dern auch in den öf­fent­li­chen Re­den und Es­says des Au­tors auf­tauch­ten. Sie dien­ten als Schmuck für sei­ne po­li­ti­sche Idee des ent­na­tio­na­li­sier­ten Ein­heits­staats Eu­ro­pa. Men­as­se sieht im Na­tio­nal­staat den Keim für die Ka­ta­stro­phen des 20. Jahr­hun­derts und glaubt, dass ei­ne Art von Ver­ei­nig­te Staa­ten von Eu­ro­pa den Dä­mon für im­mer ban­nen könn­te. Wie ge­nau die­ser Ein­heits­staat aus­se­hen könn­te und mit wel­chem Per­so­nal bleibt dif­fus. Mit sol­chen Ne­ben­säch­lich­kei­ten be­schäf­tigt sich der Vi­sio­när eher nicht.

Men­as­se galt (und gilt) als Mu­ster­bei­spiel ei­nes en­ga­gier­ten Au­tors. Ei­ne Art öster­rei­chi­scher Grass, was die EU an­geht. Es gibt Leu­te, auf de­ren li­te­ra­ri­sches Ur­teil ich viel ge­be, die ihn für ei­nen gu­ten Schrift­stel­ler hal­ten. Ich kann das nicht be­ur­tei­len – er ist mir ir­gend­wie nie be­geg­net. »Die Haupt­stadt« ha­be ich auch nicht ge­le­sen. Ei­ni­ge po­li­ti­sche State­ments Men­as­ses schon.

Die Ge­schich­te die­ser Fäl­schun­gen kann man bei Ge­rald Krieg­ho­fer nach­schla­gen, der sich mit fal­schen Zi­ta­ten akri­bisch be­schäf­tigt. An­zei­chen gab es be­reits 2017 – hö­ren woll­te das nie­mand. Erst als Ans­gar Graw kurz vor Weih­nach­ten ei­ne Stel­lung­nah­me von Men­as­se er­hielt, be­kam die Sa­che ei­ne neue Dy­na­mik.

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Die bes­se­ren Schrift­stel­ler

Bald ist Weih­nach­ten und Sil­ve­ster und da­nach be­ginnt ein neu­es Jahr und die Af­fä­re um ei­nen ge­wis­sen Claas Re­lo­ti­us wird nur noch Rand­grup­pen in­ter­es­sie­ren. Von da­her ist der Au­gen­blick der Spie­gel-Beich­te ge­schickt ge­wählt. Und in­zwi­schen meh­ren sich ja auch die üb­li­chen Tä­ter­ver­ste­her wie­der, die die Mo­ti­va­ti­on über­all su­chen nur nicht mehr beim Ver­ur­sa­cher. Da ist na­tür­lich das Pu­bli­kum oder so­fort die »neo­li­be­ra­le« Wirt­schaft, die Jour­na­li­sten­prei­se und de­ren Ju­ro­ren oder das in­ter­ne Feh­ler­ma­nage­ment des Spie­gel. Herr Nig­ge­mei­er stört der Stil des Auf­klä­rungs­tex­tes von Herrn Ficht­ner, der, und das über­rascht nun wirk­lich, im üb­li­chen Spie­gel-Jar­gon ge­schrie­ben sei. Ja wie denn auch sonst, möch­te man hin­ter­her­ru­fen und noch ein­mal auf den En­zens­ber­ger-Text von 1957 hin­wei­sen.

Ei­ni­ge sor­gen sich um das See­len­wohl von Herrn Re­lo­ti­us. An­de­re nen­nen das Ge­sche­hen »Tra­gö­die« – wie so häu­fig ei­ne voll­kom­men fal­sche Zu­schrei­bung. Aber im­mer­hin zeigt es Mit­leid an. Tat­säch­lich spielt es kaum mehr ei­ne Rol­le wel­che von Re­lo­ti­us’ Re­por­ta­gen rei­ne Fik­ti­on sind bzw. wo die Lü­ge be­ginnt und wo sie en­det. War­um soll­te man jetzt ei­ne Text­fled­de­rei be­trei­ben und das Ge­schrei­be da­mit noch ein­mal auf­wer­ten?

Den Keim für die­se Ent­wick­lung des Jour­na­lis­mus wird man da­mit nicht fin­den. Längst se­hen sich vie­le Jour­na­li­sten als die bes­se­ren Schrift­stel­ler. Ei­ni­ge – u. a. Dirk Kurb­ju­weit vom Spie­gel, der nun die Auf­klä­rung be­trei­ben will und flugs ei­nen neu­en Hel­den des Jour­na­lis­mus aus dem Hut zau­bert – ge­rie­ren sich längst als Ro­man­au­to­ren. Nie­mand scheint dies son­der­lich zu (be)kümmern. In den Feuil­le­tons und in den öf­fent­lich-recht­li­chen Me­di­en ist das nor­mal. Was dies für den Stil und vor al­lem für den Jour­na­lis­mus der Prot­ago­ni­sten be­deu­tet, in­ter­es­siert nie­man­den. Ver­mut­lich, weil selbst die pro­fes­sio­nel­len Le­ser kaum noch zwi­schen Jour­na­lis­mus und Fik­ti­on un­ter­schei­den kön­nen bzw. da­zu be­reit sind.

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Auf ver­lo­re­nem Po­sten

Die Neu­gier des Jour­na­li­sten und die Gren­zen des Wis­sens

Seit der er­sten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts wird un­ser so­ge­nann­tes Welt­wis­sen im­mer mehr von den Mas­sen­me­di­en be­stimmt, die ei­ne ra­san­te, noch lan­ge nicht ab­ge­schlos­se­ne Ent­wick­lung durch­ge­macht ha­ben. Die Le­ben der mei­sten Men­schen in der west­li­chen Welt sind ver­hält­nis­mä­ßig arm an un­mit­tel­ba­ren, per­sön­li­chen Er­fah­run­gen. Si­cher­heits­den­ken, Vor­sor­ge, Schutz­maß­nah­men al­ler Art ver­stär­ken die­se Ten­denz noch. Gleich­zei­tig wer­den wir durch die Mas­sen­me­di­en, vor al­lem die Bild­me­di­en, tag­täg­lich mit oft haar­sträu­ben­den oder er­schüt­tern­den Er­eig­nis­sen kon­fron­tiert, und die mei­sten Kon­su­men­ten set­zen sich die­ser In­for­ma­ti­on, die­ser Be­ein­flus­sung ge­wohn­heits­mä­ßig und gern aus. Die Kluft zwi­schen per­sön­li­cher Er­fah­rung und Welt­wis­sen ist tief ge­wor­den. PR-Stra­te­gien di­ver­ser An­bie­ter der Frei­zeit­in­du­strie – Rei­se, Sport, Well­ness, Es­sen & Trin­ken, Part­ner­su­che – be­schwö­ren Aben­teu­er­lich­keit und Ge­nuß­freu­de, Lei­den­schaf­ten und Er­leb­nis­se um­so ein­dring­li­cher, je mehr die rea­len Grund­la­gen da­für schwin­den. Es gibt Er­leb­nis­braue­rei­en und Er­leb­nis­du­schen, Er­leb­nis­tickets und Er­leb­nis­gut­schei­ne, Er­leb­nis­ta­ge und Er­leb­nis­näch­te, und na­tür­lich gibt es auch ei­nen Markt­füh­rer für die Ver­mitt­lung von Er­leb­nis­sen. Was den Kon­su­men­ten von die­sen Fir­men ver­kauft wird, ist Er­satz. Je lang­wei­li­ger das Le­ben der Kun­den, de­sto mehr Sen­sa­ti­on, Schock und Em­pö­rung brau­chen sie. Viel­leicht ist das seit je­her ei­ne Ei­gen­tüm­lich­keit der Men­schen. Ei­ner, der es ei­gent­lich wis­sen muß­te, der Jour­na­list und Schrift­stel­ler Ryszard Ka­pu­scin­ski, schrieb: »Un­se­re Phan­ta­sie lechzt näm­lich nach der klein­sten Sen­sa­ti­on, dem ge­ring­sten Si­gnal ei­ner Be­dro­hung, dem schwäch­sten Pul­ver­ge­ruch, saugt al­les gie­rig auf, um es dann un­ver­züg­lich zu mon­strö­sen, über­wäl­ti­gen­den Aus­ma­ßen auf­zu­bla­sen.«

Sol­chen Ein­sich­ten zum Trotz ha­ben sich ha­ben sich in den de­mo­kra­ti­schen Län­dern im Be­reich der Print­me­di­en Re­geln und Stan­dards her­aus­ge­bil­det, die heu­te – auch beim Fern­se­hen, zu­min­dest theo­re­tisch – für Jour­na­li­sten als ver­bind­lich gel­ten. Ein Ar­ti­kel über gleich wel­ches The­ma soll mög­lichst ob­jek­tiv und aus­ge­wo­gen sein, der Ver­fas­ser soll Quel­len an­ge­ben und über­prü­fen, Fak­ten checken und ge­gen­checken, un­ter­schied­li­che Sicht­wei­sen und Mei­nun­gen zu Ge­hör brin­gen. Ich ge­brau­che das Ad­verb »mög­lichst«, weil auf der Hand liegt, daß es nicht im­mer ein­fach ist, die­sen An­for­de­run­gen ge­recht zu wer­den; An­for­de­run­gen, die im üb­ri­gen durch das Über­hand­neh­men des Un­ter­hal­tungs­fak­tors und dem Buh­len um blo­ße Auf­merk­sam­keit – Ein­schalt- und Click­quo­ten – aus­ge­dünnt, wo nicht über­flüs­sig ge­macht wer­den. Man kann sich so­gar, oh­ne ins De­tail zu ge­hen oder Bei­spie­le zu er­ör­tern, die Fra­ge stel­len, ob et­was wie »Ob­jek­ti­vi­tät« über­haupt mög­lich ist. Als Norm oder Wunsch be­ruht sie auf ei­nem Ana­lo­gie­mo­dell, dem­zu­fol­ge Tex­te und Bil­der ei­ne Wirk­lich­keit ab­bil­den, ihr zu­min­dest »ent­spre­chen«. Auf die Wirk­lich­keit ak­tiv Ein­fluß zu neh­men oder sie gar zu »kon­stru­ie­ren«, um ei­nen Mo­de­be­griff aka­de­mi­scher Kul­tur­wis­sen­schaft­ler zu ge­brau­chen, ist nach die­sen Prin­zi­pi­en nicht die Auf­ga­be ei­nes Jour­na­li­sten. Jo­r­is Luy­en­di­jk, jah­re­lang Aus­lands­kor­re­spon­dent im Na­hen Osten, zeigt in ei­nem Buch, das sei­ne dies­be­züg­li­chen Er­fah­run­gen auf­ar­bei­tet, wie groß der Ab­stand zwi­schen den heh­ren Prin­zi­pi­en und der jour­na­li­sti­schen Pra­xis ist. Sei­ner Dar­stel­lung zu­fol­ge ist es so gut wie un­mög­lich, sich in ei­ner Dik­ta­tur oder in be­setz­ten Ge­bie­ten ein – »ad­äqua­tes« – Bild von den tat­säch­li­chen Vor­gän­gen im Land zu ma­chen, weil die In­for­ma­ti­on auf­be­rei­tet, ge­fil­tert und/oder ganz un­ter­drückt wird und die Men­schen in Angst le­ben, so daß sie ih­re Mei­nun­gen und Er­fah­run­gen nicht frei äu­ßern kön­nen (und selbst wenn sie es tun, muß sich der ver­ant­wor­tungs­vol­le Jour­na­list fra­gen, ob er durch die Ver­öf­fent­li­chung den Aus­kunft­ge­ber nicht in Ge­fahr bringt). Das­sel­be gilt für Si­tua­tio­nen, in de­nen ein Me­di­en­krieg ent­fes­selt wur­de, wo­bei auf west­li­cher, »de­mo­kra­ti­scher« Sei­te zu­neh­mend PR-Be­ra­tungs­agen­tu­ren die Art der In­for­ma­ti­ons­wei­ter­ga­be und letzt­lich der Be­richt­erstat­tung be­ein­flus­sen. Die Fra­ge liegt na­he, ob die­se Ab­hän­gig­keit von Wer­bung und Mar­ke­ting mitt­ler­wei­le nicht auch den In­lands­jour­na­lis­mus be­trifft, so daß Jour­na­li­sten im­mer häu­fi­ger das wie­der­ge­ben, was ih­nen Be­hör­den, Par­tei­en, Fir­men, Lob­bys usw. un­ter­stützt von PR-Agen­tu­ren vor­ge­kaut ha­ben.

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Truth isn’t truth…

…sprach der Rechts­an­walt und ehe­ma­li­ge Bür­ger­mei­ster von New York Ru­dolph Giu­lia­ni, um mög­li­chen Dis­kus­sio­nen über die Fra­ge, ob sein Man­dant Do­nald Trump, Prä­si­dent der Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka, bei ei­ner mög­li­chen Ge­richts­ver­hand­lung die Wahr­heit sa­gen wer­de oder nicht, zu­vor­zu­kom­men. Bei Ge­richt muß man schwö­ren; man darf nichts als die Wahr­heit sa­gen. Die­ser Grund­satz ist in den Rechts­staa­ten im­mer noch weit­hin ak­zep­tiert. Ei­ne De­fi­ni­ti­on, was Wahr­heit ei­gent­lich sei, scheint nicht von­nö­ten. Hin­ter­fra­gun­gen, zu de­nen mei­ne Aus­füh­run­gen über den Wil­len zum Nicht­wis­sen an­re­gen, sind in die­sem Kon­text nicht üb­lich und brin­gen den Be­tei­lig­ten auch nichts, am we­nig­sten dem An­ge­klag­ten.

In den Mas­sen­me­di­en wur­de Giu­lia­nos Spruch so­gleich mit den »al­ter­na­ti­ven Fak­ten«, die Trump oder sei­ne Un­ter­ge­be­nen ge­le­gent­lich an­bie­ten, in Zu­sam­men­hang ge­bracht. Frei­lich ist ein Fakt, ei­ne Tat­sa­che, et­was an­de­res als »die Wahr­heit«. Wahr­heit – oder ein Nä­he­rungs­wert an die hy­po­the­ti­sche Wahr­heit – stellt sich in der Re­gel durch Prü­fung von Fak­ten her; nicht nur, aber auch durch Treue ge­gen­über den Fak­ten. Er­ziel­te Wahrheits­werte in Be­zug auf die­sel­be Fra­ge­stel­lung kön­nen selbst­ver­ständ­lich von­ein­an­der ab­wei­chen. Die Per­spek­ti­ven und In­ter­es­sen sind un­ter­schied­lich, viel­leicht auch die ei­nem kon­kre­ten Er­kennt­nis­be­mü­hen zu­grun­de­lie­gen­den ethi­schen Wer­te. Wer­den ei­ne ge­mein­sa­me Be­zugs­ebe­ne und ei­ne ge­mein­sa­me Spre­che ge­leug­net, las­sen sich sol­che Dis­kus­sio­nen al­ler­dings gar nicht mehr füh­ren. Was dann ob­siegt, ist nicht das bes­se­re Ar­gu­ment oder der kla­re­re Blick auf die Tat­sa­chen, son­dern die Macht und das Ei­gen­in­ter­es­se der Spre­cher, ih­re Laut­stär­ke und die Fä­hig­keit, Mas­sen­me­di­en zu kon­trol­lie­ren oder zu ma­ni­pu­lie­ren.

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Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger: Ei­ne Hand­voll An­ek­do­ten

Hans Magnus Enzensberger: Eine Handvoll Anekdoten - auch Opus incertum
Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger:
Ei­ne Hand­voll An­ek­do­ten – auch Opus in­cer­tum

»Ei­ne Hand­voll An­ek­do­ten« nennt Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger sein neue­stes Buch und da ist auch schon das er­ste von so vie­len Un­der­state­ments. Denn es sind ins­ge­samt 107 Ge­schich­ten, Fund­stücke (der Un­ter­ti­tel: »Opus In­cer­tum«!). Ex­kur­sio­nen in die Ver­gan­gen­heit ei­ner Kind­heit und Ju­gend. Die Aus­flü­ge wer­den ein­hundertzwanzig Mal kon­ge­ni­al be­bil­dert; sehr viel aus dem »FAE«, dem Fa­mi­li­en­ar­chiv En­zens­ber­ger (nur man­ches ist über­flüs­sig – ei­nen Schä­fer­hund kennt man schon heut­zu­ta­ge noch). Ge­le­gent­lich ver­lässt En­zens­ber­ger die Er­eig­nis­se, er­zählt vom Schick­sal der Per­so­nen oder lei­tet aus dem Ge­sche­hen Prä­gun­gen für sein wei­te­res rest­li­che Le­ben ab.

Die Haupt­fi­gur heißt »M.«, wo­mit na­tür­lich der Ver­fas­ser ge­meint ist. Oder, et­was ge­nau­er: M. ist die Fi­gur, wie sich En­zens­ber­ger heu­te an sei­ne Kind­heit und Ju­gend er­in­nert. Die drit­te Per­son Sin­gu­lar ist da­bei die kleinst­mög­li­che Dis­kre­ti­ons­stu­fe, wenn es um sich und sei­ne Fa­mi­lie geht. »Wenn er über sich sel­ber schreibt,//schreibt er über ei­nen an­dern.«, so heißt es denn auch in ei­nem vier­zei­li­gen »En­voi« am En­de. Den­noch: Ein So-tun-als-ob gibt es für den 89jährigen nicht. En­zens­ber­ger ver­sucht erst gar nicht, die kind­li­che oder ju­gend­li­che Er­zähl­per­spek­ti­ve zu si­mu­lie­ren. Da­für weiß er zu ge­nau wie es (mit und oh­ne ihn) wei­ter geht.

Es be­ginnt chro­no­lo­gisch (in den er­sten Jah­ren noch leicht in­ter­mit­tie­rend). Vom Ge­burts­jahr 1929 hat der Er­zäh­ler des Er­zäh­lers na­tur­ge­mäß nur we­nig in Er­in­ne­rung. Ir­gend­wann je­doch ei­ne nicht en­dend wol­len­de Schlan­ge von gel­ben Post­au­tos – pas­send zum »Post­as­ses­sor« des Va­ters, der auch noch als Kom­par­se in Stumm­fil­men und als Ra­dio­an­sa­ger tä­tig war. Un­ter­for­dert sei er in sei­ner Tä­tig­keit ge­we­sen. In sei­ner Frei­zeit bau­te er ei­ne Holz­ei­sen­bahn, zeich­ne­te Ent­wür­fe zu Bau­wer­ken und pho­to­gra­phier­te.

Ja, Mit­glied in der Par­tei war er schon, der Va­ter. Weil er sei­nen Sta­tus als Be­am­ter nicht ver­lie­ren woll­te (er stieg auf zum »Te­le­gra­phen­di­rek­tor«). Jah­re spä­ter lauscht M. ei­nem Ge­spräch des Va­ters mit ei­nem Freund. Ei­ne bes­se­re Po­si­ti­on ha­be man ihm an­ge­bo­ten, in Ber­lin. Aber das woll­te er nicht, die­ses Sich-ge­mein-Ma­chen. Und als der ei­gent­lich ZbV ein­ge­stuf­te 1940 für den Neu­auf­bau des Pa­ri­ser Te­le­fon­net­zes für ei­ni­ge Mo­na­te zum »Etap­pen­ha­sen« wird, abon­niert er nach sei­ner Rück­kehr wei­ter­hin die »Brüs­se­ler Zei­tung«, die et­was un­ab­hän­gi­ger als der »Völ­ki­sche Be­ob­ach­ter« be­rich­tet. Am En­de des Krie­ges sitzt er im Ge­fäng­nis we­gen »Wehr­kraft­zer­set­zung«. Kon­tak­te zum Wi­der­stand wer­den ver­mu­tet. Aber die An­klä­ger sind schon so klug, die Ak­ten ver­schwin­den zu las­sen. Was da­zu führt, dass die »Per­sil­schei­ne« des Va­ters den Ame­ri­ka­nern zu glatt vor­kom­men.

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»…wie ei­ne asym­me­tri­sche Va­se«

Pe­ter Slo­ter­di­jk schrei­tet mit der Über­tra­gung sei­ner No­ta­te bis 2013 fort.

Peter Sloterdijk: Neue Zeilen und Tage
Pe­ter Slo­ter­di­jk:
Neue Zei­len und Ta­ge

Naht­los knüpft Pe­ter Slo­ter­di­jk mit »Neue Zei­len und Ta­ge« an sein No­tiz­ex­trakt »Zei­len und Ta­ge« von 2012 an. Die Auf­zeich­nun­gen des neu­en Bu­ches be­gin­nen dort, wo das an­de­re ab­schloss (am 8. Mai 2011) und en­den am 23. Sep­tem­ber 2013, un­mit­tel­bar nach der Bundestags­wahl, knapp zwei Jah­re vor je­nen po­li­ti­schen Erup­tio­nen, die Slo­ter­di­jk fast pro­phe­tisch vor­weg­nahm, als er un­mit­tel­bar nach dem Fern­seh­du­ell zwi­schen Peer Stein­brück und An­ge­la Mer­kel kon­sta­tier­te, dass man sich bald nach den Jah­ren des vor­geb­li­chen Still­stands seh­nen wer­de, so­bald der Sturm zu ern­ten ist, der im mil­den Wind die­ser Ta­ge ge­säht [sic!] wur­de.

Der letz­te Teil des Sat­zes, je­nes my­stisch-se­mi­vi­sio­nä­re Halb­pa­thos, ist zu­wei­len ty­pisch für die­se No­ta­te, die schon wie in »Zei­len und Ta­ge« mit mä­an­dernd-poin­tier­ten, zu­wei­len apho­ri­stisch-sprung­haf­ten Schil­de­run­gen auf­war­ten. So lässt die­se Stoff­samm­lung wei­ter­hin den Blick in die Werk­statt des Le­sers Slo­ter­di­jk zu, der nach Be­lie­ben Un­ter­stüt­zung zu sei­nen The­sen in na­he­zu al­len ver­füg­ba­ren Wer­ken bis hin zur Bi­bel fin­det. Man be­glei­tet man ihn bei Nach- und Vor­ge­dan­ken zu sei­nen Bü­chern, sieht ihm prak­tisch zu beim Sor­tie­ren der »Zei­len und Ta­ge« (in dem sei­ne ak­tu­el­len Auf­zeich­nun­gen na­he­zu zum Er­lie­gen kom­men) und er­fährt al­ler­lei über die Ar­bei­ten an ein Li­bret­to zu ei­ner Oper na­mens »Ba­by­lon« (Mu­sik von Jörg Wid­mann), wel­che dann im Ok­to­ber 2012 in Mün­chen ur­auf­ge­führt wird.

Slo­ter­di­jk ist viel un­ter­wegs, zu Kon­gres­sen, hält Re­den (ein­mal vor FI­FA-Funk­tio­nä­ren über den we­nig er­forsch­ten Un­ter­schied von An­ge­bots­re­li­gio­nen und Nachfrage­religionen [Re­ak­tio­nen wer­den be­dau­er­li­cher­wei­se nicht über­lie­fert]), sitzt in Fern­seh­dis­kus­sio­nen oder im Flug­zeug, macht Ur­laub und sor­tiert da­bei sei­ne Ge­dan­ken zum Er­leb­ten. Nur am Ran­de kom­men sei­ne uni­ver­si­tä­ren Pflich­ten vor, et­wa wenn ein un­ter­schrifts­rei­fer Spon­so­ring-Ver­trag mit ei­nem Dro­ge­rie­markt­in­ha­ber doch noch in letz­ter Mi­nu­te platzt. Oder wenn es um Nach­fol­ge­re­ge­lun­gen geht. Un­ter­halt­sam da­ge­gen die Kol­le­gen­be­ob­ach­tun­gen, die manch­mal in Spott mün­den. Et­wa über Red­ner, die wir brau­chen sa­gen. Oder nach dem En­de ei­nes Phi­lo­so­phie­kon­gres­sen. Der Bo­den sei nach 400 Re­fe­ra­ten von Wort­hül­sen über­säht [wie­der die fal­sche Schreib­wei­se]. Über­haupt ha­dert er zu­wei­len mit sei­ner Wis­sen­schaft. Was heißt den­ken?, fragt er ein­mal. Um dann die ver­blüf­fen­de Ant­wort zu ge­ben: Feu­er in Pa­pier­tü­ten trans­por­tie­ren.

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Ber­lin Ba­by­lon

Ach­tung: Über­all Spoi­ler!

Bei dem Wort »Se­rie« ge­ra­ten ja in­zwi­schen ge­stan­de­ne Feuil­le­ton-Re­dak­teu­rIn­nen in ge­ra­de­zu kon­vul­si­vi­sche Zuckun­gen. So­fort wer­den die üb­li­chen Ver­däch­ti­gen der ame­ri­ka­ni­schen Pro­duk­tio­nen her­un­ter­ge­rat­tert und vom »neu­en Er­zäh­len« be­rich­tet. Da­bei gab es Se­ri­en schon im­mer, aber es geht wohl um mehr, um Welt­erklä­rung, ja: Welt­erfas­sung wie wei­land dies nur dem »gro­ßen Ro­man« zu­ge­traut wur­de (wo­bei noch zu Goe­thes Zei­ten der Ro­man un­ge­fähr das war, was man heu­te Schmon­zet­ten nennt). Der gu­te deut­sche Re­zi­pi­ent weiß na­tür­lich, wo­hin er schau­en muss und ist dem­zu­fol­ge im­mer ein biss­chen skep­tisch, wenn nun (schein­bar) peu à peu auch deutsch(sprachig)e Se­ri­en pro­du­ziert wer­den.

Es ist be­dau­er­lich, dass die­se zu­wei­len in Selbst­hass sich suh­len­den Ab­wehr­me­cha­nis­men aus­ge­rech­net bei »Ba­by­lon Ber­lin« fast gänz­lich ver­sagt ha­ben. Aus Grün­den, über die man nur spe­ku­lie­ren kann, wur­den die bis­he­ri­gen 16 Fol­gen (ins­ge­samt 12 Stun­den Sen­de­zeit in 2 »Staf­feln«) bis auf ei­ne Aus­nah­me na­he­zu ab­ge­fei­ert.

Die Se­rie spielt in den er­sten Mai­ta­gen des Jah­res 1929 in Ber­lin. Ge­zeigt wird die­se Stadt als Schmelz­punkt von Pro­sti­tu­ti­on, Ka­ba­rett, Kri­mi­na­li­tät und Po­li­tik. We­ni­ger Ba­by­lon denn So­dom. In­mit­ten dar­in: Ein paar Ge­rech­te, wie der aus Köln zu­ge­rei­ste Ge­re­on Rath, der bei der Ber­li­ner Po­li­zei im Sit­ten­de­zer­nat hos­pi­tiert. Zu­nächst soll er ei­nen Ring von ver­meint­li­chen Er­pres­sern auf­spü­ren, die pro­mi­nen­te Per­sön­lich­kei­ten bei Fes­sel- oder son­sti­gen Sex­spiel­chen auf­ge­nom­men ha­ben. Auf ei­nem Fo­to ist das Ge­sicht des Kun­den un­kennt­lich ge­macht; Rath er­fährt spä­ter, dass es sich um sei­nen Va­ter han­delt, den OB von Köln (Ade­nau­er lässt grü­ßen).

Aber es gibt se­ri­en­na­tür­lich meh­re­re, par­al­le­le Hand­lungs­strän­ge: Ein Zug aus Russ­land mit Gift­gas und – Trom­mel­wir­bel! – ei­nem Wa­gen mit Gold, der von Trotz­ki­sten nach Istan­bul um­ge­lei­tet wer­den soll und nun na­tür­lich bei al­len mög­li­chen Par­tei­en Be­gehr­lich­kei­ten weckt. Es gibt Plä­ne für ei­nen Staats­streich, aber da ist eben Ge­re­on Rath, der dies ganz al­lei­ne ver­hin­dert. Ein wei­te­rer Ge­rech­ter ist Re­gie­rungs­rat Ben­da, der Rath för­dert. Und da ist na­tür­lich Char­lot­te Rit­ter, die aus ar­men Ver­hält­nis­sen ei­nen Schreib­job bei der Po­li­zei er­gat­tert, wäh­rend sie nachts als Pro­sti­tu­ier­te in ei­nem Edel-Bor­dell Ber­li­ner Pro­mi­nenz be­dient. Ihr Traum ist es in die Mord­kom­mis­si­on zu kom­men; ih­re Chan­cen sind im da­mals män­ner­do­mi­nier­ten Ap­pa­rat eher ge­ring. Aber da ist ja Ge­re­on Rath – sie­he oben.

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Wenn der Post­man mehr­fach klin­gelt

Mit »Amusing our­sel­ves to de­ath»1 stellt Neil Post­man ei­ne wich­ti­ge Grund­fra­ge: Wirkt das Me­di­um auf sei­ne In­hal­te zu­rück? In der Haupt­sa­che kon­tra­stiert Post­man dann zwei un­ter­schied­li­che Me­di­en­wel­ten: die Ty­po­gra­phi­sche der Zei­tun­gen und Bü­cher ge­gen die Pik­to­gra­phi­sche des Fern­se­hens. Nach Post­man be­din­gen die li­ne­ar-fort­schrei­ten­den Schrift­me­di­en ei­ne an­de­re Kon­sum­wei­se als die Be­wegt­bil­der. Sie be­nö­tig­ten ei­ne län­ge­re Auf­merk­sam­keits­span­ne, set­zen ge­wis­se dis­kur­si­ve Vor­kennt­nis­se vor­aus und ziel­ten von sich aus auf Ganz­heit und Ko­hä­renz. In der Fernseh»kultur« hin­ge­gen wer­de der Be­trach­ter nur in ei­nen vi­su­el­len Rausch im­mer neu­er Rei­ze oh­ne grö­ße­ren Sinn und Ein­heit ver­setzt, was letzt­lich un­ser frag­men­tier­tes ADHS-Hirn er­zeu­ge.

Dies ist nun der drit­te An­lauf mei­ne Ge­dan­ken zum Post­man­schen Pam­phlet zu ver­schrift­li­chen, aber viel­leicht ist mein graue Mat­sche auch schon zu ver­pi­xelt, um die­ses Vor­ha­ben je zu be­en­den.

1. Die Sa­pir-Whorf-The­se der Me­di­en­kri­tik

Wei­ten wir zu­nächst ein we­nig den Blick, um die All­ge­mein­heit der Post­man­schen The­se zu er­fas­sen. Es gibt, so den­ke ich, al­ler­orts ähn­lich ge­ar­te­te An­sät­ze. So zum Bei­spiel in der Wall­raff­schen Kri­tik der Bild­zei­tung, in wel­cher er Post­man ähn­lich das Por­trät ei­nes Me­di­ums zeich­net, das al­le in ihm ge­druck­ten In­hal­te ver­zerrt und ent­stellt. Auf noch fun­da­men­ta­le­re Wei­se stell­ten Sa­pir-Whorf die The­se auf, dass so­gar die Gram­ma­tik un­se­rer Spra­che die Welt­sicht prä­ge. Auch wenn die The­se wis­sen­schaft­lich mei­nes Wis­sens nicht un­be­dingt un­an­ge­foch­ten blieb, wur­de sie ähn­lich ver­hee­rend po­pu­la­ri­siert wie Gö­dels Un­voll­stän­dig­keits­sät­ze, so dass heu­te die Be­dingt­heit un­se­res Welt­bil­des von un­se­rer Spra­che schon die Spat­zen von den Dä­chern pfei­fen; mei­stens mit dem Fehl­verweis auf die hun­der­te Schnee­wör­ter der Es­ki­mos. Am weit­rei­chend­sten fin­det sich die­ser Denk­an­satz wohl ver­wirk­licht in dem Dik­tum, dass kein rich­ti­ges Le­ben im Fal­schen mög­lich sei. Das »Me­di­um« fin­det sich hier ge­wei­tet zu den »sy­ste­mi­schen, ka­pi­ta­li­sti­schen Um­ge­bungs­ge­ge­ben­hei­ten«, die je­den exi­sten­zi­el­len Aus­druck, den wir su­chen könn­ten, not­wen­dig ver­fäl­schen.

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  1. "Wir amüsieren uns zu Tode", 1985