Alles wieder im Lot – so der Tenor der Presseerklärung des Landes Rheinland Pfalz. Robert Menasse bekommt trotz einiger Einwände die Zuckmayer-Medaille, die, wie man lesen kann, für »Verdienste um die deutsche Sprache und um das künstlerische Wort« vergeben wird. Da Literaturpreise immer auch Gesinnungspreise sind, hatte man eigentlich nichts anderes erwartet. Das bisschen Kreide, dass Menasse essen musste, spielt da keine Rolle.
Menasse war in die (literaturbetrieblichen) Schlagzeilen geraten, weil er Zitate des ersten Vorsitzenden der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Walter Hallstein, gefälscht und ihm eine Rede in Auschwitz angedichtet hatte. Der Knackpunkt war, das Menasses Fälschungen nicht nur in seinen Romanen getätigt wurden, sondern auch in den öffentlichen Reden und Essays des Autors auftauchten. Sie dienten als Schmuck für seine politische Idee des entnationalisierten Einheitsstaats Europa. Menasse sieht im Nationalstaat den Keim für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts und glaubt, dass eine Art von Vereinigte Staaten von Europa den Dämon für immer bannen könnte. Wie genau dieser Einheitsstaat aussehen könnte und mit welchem Personal bleibt diffus. Mit solchen Nebensächlichkeiten beschäftigt sich der Visionär eher nicht.
Menasse galt (und gilt) als Musterbeispiel eines engagierten Autors. Eine Art österreichischer Grass, was die EU angeht. Es gibt Leute, auf deren literarisches Urteil ich viel gebe, die ihn für einen guten Schriftsteller halten. Ich kann das nicht beurteilen – er ist mir irgendwie nie begegnet. »Die Hauptstadt« habe ich auch nicht gelesen. Einige politische Statements Menasses schon.
Die Geschichte dieser Fälschungen kann man bei Gerald Krieghofer nachschlagen, der sich mit falschen Zitaten akribisch beschäftigt. Anzeichen gab es bereits 2017 – hören wollte das niemand. Erst als Ansgar Graw kurz vor Weihnachten eine Stellungnahme von Menasse erhielt, bekam die Sache eine neue Dynamik.
Es reiche, so die Rechtfertigung Menasses, dass Hallstein die Aussagen getätigt haben könnte. Sie seien nicht so gefallen, »aber es ist dennoch korrekt, und wird auch durch andere Aussagen von Hallstein inhaltlich gestützt. Was kümmert mich das ‘Wörtliche’, wenn es mir um den Sinn geht«, so der Worteschmied Menasse.
Die Empörung des Feuilletons fiel verhältnismässig milde aus. Patrick Bahners konnte sich nicht entscheiden, ob er es »Lüge« oder nur »Bluff« nennen sollte (beides wird je ein Mal verwandt). Hubert Winkels eierte im Gespräch herum und sagte, Menasse habe die Zitate »quasi erfunden«. Was sind »quasi«-Erfindungen? (Vom irrlichternden Augstein, der die Aufregung um das falsche Zitat nicht versteht, einmal abgesehen; der zählt nicht.)
Den interessantesten Text zur Sache gab es auf 54books. Johannes Franzen referiert zunächst die Causa um sich dann der häufig angeführten Trennung zwischen Roman und Rede zu widmen. Die meisten Protagonisten konzedierten Menasse sehr wohl die dichterische Freiheit einer historischen Persönlichkeit nicht gesprochene Aussagen in den Mund zu legen. Die Kritik konzentrierte sich auf Menasses Reden und Essayistik, in der dieses Verfahren übernommen wurde.
Franzen stellt nun fest, dass es auch im Roman Grenzen gebe. Denn in der »fiktiven Welt des Romans« stellten »erfundene Zitate, die einer realen Person in den Mund gelegt werden, ein Problem dar. Auch im Modus des Fiktionalen kann man reale Personen nicht nach Belieben ‘gebrauchen’ oder brauchbare Dinge sagen ‘lassen’ «. Die These ist etwas überraschend, weil sie nicht nur den Prinzipien der literarischen Moderne widerspricht. Hat denn Richard III. das gesprochen, was ihm Shakespeare sagen ließ? Wie sieht es mit Wallenstein oder Danton aus? Wann wäre ein Verfahren zu verwerfen und wann nicht?
Franzen argumentiert unter anderem mit Thomas Manns »Lotte in Weimar«. Hier habe »der Autor den alternden Goethe einen inneren Monolog halten [lassen], der sich als Kommentar gegenwärtiger Ereignisse« des Jahres 1940 erweisen konnte. »Im Jahr 1946, während der Nürnberger Prozesse, zitierte Hartley Shawcross, der Hauptankläger des britischen Königreichs, unwissentlich den fiktiven Goethe Thomas Manns mit einer Einschätzung über die Deutschen.« Als der Falschgebrauch (der, nebenbei gesagt, nicht Thomas Mann angelastet werden kann) herauskommt, verteidigte Mann sein Wort dahingehend, dass es Goethe gesagt haben könnte. Das sei die gleiche Formulierung wie sie Menasse verwende. Allerdings – und das vergisst Franzen – verwendet Menasse diese Verteidigung nicht nur für seinen Roman, sondern auch für seine politischen Äußerungen in der »realen Welt«.
Fast gravierender findet Franzen die Fälschung der Rede Hallsteins in Auschwitz. Mit Auschwitz spiele man nicht, so zitiert er sinngemäss auch Bahners. Hier habe, so wird suggeriert, Menasse eine Art Grenze überschritten. Zwar folge daraus »kein absolutes Fiktionsverbot, aber doch die Forderung nach einem respektvollen und reflektierten Umgang, der über das freimütige und freche Spiel einer dichterischen Entpflichtung hinausgeht.«
In der Tat wird man – Bahners spricht es kurz an – an die erfundene Biographie des Binjamin Wilkomirski erinnert, der sich selber als Holocaust-Überlebender inszenierte und Fiktion und Realität nicht mehr unterscheiden konnte. Vieles spricht allerdings dafür, dass die anschließende, wuchtige Empörung auch ein Ausdruck der Kränkung derer war, die auf die Täuschung Wilkomirskis hereingefallen waren – lobte man doch zu Beginn dieses Buch in den höchsten Tönen.
Wer bestimmt diesen »respektvollen und reflektierten Umgang«? Wer hat diesen denn damals bei Menasse eingefordert bzw. überprüft? Und widerspricht diese These nicht nur den Prinzipien der literarischen Moderne? Hat denn Richard III. das gesprochen, was ihm Shakespeare sagen ließ? Wie sieht es mit Wallenstein oder Danton aus? Schiller und Büchner als Geschichtsverbieger? Wohl kaum. Aber wann wäre ein Verfahren zu verwerfen und wann nicht?
Und feiert nicht längst das »Doku-Drama« bzw. die Doku-Fiktion sowohl in TV-Serien wie auch in Genre-Romanen eine Renaissance? Inzwischen werden massenhaft historische Persönlichkeiten – aus welchen Gründen auch immer – zu Romanfiguren, denen naturgemäß Aussagen »angedichtet« werden, für die es keinerlei Beleg gibt, ja: gar keinen Beleg geben kann. Oder fiktive Personen interagieren wie selbstverständlich mit ihnen. Dies geht sogar so weit, dass scheinbar historische Ereignisse erfunden werden (nur ein Beispiel sei angeführt: der von einer einzigen Person abgewendete Staatstreich in der Weimarer Republik – man sehe sich »Berlin Babylon« an). Irgendwelche Empörungen hierüber? Nein.
Denn, und hierauf weist Franzen hin: Auf das Publikum kommt es an. Es muss unterscheiden können, was Fiktion und was Realität ist bzw. war. Das ist auch eine Bildungsfrage. Aber nicht nur, denn bei Menasse sei man geneigt, die »sympathische politische Illusion« (Franzen) zu goutieren. So stellt sich auch beim literarischen gebildeten und interessierten Rezipienten die Frage, ob bzw. wie sie bereit sind, zwischen Erfindung und Realität zu unterscheiden. Dies kollidiert mit der immer mehr fortschreitenden Vermischung zwischen Autor und Werk. Wenn auf der einen Seite einem (womöglich politisch konnotierten) Naturalismus immer mehr Bedeutung zukommt, verschwimmen die Grenzen. Dies hat auch mit einer Literaturkritik zu tun, die sich immer mehr als Promoter des Buchhandels sieht statt auf ästhetische Formen und literarische Sprache hinzuweisen.
Menasse legt derweilen nach. In einem an Frechheit kaum zu überbietenden Schelmenstück möchte er sich gegen Kritik dahingehend immunisieren, weil diese den »Rechtsextremen« argumentativen Stoff böte. Seine politische Sicht der Dinge wird damit zum Dogma erklärt – unabhängig vom Wahrheitsgehalt. Nur ein paar »höhnische« Journalisten und Blogger stören die Ruhe. Und Aleida Assmann, die auf den Unsinn der Vermischung zwischen Nation und Nationalismus hinweist. Vielleicht bleibt wenigstens sie verschont vom Etikett »rechts«.
Die Konsequenz aus Menasses Überlegungen wäre, dass all das, was eventuell politisch radikalen Kräften als argumentative Munition im Diskurs dienen könnte, verschwiegen werden muss. Man kommt nicht umhin, so etwas totalitär zu nennen. Gleichzeitig ist es von einer intellektuellen Armseligkeit, die schockiert. Aber immerhin: Noch hat sich Suhrkamp nicht von ihm distanziert.
Die Politologin Ulrike Guérot steht jetzt u.a. blöd da, weil sie zusammen mit Menasse als Co-Autorin eines Aufsatzes firmiert, in dem das von Menasse gefälschte Hallstein-Zitat steht.
Ich sehe in dieser Fälschung eine posthume Rufschädigung Walter Hallsteins. Dazu kommt eine besondere Boshaftigkeit, weil Menasses Zitatfälschung den Intentionen Walter Hallsteins vollkommen widerspricht. Ein Autor hat ein Anrecht auf authetische posthume Wirkung, und dieses Anrecht hat Menasse mit seinem vermeintlichen Zitat empfindlich gestört. Darauf hat Heinrich-August Winkler als erster, soviel ich weiß, hingewiesen. Dass Menasse, wie Sie ganz richtig hervorheben, meint, das zähle alles nicht, weil er so gute Absichten verfolge, passt ins zeitgenössische Muster des allgegenwärtigen Narzissmus; und dieses Selbstanbetungs-Muster ist gleichzeitig ein leider häufiges Zeichen des linken Gutmenschentums.
Es ist verführerisch, die Welt in »us and them« ( – : – WIR=gut und DIE=schlecht (Pink Floyd)) einzuteilen, weil – als eine der süßeste Gratifikationen überhaupt – mit ganz wenigen Winkelzügen die eigene Grandiosität herausgestellt und im Licht der Öffentlichkeit sofort genossen werden kann. Ein ganz süßes Gift. Aber hochpotent.
Die Frage wird sein, ob Frau Guérot auch weiterhin Mitdiskutantin in öffentlich-rechtlichen Politiktalkshows zum Thema »EU« sein wird. Sie zeigt sich ja reumütig. Mir wär’s recht, denn immer wenn sie auftaucht, schalte ich um. Was einen schönen Zeitgewinn bringt.
Ulrike Guérot ist eine bundesrepublikanische Institution und wird weiterhin zuverlässig Gründe dafür liefern umzuschalten. Kaum jemand wird in vier Wochen mehr von ihrem Fauxpas sprechen, und wenn, nicht sehr vorwurfsvoll.
Was an dem Menasseschen Text frech und ein Schelmenstück sein soll, kann ich beim besten Willen nicht erkennen. Inkriminiert wurden vor allem ein einzelnes Zitat und ein bestimmtes literarisches Verfahren (wobei die Literarizität von den empörten Kommentatoren meist unterschlagen wurde).
Das »Zitat« ist, wie Menasse nun selbst erklärt, eine Zusammenfassung der Positionen des früheren EWG-Kommissionsvorsitzenden Walter Hallstein, es lautet: »Das Ziel des europäischen Einigungsprozesses ist die Überwindung der Nationalstaaten.« Die Erläuterungen Menasses, wie es zu diesem »Zitat« kam, sind durchaus nachvollziehbar. Mag sein, daß er in der (extraliterarischen) Darstellung etwas schlampig war, aber von Fälschung kann da keinesfalls die Rede sein.
Das bestimmte Verfahren bestand darin, eine historische Rede Hallsteins in der Fiktion des Romans »Die Hauptstadt« nach Auschwitz zu transponieren. Die Äußerungen Franzens darüber, was ein Autor im Roman nun »darf« und was nicht, halte ich für Geschwafel, das an literarischen Realitäten vorbeizielt. Selbstverständlich kann man der Judenvernichtung auch spielerisch, mit Humor etc. begegnen, und das wurde auch des öfteren getan (La vita è bella, und auch bei Kertész findet man etwas davon). »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch« (oder so ähnlich!), diese Floskel sollte sich doch inzwischen erübrigt haben. Menasse aber begründet seine Transposition ganz ernsthaft, wiederum nachvollziehbar, mit Blick auf die Geschichte (und nicht nur auf eine »timeline«).
Daß man nicht kotrovers über EU und Nationalstaaten diskutieren dürfe, oder nur bei Strafe, Wasser auf die Mühlen der Rechtsextremen zu schütten, diese Konsequenz liegt nicht, wie Keuschnig unterstellt, in Menasses Text. Ich habe mir in einem viel frequentierten österreichischen Forum (Der Standard online) die Beiträge von »Usern« angesehen – und muß aufgrund des dort zum Ausdruck kommenden Menasse rechtgeben. Aus diesen Kommentaren Sprich Haß, ziellose Empörung, also das, was heute üblich und Mainstream ist. Sobald jemand auch nur die Möglichkeit in Betracht zieht, daß man Nationalstaaten durch andere Gebilde ersetzen könnte, geht es los mit den Anfeindungen und Beschimpfungen. Abgesehen davon, daß der »engagierte« Autor Menasse in Österreich sowieso für die meisten ein rotes Tuch ist, und zwar in erster Linie aufgrund des ebenfalls in der heutigen Gesellschaft fundamentalen Neids, den seine Literaturpreise und Stipendien wecken.
Ich habe »Die Hauptstadt« nicht gelesen, habe früher einige Essays und Romane von M. gelesen, hatte immer einen eher zwiespältigen Eindruck, kann mich mit der oft auf rhetorische Pointen hinauslaufenden Sprache des Autors nicht so ganz anfreunden, kann also auch nicht sagen, ob er ein bedeutender Schriftsteller (oder was auch immer) ist, bin mir aber ziemlich sicher, daß die Anschwärzung, deren Opfer (ja!) er derzeit ist, politische und gesellschaftliche Gründe hat, literarisch fundiert sind sie nicht.
Darüber, ob Nationalstaaten überholt sind oder genau die richtige Form und Größe für demokratische Prozesse bieten (wie Aleida Assmann meint), kann man diskutieren. Aber diskutiert wird bei der Menasse-Hatz nicht, von Inhalten und offenen Fragen wird nur abgelenkt. Seine Hasser, sind was sie meist nicht ausdrücklich sagen, gegen die EU, gegen die »Bürokraten«, gegen »die Politiker«, gegen die Altlinken, »Nation« ist für sie etwas Selbstverständliches, an dem sie so oder so festhalten. Ich für meinen Teil will mich da echt nicht einreihen. Ich bin selbst Österreicher, die Idee der österr. Nation ist für mich im Lauf der Jahre äußerst zweifelhaft geworden. Die politischen Änderungen im Territorium, das angeblich »meines« ist, sind, wenn man nur ein bißchen Weitblick walten läßt, exorbitant. Vielvölkerstaat oder ‑kerker mit deutsch»nationaler« Dominanz, deutsch-österreichische Einheit, und jetzt das liebe kleine Ländchen, das niemandem was zuleide tut, mit der großen Geschichte, die man den Touristenmassen unterjubelt. Ich muß diese österreichische Nation nicht unbedingt haben, aber ich fühle mich sehr wohl – und das wäre dann im Sinne Hallsteins – als Angehöriger meiner Region und Europas.
Das Hallstein-Zitat von Menasse ist keine Zusammenfassung der Positionen von Walter Hallstein, Leopold Federmaier, sondern eine den Intentionen und der Politik Walter Hallsteins zuwiderlaufende Indienstnahme bei gleichzeitiger wahrheitswidriger Vorspiegelung von Wörtlichkeit. Sage ich – und zwar aufgrund dessen, was Heinrich August Winkler in dieser Sache an Einzelheiten zutage förderte. Dass Winkler sich irgend getäuscht hätte, hat bisher noch keiner gesagt oder zu zeigen vermocht. Aber heute im Berliner Tagespiegel hat ein weiterer Fachmann nachgelegt: Menasse habe mit Blick auf Hallsteins Positionen zum Nationalstaat unrecht. Und er habe gefälscht.
Ich hatte in letzter Zeit übrigens öfter mal den Eindruck, Menasse fliege ein bisschen hoch und hantiere eher fragwürdig mit Tatsachen. Mir ist eine Fernsehdiskussion erinnerlich, wo er auf offener Szene der faktenfreien Herabwürdigung geziehen wurde – und einräumen musste, dass das nicht von ungefähr kam.
Ansonsten stimme ich zu: Natürlich soll man über den Themenkomplex Internationalismus vs. nationale Perspektiven sprechen – von mir aus auch streiten.
Die Gelbwesten werden heute im Perlentaucher summarisch als »Marodeure« bezeichnet, und im gleichen Artikel wird darauf hingewiesen, dass beide (!) Koalitionspartner der derzeitgen Italienischen Regierung die Gelbwesten ausdrücklich gegen Macron unterstützen.
Bei Krieghofer kann man nachlesen, dass Menasse insgesamt drei Zitate Hallstein erfunden hat. Die meisten Kritiker beschränken sich darauf, deren Gebrauch in Menasses Reden und Essays anzuprangern. Ähnliches gilt für die ominöse Auschwitz-Rede Hallsteins, die in Zeiten des Kalten Krieges niemals derart hätte stattfinden können. Es ist mir rätselhaft, wie man dieses Verfahren auch nur ansatzweise verteidigen kann. Was kommt als nächstes? Ein Zitat, was Kafka zu Twitter gesagt haben könnte? Ein Extrakt aus Zitaten von Bruno Kreisky zu Sebastian Kurz?
Menasses Verteidigungsrede ist für mich ein Schelmenstück, weil er sich politisch gegen Kritik immunisieren will und Kritiker als »höhnisch« abqualifiziert. Er schreibt:
Mit dem letzten Satz suggeriert er, dass Kritik an seinem Verfahren den »Rechtsextremen Stoff« bietet. Ich »unterstelle« also nichts.
Diese Form der Diskursräson halte ich um es freundlich auszudrücken, für verwegen, weil es einen Nukleus voraussetzt, der bestimmen würde, was »opportun« ist. Es ist zugleich verräterisch, weil es zeigt, dass da jemand seine Äußerungen am Verhalten anderer ausrichtet. Dies soll nun von denen mit übernommen werden, die dieses Verfahren kritisieren. Weil etwas instrumentalisiert werden kann, sollte man schweigen. Aber hätte Menasse nicht seine Fälschungen vorgenommen (noch einmal: ich meine nicht den Roman/die Romane), gäbe es kein Angebot an »Stoff« für Rechtsextreme.
Ich bin nicht für die zahlreichen Hass-Postings und Schmähungen verantwortlich. Dass es sie gibt, ist u. a. auch auf Menasses Fehlverhalten in diesem Punkt zurückzuführen. Die meisten der Schmäher wissen womöglich gar nicht was ein Zitat bedeutet und reiten tatsächlich auf dieser Welle mit. Aber es gehört eben dazu, dass man gerade wenn man im Fokus von politischen Extremisten steht, besonders klug agiert – und dies vor allem in öffentlichen Stellungnahmen.
Warum hat Menasse nicht gesagt, dass man aus den Reden Hallsteins dies und jenes folgern könnte? Die Antwort ist: Menasse wollte schmücken. Er wollte einen »Verbündeten« für seine eigene Position, einen Unterstützer, der vielleicht auch zeigen sollte, wie hasenfüssig das derzeitige EU-Personal agiert.
Mit »Auschwitz« sollten diese Aussagen bekräftigt werden. Irgendwo habe ich gelesen, die Verortung einer Rede Hallsteins nach Auschwitz entspräche Menasses mythischem Denken. Ich vermag das nicht zu beurteilen. Die Einbindung von Auschwitz als Mythos ist jedoch durchaus verbreitet. Ich erinnere nur an Günter Grass, der die Wiedervereinigung zwischen BRD und DDR 1989/90 unter anderem deswegen ablehnte, weil er die Teilung Deutschlands als gerechte Strafe für die nationalsozialistischen Verbrechen empfand.
Das Adorno-Diktum habe ich immer für problematisch gehalten. Ich verstand es weniger als Imperativ sondern eher als eine Art Sorgfaltsgebot. Ich halte Franzens und auch Bahners’ Verdikt, dass man mit Auschwitz literarisch nicht »spielen« dürfe, in dieser Härte für falsch. Der Hinweis auf Kertész ist richtig, wenngleich man Kertész als Holocaust-Überlebenden dies »gestattete«. Bei Wilkomirski sah das schon anders aus – nicht zuletzt weil er sich selber als ehemaliger KZ-Insasse deklarierte. Er betrieb also nicht nur fiktionale Hochstapelei.
Generell ist man, was den spielerischen Umgang mit der Shoah angeht, in Deutschland sehr sensibel. Ich erinnere an Benignis Film »Das Leben ist schön«, der heftig kritisiert wurde. Es wäre unmöglich gewesen, dass einen solchen Film ein deutscher Regisseur dreht. Gerade in diesen Tagen wird die US-amerikanische Serie »Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss« wiederholt, die in den Dritten Programmen im deutschen Fernsehen erstmals in den 1970er Jahren ausgestrahlt wurde. Es handelt sich um eine fiktive jüdische Familie, die in den barbarischen Vernichtungsapparat der Nazis gerät. Die Serie war damals heftig umstritten, weil man fiktive Personen nicht in den realen Kontext von KZs bringen wollte. Der Erfolg war allerdings groß, weil man sich plötzlich nicht mit abstrakten Zahlen beschäftigte, sondern mit den Figuren Identifikationspotential lieferte. Womöglich hat diese Serie mehr zur historischen Aufklärung und Bewusstmachung der Verbrechen der Nazis beigetragen als so manche Dokumentation.
Über Preise und Stipendien (vermutlich vom Nationalstaat Österreich, den Menasse ja eigentlich ablehnt – er ist da wie die EU-Gegner, die sich ins EU-Parlament wählen lassen) vermag ich nichts zu sagen, da ich sein literarisches Werk nicht kenne.
Der Mythos Auschwitz, Gregor Keuschnig, – das ist bereits ein böses Wort, hat es damals geheißen, als Sieferle diesen Begriff in Deutschland in Umlauf brachte. Sieferles Hauptpunkt ist der von der Auschwitz-Schuld, die nun nicht mehr vergehen darf. Auch laut Aleida Assman und Robert Menasse nicht: Daher Menasses Idee, die Demokratie in den Abgrund zu »schupfen« und im Namen von Auschwitz an der Demokratie vorbei einen Europäischen Staat mit der Hauptstadt Auschwitz zu bauen.
Eine ziemlich vernunftferne und durchgeknallte Vision. Ich staune, jetzt, da ich mich mit Menasse ein wenig beschäftige, auf was für Köpfe die hiesige liberale Öffentlichkeit abonniert ist.
Böser Verdacht von mir, der ich Aleida Assmanns Wirken seit Jahrzehnten aus einiger Nähe verfolge: Sie will den Deutschen Nationalstaat nicht ganz verschwinden sehen, weil sie den braucht als Basis für ihr zusammen mit (u. a.) Robert Menasse betriebenes Projekt, Auschwitz als weltweites Modell des Gedenkens zu etablieren. Eine komische Seite hat diese Absicht übrigens auch, denn tatsächlich wird der Nazi-Judenvernichtung bereits international gedacht, ganz ohne Aleida Assmans Zutun.
Nun, Aleida Assman ist aus gutem evangelischen Hause, aber die Auschwitz-Schuld soll nicht vergehen dürfen, weil sie als Mega-Schuld von der eigentlich grundlegenden christlichen Verzeihensethik ausgenommen ist. Das ist unchristlich, wie Sieferle in Finis Germania sehr klar sagt. Das kümmert heute aber Keinen, weil die Theologie öffentlich kaum mehr vorkommt.
Bei Jaspers war noch klar, dass es keine Kollektivschuld geben soll. Auch diese Idee verliert an Kraft, denn sonst würde sich die Frage stellen, worin die spezifische deutsche Schuld denn besteht, wenn man feststellt, dass von den Deutschen Tätern (und von den deutschen Mitläufern) langsam nicht mehr viele übriggeblieben sind – wer soll unter diesen Umständen eigentlich der Träger der deutschen Schuld sein? Das trifft einfach die Nachgeborenen, die sind jetzt sozusagen stellvertretend Schuld. Kamma nix machen. Gibt Schlimmeres...
Insgesamt ist das, fürchte ich, nicht plausibel und deshalb zwar verständlich, aber leider auch unsinnig, ja unmenschlich, denn man soll unbedingt auch das Verzeihen üben, das ist ein Fundament unserer Zivilisation.
Der Holcaust ist eine moderne geschichtliche Untat von enormer Dimension. Er hat seine Besonderheiten. Man soll aus ihm lernen. Und? – Man soll wegen des Holocaust weder die Vernunft noch die christliche Ethik verabschieden und man soll die Nachgeborenen nicht in ewige Geißelhaft nehmen für die Untaten ihrer Vorfahren. Die Schuld der Alten ist nicht die der Jungen.
So gesehen, hat Robert Menasse vielleicht eine der letzte Gelegenheiten ergriffen, aus seinem falschen Streben irgend einen Funken (und einen privaten Nutzen?) herauszulocken. Das wäre die optimistische Lesart des derzeitigen Tumults...
Ich beziehe mich auf Bahners, nicht auf den Schwadroneur Sieferle. Bahners schreibt etwas verquast: »Die Geschichte von Auschwitz als Gründungsmythos der EU erweist sich, fachsprachlich gesprochen, als ein Fall von therapeutisch induzierter wiedergewonnener Erinnerung, deren Fiktionalität in Kauf genommen wird.«
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Interessant noch dieser Artikel von Paul Michael Lützeler hier, der mehr über die Intentionen des von Menasse so bemunderten Hallstein sagt. Dort steht: »Ingrid Piela zeigt in ihrer Hallstein-Studie (Berliner Wissenschafts-Verlag 2012), dass der Kommissionspräsident einer föderalistischen Denkrichtung zuzurechnen ist, die (im Gegensatz zu Monnet) weniger funktional-pragmatisch als konstitutionalistisch ausgerichtet war: Ohne Verfassung sei auf lange Sicht die politische Integration nicht zu erreichen.
Auch Hallstein ging es nie um eine Abschaffung der Nationalstaaten. Piela schreibt, dass die ‘Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Mitgliedstaaten’ für Hallstein die ‘bedeutsamste spezifisch föderale Frage’ im Hinblick auf die europäische Gemeinschaft war. Sie betont, dass Hallstein in seinem Spätwerk ‘Der unvollendete Bundesstaat’ (1969) für eine europäische Föderation plädierte, für einen ‘Bundesstaat, nicht einen Einheitsstaat’.«
Nach der Sichtung einiger Quellen, ein paar Bemerkungen:
Wir haben hier immer wieder über Fakten, Wahrheit, Richtigkeit, usw., diskutiert. In diesem Kontext ist die oben stehende Problematik zu sehen. Wenn man in einem nicht-literarischen Kontext ein Zitat als eines ausgibt, das tatsächlich keines ist, handelt man unredlich. Wenn man sich hinterher durchzuschummeln versucht, steht man nicht zu dem, was man getan hat. Ein solches Verhalten wiegt um so schwerer, je gebildeter man ist, je eher man um über die zugrunde liegenden kulturellen Praktiken (korrektes Zitieren) bescheid weiß. Stattdessen könnte man auch sagen, »ich lese xy so« oder »ich interpretiere jetzt sehr frei«, hier wird eine Intention spürbar.
Wahrheit ist das eine, Moral das andere. Wahr ist nicht, was man für richtig oder gut hält. Wenn nun das »Unten« ein Mitglied des »Oben« mit Hohn übergießt, dann hat das vielleicht auch mit dem Verhalten desjenigen zu tun. Je höher man sich stellt, je mehr man moralisiert, und sich über diejenigen ereifert, die unten sind, desto eher und leichter wird man zu einem Objekt des Hasses, Zorns, etc. der von unten aufwallt. Vielleicht, und das wäre mitzubedenken, gibt es zwischen dem, das aufwallt und dem angeblich Guten, das bisweilen Mittel zu rechtfertigen scheint, die ansonsten diskreditiert sind, einen Zusammenhang. Karl Marx hat, so weit ich weiß, einmal die Funktion der Intellektuellen als eine Art Systemerhalter oder Bestandserhalter beschrieben. Aus dieser Sicht wäre über das Engagement nachzudenken, auch darüber ob es nicht vielleicht seine (angeblichen) Gegner »mitproduziert«.
Nation, Nationalstaat, Volk: Ich habe es vor einiger Zeit schon einmal geschrieben, wenn man einige Beiträge im Merkur liest aus jener Zeit, in der man über die Möglichkeit einer europäischen Einigung diskutiert hat, dann sieht man wie armselig der heutige öffentliche Diskurs ist: Dahrendorf hat damals festgestellt, dass es der Nationalstaat ist, der unsere Bürgerrechte sicherstellt und dass er deshalb notwendig sei. Das tut dieser heute noch und vieles andere mehr. Das Fehlen dieser Differenzen, macht mich misstrauisch, es ist aber typisch für Propagandisten, die Werte immer mit Dingen, Zuständen und Fakten, die auf anderen Eben liegen, vermengen müssen, um sie unangreifbar zu machen. Was steht hinter dieser Notwendigkeit der Unangreifbarkeit?
Bahners spielt auf Sieferle an, würde ich meinen. Ich kannte jedenfalls Sieferle. Er war ein Mitarbeiter zuerst von Dieter Groh in Konstanz und wurde dann von Peter Glotz nach Sankt Gallen geholt. Ich hab’ einige Bücher von ihm gelesen. Er ist kein Schwadroneur, Gregor Keuschnig. Er war ja auch als Fachhistoriker der Weimarer Zeit und der Industrialisierung – insbesondere der Kohle- und überhaupt der Energiewirtschaft ganz zweifelsfrei anerkannt. – Bis dann Sieferles migrationskritische Aufsätze erschienen und bis schließlich und enlich das lakonisch kühle und konzise Finis Gemania erschien...
@ metepsilonema
Ihre Erinnerung an Ralf Dahrendorf ist einleuchtend. Auch die an den Merkur. Ich füge der Merkur-Erinnernung noch die an Karlheinz Bohrer hinzu (in seiner überaus lesenswerten Autobiographie »Jetzt« kommt auch Bohrer immer wieder auf die Hybris der EU und die Unverzichtbarkeit des Nationalstaats zu sprechen).
Und Dahrendorf schrieb den Oxforder Ideengeschichtler und Antitotalitaristen Isaiah Berlin fort. Auf beide bezieht sich übrigens hie und da Peter Sloterdijk – und sein Freund Rüdiger Safranski ist ebenfalls übezeugt von der Unersetzlichkeit des Nationalstaats. Auch Enzensberger, übrigens, dessen Europa-Buch »Das Weiche Monster Brüssel« den sehr trockenen Hinweis enthält, die rettunglos hypertrophe EU sei nur überlebensfähig, wenn ihre Befürworter begreifen, dass ein Rückbau fällig ist.
Was Menasse nun mit Europa probiert, nämlich ein neues Europa zu bauen mit Auschwitz als Gründungsmythos, hat Jockl Fischer schon im Sinn gehabt mit Blick auf Deutschland – und Jugoslawien.
Heinrich-August Winkler hat das in den mittleren nuller Jahren erfreulich klar zurückgewiesen: »Aber so etwas Furchtbares wie Auschwitz zum Gründungsmythos der Bundesrepublik zu erklären, wie Außenminister Fischer das getan hat, geht ebenfalls nicht. Auschwitz taugt nicht dafür. Ein Gemeinwesen läßt sich nicht auf den Massenmord an den europäischen Juden gründen.« – Wehe, wehe, ein AfDler würde so was sagen ... da wäre wieder gescheit was los, wie ich denke. Gleichzeitig sehe ich nicht, was interessierte AfDler davon abhalten sollte, sich auf Heinrich-August Winkler (und Györgi Konrad (und Gerhard Schröder)) zu beziehen; außer vielleicht Eitelkeit – oder Berührungsängste. Da hätte ich freilich – mit einem berühmten Enzensbergerschen Seitenblick auf die Kanalarbeiter – kein Verständnis für.
Würde man gleichwohl Auschwitz als Gründungsmythos installieren wie von Fischer und nun Menasse intendiert, so entstünde ein zeitgenössischer Totenkult. Und der wäre – ich meine, das ebenfalls auf Winkler gestützt sagen zu können: – Nicht nur gegenaufklärerisch, sondern in letzter Konsequenz sogar lebensfeindlich (Winklers »geht einfach nicht«).
Man kann es übertreiben mit der Erinnerung. Denn die Dosis macht in der Naturwissenschaft wie im Kulturellen und im Sozialen auch das Gift. Allzuviel ist ungesund.
Ich bin dann wohl der Trottel hier, der »Die Hauptstadt« gelesen hat. Das Buch ist banal, die hölzern konstruierten Figuren sind auf den Effekt zugeschnitten, das Ende tat dann nur noch weh. Ja, man darf mit Auschwitz spielen, es aber zum Knallbonbon machen, geht nicht. Vielleicht täusche ich mich, aber mir erscheint der Versuch, Auschwitz als Gründungsmythos zu platzieren als sehr gewollt. Bisher habe ich neben den wirtschaftlichen Interessen die Motivation für ein supranationales Gebilde in Verdun, in Ypern, an der Somme und im Isonzo-Tal gesehen.
Wenn Ingenieure ein System untersuchen, drehen sie gerne mal die Regler ganz nach links und rechts (etwa so wie Gregor Keuschnig es mit Kafka/Twitter gemacht hat). In der Literatur wäre dann der Regler ganz links vielleicht der authentische Soldat in Stalingrad, dem man defätistische Äußerungen unterstellt und der Regler ganz rechts Benjamin Netanjahu, dem man eine Endlösung der Palästinenserfrage in den Mund legt. Je weiter ich den Regler nach rechts drehe, desto kritischer wird der Systemzustand und sollte nur mit sehr gutem Grund und bei entsprechenden Vorkehrungen in dem Arbeitspunkt betrieben werden. Das tut Menasse nicht. Außerhalb der Literatur stimme ich Gregor Keuschnig und metepsilonema zu.
Ich sehe wirklich nicht, weshalb es grundsätzlich bedenklich sein sollte, daß ein Romancier lokale Transpositionen vornimmt, die eine historische Rede an einen anderen Ort bringt als den, an dem sie in der Wirklichkeit stattgefunden hat. Joseph Brancos Einschätzung des Romans ist für mich nachvollziehbar, es ist durchaus hilfreich (und gar nicht trottelhaft), daß er uns hier ein bißchen Nachhilfe gibt.
In seiner Rechtfertigung in der »Presse« begründet Menasse, weshalb er diese Transposition vorgenommen hat. Auch diese Begründung hat etwas für sich. Wie Branco sagt, die europäische Kooperation wollte und will Lehren aus dem 2. (und 1.) Weltkrieg ziehen und Verhältnisse herbeiführen, in der es auf europäischem Boden nicht mehr zu solchen Kriegen kommt. Dafür ist z. B. Verdun ein emblematischer Ort – man kennt das Foto mit Kohl und Mitterand Hand in Hand auf dem ehemaligen Schlachtfeld. Ein ebenso emblematischer Ort im selben (!) Kontext ist Auschwitz. Warum sollte Verdun gelten, um symbolische Akte oder Reden im Sinn des Friedens zu setzen, aber Auschwitz nicht?
Die Erwähnung Kafkas und der Twitter-Kommunikation in einem Atemzug finde ich abwegig. Tatsächlich hat man, ebenfalls nicht ohne Gründe, in Kafkas Werk Antizipationen von Nazismus und Judenvernichtung gelesen. Über solche Vorwegnahmen zu mutmaßen, finde ich nicht grundsätzlich verkehrt. Aber auf Twitter zu verfallen, das ist wirklich lächerlich. Und noch etwas: Menasse war sicher schlampig, ein Teil der Vorwürfe besteht zurecht. Er hat aber den Sinn der Reden Hallsteins nicht willentlich verfälscht, sondern versucht, sie auf den Punkt zu bringen. Wie geschickt oder ungeschickt, kann und will ich im einzelnen nicht beurteilen.
Ich weiß, daß das nicht in der Absicht meiner Gesprächspartner hier liegt, aber ich werde von ihnen in jenes Pro-und-Kontra-Verhältnis gezwungen, zu dem die Internetforen generell neigen (für Begleitschreiben gilt das ja normalerweise nicht, einfach aufgrund des Differenzierungsvermögens der hier teilnehmenden Personen). Ich bin kein Menasse-Freund, war und bin ihm als öffentlicher, »engagiertere« Figur und seiner Literatur gegenüber eher skeptisch.
Ich glaube, daß in der derzeitigen medialen Dynamik gegen Menasse die Ablehnung der gegenwärtigen EU und der Trend zu einem neuen Nationalismus, weg von allem, was die sogenannte Globalisierung vorantreiben würde, die treibende Rolle spielt. Warum sollte man darauf nicht hinweisen? Was soll daran »totalitär« sein? Natürlich kann jeder denken und sagen, was er will. Mag sein, daß Menasse hin und wieder Nation und Nationalismus vermischt. Aber auf die von mir hier angesprochene Tendenz hinzuweisen, bedeutet noch lange nicht, daß man alles in einen Topf wirft.
Ich finde den Artikel Lützelers im Tagesspiegel, auf den Dieter Kief hinweist, aufschlußreich, vor allem den Hinweis darauf, daß Menasse offenbar nichts vom Subsidiaritätsprinzip hält (allerdings ist damit das derzeitige Prinzip gemeint, Menasse will Subsidiarität ohne Nationen). Möglicherweise verkürzt Menasse in seinen Darstellungen und Forderungen in Bezug auf den europäischen Einigungsprozeß. Sein Lob der EU-Bürokratie und die Ablehnung des Einflusses von Vertretern der Nationalstaaten muß man nicht teilen. Auch die Hallsteinschen Positionen sind von ihm möglicherweise verkürzt dargestellt (ich glaube aber nicht – ohne mich »auszukennen« -, daß die Darstellung völlig daneben oder gar bewußt entstellend ist).
So könnte man also differenzierend auf Menasses Positionen eingehen, man könnte auf Irrtümer hinweisen, ihn aber trotzdem ernst nehmen. Das wird nicht getan, statt dessen wird er gebasht. Warum?
Er wird nicht unbedingt »gebasht«, sondern kritisiert, weil er seine Transpositionen als Zitate ausgewiesen hat. Insofern hat er Hallstein Äußerungen verfälscht. Daran besteht kein Zweifel; das konzediert Menasse ja selber. Alles andere ist Herumrederei. Und ja, zur Illustration dieses Verfahrens wählte ich einige abseitige Vergleiche.
Dass Menasses Fehler in entsprechenden Kreise Häme und Spott auslösen, ist eben inzwischen so üblich. Das hat mit der Fallhöhe zu tun: Wer sich als (europa-)politischer Visionär geriert, dafür aber als Referenz glaubt Zitate fälschen zu müssen, fällt eben hin. Und wer immer schon Paria war, bekommt es nun gerade ab. Jemand der sich derart exponiert, sollte wissen, was er tut.
(Mir kommen da die Plagiatsfälle deutscher Politiker in den Sinn, die damals auch verharmlost wurden, weil ja so ein paar »Gänsefüßchen« nicht so wichtig sind...)
Und in der Tat: Hätte es eine Rede von Hallstein in Auschwitz in den 1960er Jahren gegeben, wäre dies sicherlich ein Zeichen gewesen. Sie hat es aber nicht gegeben. Man kann dies freilich in einem Roman behaupten. Aber eben nicht in Essays und Reden als Faktum darstellen. Der Vergleich mit Kohl und Mitterrand Hand-in-Hand in Verdun trifft es nicht, weil er real war. (Als »Gründungsmythos« für was auch immer taugt so etwas natürlich nicht, aber Kohl war als Historiker auch ein bisschen besessen von solchen Bildern.)
Kief erwähnt Enzensbergers Buch »Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas« (eben nicht »weiches« Monster – und auch den Hinweis Enzensbergers auf den »Rückbau« der EU habe ich nicht in Erinnerung. Helfen Sie mir doch bitte: Wo steht das?). Das Buch habe ich seinerzeit besprochen; es ist immer noch unterhaltsam – auch deshalb, weil sich am bürokratischen Geflecht der EU nichts geändert hat. Enzensberger nimmt auch Bezug auf Menasse, dessen Position er spürbar ablehnt, aber doch irgendwie davon fasziniert scheint. Ich hätte mir da mehr Auseinandersetzung und weniger intellektuelle Revue gewünscht.
Ich bin zu wenig im Thema, aber das, was ich von Menasse zu »Europa« (für ihn sind »Europa« und »EU« identisch) gelesen habe, lässt mich mit Unbehagen zurück. Im Buch über seinem »Praktikum« bei der EU (»Der Europäische Landbote« – die Anlehnung an Büchner ist natürlich gewollt) schwadroniert er davon, dass »die klassische Demokratie, ein Modell, das im 19. Jahrhunderts zur vernünftigen Organisation von Nationalstaaten entwickelt wurde, nicht einfach auf eine supranationale Union umgelegt werden kann, ja sie behindert. Demokratie setzt den gebildeten Citoyen voraus. Wenn dieser gegen die von Massenmedien organisierten Hetzmassen nicht mehr mehrheitsfähig ist, wird Demokratie gemeingefährlich.« Er möchte am Ende »die Regierungschefs [der Nationalstaaten] höflich hinausbitten, wenn eine neue Demokratie sich entfaltet, als Checks and Balances–System zwischen einem echten europäischen Parlament der Regionen und dem aufgeklärten, josephinistischen Beamtenapparat der Kommission.« Ehrlich gesagt: Besonders attraktiv als Alternative zum bestehenden erscheint mir das auch nicht. (Wer »gebildet« im Sinne Menasses ist, bestimmt dann vermutlich eine Kommission.)
Den vermehrt aufkommenden Nationalismus bekämpft man nicht mit Visionen und/oder Entmündigungsstrategien. Er ist begründet darin, dass die Globalisierung mit wachsendem Unbehagen bemerkt wird. Gleichzeitig ist der EU-Apparat, wie er sich darstellt, eine Katastrophe. Wie soll man bspw. einer Institution Vertrauen schenken, die sich nicht einmal über einen Standort ihres Parlaments einig werden kann sondern stattdessen permanent umzieht? Absurditäten allüberall.
In Deutschland gilt die EU immer noch als mehr oder weniger sakrosankt. Das hat tatsächlich mit der furchtbaren Geschichte Deutschlands zu tun. Aber diese Sonntagsreden ersetzen seit vielen Jahren Taten. Sie sollen die Demokratiedefizite der EU-Institutionen schönreden und camouflieren. Damit erreicht man das Gegenteil dessen, was man möchte. Dabei ist das Verfahren, nachdem die meisten Regierungen handeln, bekannt: Das Gute ihrer Politik vereinnahmen sie für sich – alles Schlechte kommt von »Europa«. Dabei wird »vergessen«, dass sie selber in den entsprechenden Gremien sitzen und alles beschlossen haben.
Den größten Fehler hat die EU in den 2000er-Jahren durch die schnelle Ausdehnung gemacht. Stattdessen hätte eine Vertiefung der bestehenden EU Vorrang haben müssen. All diese Punkte diskutiert jemand wie Menasse gar nicht erst. Er schüttet die 27 Kinder mit dem Bade aus und möchte einen »josephinischen Beamtenapparat«. Und dann wundert er sich, wenn das auf Widerstand stösst.
Noch Off topic, besonders für @Leopold Federmair: Ich sehe keinerlei Probleme darin, Pro-und-Contra-Positionen in diesem Blog auszudiskutieren. Dafür sind die Kommentarfelder eingerichtet. Und ist es nicht gerade der Vorwurf an Internet-Foren, dass sie sich allzusehr in ihrer eigenen Blase und Einigkeit suhlen?
Das klassische »Pro und Contra« hatte ich als Jugendlicher in einer Fernsehsendung kennengelernt, in dem kontroverse gesellschaftspolitische Standpunkte in Art einer Gerichtsverhandlung ausdiskutiert wurden. Es gab »Anwälte« und »Zeugen«, also Sachverständige, die von der jeweiligen Seite benannt wurden. Geleitet wurde dies von einem Moderator, der auf die Formalien und die Einhaltung der Zeitvorgaben achtete. Die Sendung fand vor Publikum statt. Vorher wurde eine Befragung durchgeführt, wie das Publikum zum verhandelten Sachverhalt stehe. Nach den »Befragungen«, kurz vor Ende der Sendung, gab es diese Umfrage dann noch einmal und es wurde ermittelt, wieviele Umstimmungen es gab.
Die Sendung dauerte – meiner Erinnerung nach – 45 Minuten (oder 60?). Sie entsprach dem Zeitgeist des »Ausdiskutierens«. Zeitgeistig war auch der Sachbezug; Beschimpfung den Personen gegenüber gab es nie (wieder muss hier die Erinnerung herhalten).
Irgendwann wurde de Sendung eingestellt; die Gründe kenne ich nicht. Als in den 1990er Jahren das Privatfernsehen kam, errichtete man auf RTL eine Sendung, die man »Der heiße Stuhl« nannte. Hier wurde eine Person, die politisch oder moralisch kontrovers wahrgenommen wurde, von ihren »Gegnern« befragt, auch beschimpft. Es ging um Krawall. Wenn man will kann man hieran die Veränderungen der Diskursgewohnheiten festmachen. Auch dieses »Format« ist längst eingestellt. Stattdessen »diskutieren« in Polittalkshows die immergleichen Protagonisten die immergleichen Themen. Diesen »Diskussionen« ist eigen, dass sie meist nur aus Stellungnahmen bestehen und den jeweils Andersdenkenden an besonders wichtigen Stellen zu unterbrechen trachten.
Menasse zu verteidigen, liegt mir fern. Aber die Frage von Leopold nehme ich ernst: woher die Aufregung?! Menasse hübscht nur das Telos von Gestern auf, und forciert das mit einer manichäischen Moral rund um Auschwitz, ebenso kindisch wie impertinent. Er erfindet eine Ursprungsidee, die angeblich verschüttet ging, obwohl alle sie sehr gut kennen: die bundesstaatliche Vereinigung. Einzig Pech, dass Walter Hallstein nicht als Vordenker dieser Idee in Frage kommt.
Wer nie »eine Sekunde lang« daran geglaubt hat, der werfe den ersten Stein. So gesehen, müsste Menasse schadlos davon kommen. Aber die Verlegenheit ist ja inzwischen riesig. Die Politikwissenschaftler erfinden immerzu neue Termini, um überhaupt begrifflich korrekt darstellen zu können, was Europa eigentlich ist. Eine quasi-konstitutive Föderation von an sich souveränen...
Diese Idee passt auf kein T‑Shirt. Ein Quasi-Semi-Inter-Dingsda. Europa liegt erkennbar abseits der bekannten staatlichen Kategorien.
Daher die Erklärung: Menasse kriegt den Unmut darüber ab, dass eine ungebrochene historische Dynamik immer das formale Endziel suspendieren kann. Aber wenn die Dynamik stockt, dann schaut man auf das Etappenergebnis und ist womöglich enttäuscht. Was immer es ist: die Gefahr ist groß, dass es bleibt, was es ist...
Gregor Keuschnig, ich hab’ das »Sanftes Monster Brüssel« Büchlein leider nur im Kopf, aber nicht zur Hand – das Rückbau-Zitat schwarz auf weiß gibt uns freilich das Internet:
file:///C:/Users/Kief/Downloads/caplaan_files/smh-003_2011_91__1128_d.pdf
Sie finden es auf der Halbseite über der Hotel-Annonce in der rechten Spalte. Das Gespräch ist überhaupt gut und passt auch zum Thema.
die_kalte_Sophie
Entweder wollen Sie ein bisschen provozieren oder meinen es ernst. Bei Letzterem kann man dann die gesamte politische Publizistik vergessen, weil es dann erlaubt ist, Paraphrasen und Extrakte als Zitate zu »verkaufen«. Kann man machen, aber dann darf man sich auf über »Fake-News« nicht mehr sonderlich aufregen.
@Dieter Kief
Dieser Link funktioniert bei mir nicht. Lassen Sie’s gut sein. Geschenkt.
Verzeihung, ich wollte nur Menasses Motive ergründen bzw. den Hintergrund der Reaktionen ausleuchten. Alles andere war ja schon gesagt.
Wie Menasse versucht, sich aus der Verantwortung zu stehlen, hat ja etwas Ur-Komisches. Also, ich muss da lachen. Wenn ein Kind beim Lügen erwischt wird, versucht es instinktiv, in seiner Selbstverteidigung sämtliche Register der Klugheit zu ziehen. Das ist dann trotz der Missetat schon wieder spannend.
Die polit-medialen Zumutungen unserer Zeit habe ich schlicht ignoriert. Die Ordnung des Diskurses ist angeknackst, ich weiß. Ganz oben die Rabulistik von Menasse, die sich wie ein Beitrag zur wertegeladenen Literaturtheorie ausnimmt, ganz unten die Fakenews des Präsidenten und aller subversiven Zeitgenossen. Wenn ein Preisgekrönter sich als Scharlatan herausstellt, ist das peinlich. Aber auch gut so. Meine Bewunderung gilt dem Emeritus Winkler, der Zeit und Geduld genug hat, diesem Unfug auf den Grund zu gehen und öffentlich zu korrigieren. Lerne von den Alten! Die machen sich noch die Mühe!
Vielleicht doch ein Wort zur Ästhetik: die literarische oder filmische Inszenierung von politischen Ereignissen einschl. öffentlicher Personen ist künstlerisch immer misslungen. Vermutlich ein Naturgesetz. Die Musen verweigern die Kooperation. In den Diktaturen ist das Agitprop. Bei uns ein geschmackloses Zustimmungs-Theater resp. Material für das Unterrichts-Fernsehen. Politik sollte im Roman nicht vorkommen, meint Martin Amis.
Fällt das auf den Autor und sein weiteres Werk zurück?!
Das wird man ja wohl kaum relativieren können. Einmal Staatskünstler, immer Staatskünstler. Ich ziehe es vor, diese Randgänger mit viel Ironie zu missachten. Aber ich bin kein Buddha: Zugegeben, manchmal aber nur manchmal rege ich mich ein klein bisschen auf...
Naja, ein »Staatskünstler« ist Menasse ja irgendwie nicht.
Die Frage, ob Politik einen Roman oder gar einen Schriftsteller verdirbt, ist alt und wird vermutlich, wenn überhaupt, nur im Einzelfall zu klären sein. Bei Menasse scheint das nicht trennbar zu sein. Er erinnert mich in der Vehemenz an Grass, der 1990 schrieb, er müsse dringend zu Brandt um ihm zu sagen, dass er irre, wenn er die Einheit forcierte. Er wusste natürlich alles besser. »Ein weites Feld« fand ich dennoch unterhaltsam, obwohl politisch katastrophal. Aber als Spiel akzeptabel. Grass hat immerhin Fontane nichts »angedichtet«; seine Figur, »Fonty« genannt, erinnerte an Fontane, transformiert in die Neuzeit.
(Der Satz »Die Musen verweigern die Kooperation« ist grossartig.)
Der link oben wg. Enzensbergers Rückbau-These funktioniert, wenn man ihn kopiert und in google eingibt.
Die Lektüre des Gesprächs lohnt ebeno wie die Lektüre von Enzensberger kurzem und knackigen Aufsatzbändchen »Sanftes Monster Brüssel – Oder die Entmündigung Europas«.
Das ist seit Jahr und Tag das Buch der Stunde in Sachen EU. Aber man will es nicht zur Kenntnis nehmen, wg. (rechtpopulistismusverdächtiger!) Unbotmässigkeit. Da kommt menase natürlich wie gerufen.
Ich finde Enzensbergers entsprechende Aussagen sehr interessant und zitiere eine Stelle aus dem Gespräch im schweizerischen Monat, wo es um die Details des aus Enzensbergers (und meiner, klar) Sicht notwendigen Rückbaus geht:
« Welche genau?« – Fragt der Monat, – also welche Dinge genau sollen in Brüssel zurückgebaut werden? und Enzensberger antwortet:
[quote]
Ich sage Ihnen, was bleiben darf und bleiben wird: die Idee eines
gemeinsamen Marktes und die Idee der Personenfreizügigkeit.
Was nicht bleiben darf, ist die Usurpation demokratischer Rechte.
Denn die Folge davon, das sehen wir gerade, ist der Aufstieg popu¬
listischer Kräfte, die die EU-Kritik als Vehikel zum Machtgewinn —nutzen. Die Schweiz hat ih¬
ren Blocher, die Finnen
ihre «wahren Finnen» und
die Dänen kontrollieren
sogar schon die Grenzen
wieder. Selbst in Schweden
und Norwegen gibt es
20-Prozent-Parteien, die
ausschliesslich dank ihrer
– Antihaltung zur EU erfolg¬
reich sind. Der Bürger sagt sich: solange ich überhaupt noch wäh¬
len darf, wähle ich die Gegner der Institution. Völlig verständlich.
Paradoxerweise ist an genau dieser europaweiten Bewegung die EU
selbst schuld. Sie fährt ihren eigenen Karren aufgrund der ihr inne¬
wohnenden demokratischen Mängel an die Wand.
Fromme Wünsche zum Rückbau werden die EU nicht davon abhal¬
ten, die Kompetenzen weiter auszubauen und zu zentralisieren.
Der Rückbau funktioniert nur unter Druck. Die populistischen
Bewegungen üben diesen Druck nun aus, und die etablierten Par¬
teien und Funktionäre müssen auf irgendeine Art und Weise dar¬
auf reagieren. Bezeichnend mag auch hier wieder sein, dass der
Druck in Deutschland im Vergleich zu anderen Mitgliedsstaaten
der EU sehr gering ist. Weder die Linke noch die Rechte schafft es,
sich mit dem Thema prominent zu positionieren. Sobald man
über die Grenzen schaut, sieht das ganz anders aus: Vaclav Klaus,
der Präsident der Tschechischen Republik, zum Beispiel ist sehr
EU-skeptisch.
Mont: Klaus hat ein Problem: er wird medial mit Verschwörungstheoreti¬
kern und Reaktionären in einen Topf geworfen. Haben Sie nicht
auch Bedenken, in dieser Ecke zu landen?
E: »Sie reden vom «Beifall von der falschen Seite». Damit habe ich mich
schon sehr früh beschäftigen müssen. Ich höre weder auf den
«richtigen» noch auf den «falschen» Beifall, das würde mich ja ganz
verrückt machen. Jeder, der öffentlich auftritt, sorgt dafür, dass
man sich ein Bild von ihm macht. Sobald die Menge dieser Bilder
eine kritische Masse überschreitet, kann man von einer Legende
sprechen. Man kann dann behaupten, ich sei Anarchist, Christ, ein
guter Mensch, ein Sadist, was Sie wollen. Die Geschichte einer öf¬
fentlichen Person erzeugt man nicht selbst, sie wird erzeugt. Da ist
man machtlos. Mir war ohnehin nie das Talent gegeben, ein gutes
Mitglied oder so etwas zu sein.
[unquote]
Der entscheidende Unterschied zu Menasses Position in Sachen EU ist, dass Menasse die Entkoppelung von Funktionselite und Stimmvolk aus vollem Hals befürwortet, während Enzensberger überzeugt ist, dass die Entkoppelung von Funktionselite und Stimmvolk, die die EU derzeit (absichtlich!) verkörpert, der Systemfehler schlechthin ist. Enezsnbergers Finger liegt in der Wunde.
Akzeptiert man Menasses Prämissen, läuft alles darauf hinaus, dass man – wie so oft auf der Linken, ein autoriätes Politikverständnis bevorzugt mit dem Verweis auf künftige Wohltaten – und vergangene Gräuel.
Ganz kurz noch der da: Die autoritäre Linke und die Davoser Funktionselite ziehen in dieser Sache an einem Strang.
Enzensberger ist vom linken Totalitarismus gründlich geheilt (und nicht ohne erheblichen Wegzoll in Form krasser Irrtümer an den linken Diskursgrenzen-Zollhäuschen entrichtet zu haben).
Noch ein Detail: Wie Houellebcq lobt Enzensberger ausdrücklich die Schweizeriche Volksdemokratie. Dieses obige Interview erschien nicht umsonst im schweizerischen Monat.
Einen Link auf die eigene Festplatte setzen, ist wohl dieses noch nicht durchschrittene Terrain.
Danke für’s Suchen. Ich habe in Ihrem Kommentar den Hinweis auf quote/unquote eingefügt, um einen Unterschied zu machen. Der Link zum pdf im Netz ist hier. Das Gespräch ist von 2011.
Die Aussagen Enzensbergers sind interessant. Gegen Ende wird er ein bisschen eitel. Aber das rüttelt nicht an seinen Positionen.
@die_kalte_Sophie
Nun ja, warum? Ein Teil der Aufregung wird aus der Lebenswelt der Menschen stammen, aus ihrem Beruf, der Familie, dem Alltag; Unzufriedenheit und »Beschleunigung« spielen da eine Rolle und anderes auch. Ich kann diesen Unmut gut nachvollziehen, weil ich ihn an mir selbst in einem Abschnitt meines Lebens erlebt habe und weiß, dass er mit den Bedingungen zu tun hat, unter denen man lebt und arbeitet. Häufig ist ein Teil berechtigt und einer selbst verschuldet. Die meisten würden, wenn sie es sich aussuchen könnten, wohl lieber ohne diese emotionalen Zustände auskommen. Egal wie hässlich sie sind, sie haben Gründe und Ursachen. Das lässt mich vorsichtig sein, vorsichtig mit verallgemeinernden moralischen Urteilen (ich reagiere selbst empfindlich wenn, ich merke, dass ich das Opfer einer Projektion werde, allerdings lösen meine Empfindlichkeiten und Emotionalitäten, so berechtigt sie sind, nicht das zu Grunde liegende Problem). Ich kann mich gut an eine Fernsehdiskussion erinnern, in der ein österreichischer Politologe zur damaligen Bundessprecherin der österreichischen Grünen sagte, dass die Trumpwähler doch nicht ihre Klientel seien. Man kann das natürlich sagen, dass dann aber Straßenkehrer, Müllmänner, Briefträger, Spediteure, usw., ihrerseits hämisch reagieren, liegt in der Natur der Sache, weil die nicht nur basale Arbeiten erledigen, ohne die wir tatsächlich nicht auskommen und die ohnehin kaum jemand machen will, sondern zum Teil zu jener »Masse« zählen, auf deren Rücken Profit erwirtschaftet wird. Und es ist jene »Masse«, die den Konkurrenzdruck zuerst zu spüren bekommt.
Wenn wir über Populismus oder Nationalismus reden, dann sind das Phänomene, die ich lieber verstanden sehen würde, als als Gegner apostrophiert, weil das diejenigen, die vielleicht berechtigt mit den Verhältnissen unzufrieden sind, nur weiter aufbringt. Es ist, als ob man Öl ins Feuer schüttet. Ich frage mich schon lange, ob die Ursache derartiger, häufig abstrakter, Erklärungen, »Naivität« oder doch »Absicht« ist. Aber wenn die Klagen des »Unten« eine Berechtigung haben nicht nur in den Verhältnissen, sondern auch in der Entfremdung, die diese erzeugen, dann versteh ich den Schulterschluss mit dem »Oben« nicht.
@ Gregor K.
Ich hab jetzt so viele Hinweise, Links und Anregungen bekommen, daß ich dem erstmal nachgehen möchte und fürs erste nicht weiter kommentiere. Treffend scheint mir besonders Ihr Hinweis auf Menasses »Josephinismus«. Ja, darauf wird seine Vision wohl hinauslaufen. Ein Vielvölker- oder Vielregionenstaat, der von einer (hoffentlich) gut qualifizierten Beamten- und Technikerelite gelenkt wird. Demokratische Einfluß- und Entscheidungsmöglichkeiten nicht so wichtig. Das weckt dann auch in mir ein ungutes Gefühl, obwohl... Als Altösterreicher kann ich dem Joseph II. und seinem Werkl nicht ganz ohne Sympathien gegenüberstehen. Die Vernunft möge regieren! Und daß Menasse den Konnex von Bildung und Demokratie betont, finde ich auch sinnvoll, ja, notwendig, um Populismen einzudämmen. Ich weiß allerdings sowenig wie Menasse, wie man diesen Konnex gewährleisten soll.
Ist es vielleicht tief in Menasse eine Art Sehnsucht nach dem »guten« Herrscher? Nicht ganz fremd bei Intellektuellen.
Habe jetzt die Rezension Keuschnigs von Enzensbergers Europa-Buch (Sanftes Monster Brüssel) gelesen und festgestellt, daß dort die ganze gegenwärtige Diskussion schon angelegt ist. Das wiederholt sich eigentlich jetzt. Menasses Demokratiegleichgültigkeit, stellenweise sogar Demokratiefeindlichkeit ist in der Tat frappierend – das müßte einen doch hundertmal mehr aufregen als ein unscharfes oder meinetwegen »erfundenes« Hallstein-Zitat. Auch schon dort enthalten ist der Vorwurf an Menasse, dessen Art, sich gegen Kritik zu verwahren, sei totalitaristisch. Er geht auf Enzensberger zurück, nur moniert Keuschnig, Enzensberger sei nicht streng genug in der Handhabung seiner Kritik der Kritik.
Ich moniere, dass Enzensberger zu feuilletonistisch ist. Sich über merkwürdige Abkürzungen aufzuregen ist das Eine. Das »Demokratiedefizit« der EU kann man ja beklagen, und es ist bekannt. Aber was dann? Enzensberger stellt die Vorteile heraus, schreibt über die Nachteile, die, wie er selber zugibt, eher kleinlich aufgefasst werden könnten. Wohin soll es gehen? Ideen hatte Enzensberger ja – er artikuliert sie aber in einem Interview (was ich damals nicht wusste). Insofern ist »Sanftes Monster Brüssel« nur ein Spass. Am Ende speist man.
Dass bei radikalen Befürwortern der EU, den »Visionären«, Demokratiedefizite hervorscheinen, ist fast natürlich. Viele verachten die Massen. Deutlich wurde dies, als sich Irland in einem Referendum weigerte, den Vertrag von Lissabon, die sogenannte EU-Verfassung, durchzuwinken. Schon der Tatbestand eines Volksentscheids wurde als Sakrileg aufgefasst. Dass man dann zunächst den Vertrag ablehnte, erst recht. Es gab dann einige kosmetische Zugeständnisse. Und dann wurde neu abgestimmt.
Ich bin ja sehr wohl ein Anhänger von Habermas, wenn er sinngemäss (!) sagt, dass die EU in allen Ländern zunächst einmal neu legitimiert werden sollte. Hierfür muss man allerdings werben, zur Not auch mit rhetorischen Mitteln (aber nicht mit Fälschungen!) kämpfen. Stattdessen wird die Alternativlosigkeit beschworen und damit gedroht, dass neue Kriege entstehen könnten, falls Griechenland aus dem Euro austreten müsste.
Die EU galt in Deutschland jahrzehntelang als unantastbar. Es galt und gilt das Postulat, dass sie gut und richtig sei. Die politischen Akteure selber haben dies in Sonntagsreden gesagt – gehandelt haben sie anders. Dadurch hat sich der Eindruck verfestigt, dass die EU ein Elitenprojekt sei. Zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge fiel den Medien nichts anderes ein, als die Reisefreiheit als Errungenschaft herauszustellen. Man mag es als Undankbarkeit abtun, aber dieser Vorzug ist längst als Selbstverständlichkeit aufgefasst worden.
@Leopold Federmair
Es geht konkret nicht um ein »erfundenes« (in Anführungszeichen) oder unscharfes Zitat. Das Zitat ist ERFUNDEN und steht in eklatanten Widerspruch zur damaligen Position Hallsteins. Die Zitate »Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee» und «Das Ziel des europäischen Einigungsprozesses ist die Überwindung des Nationalstaates« und »Ziel ist und bleibt die Überwindung der Nation und die Organisation eines nachnationalen Europa« sind vor der jetzt kritisierten literarischen Verwertung von Menasse laut Winkler in seinem Buch von 2017 an drei Stellen verwendet worden – in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung 2013, in seinem politischen Buch »Heimat ist die schönste Utopie. Reden (wir) über Europa« von 2014 und in dem Online-Artikel »Kurze Geschichte der europäischen Zukunft. Oder warum wir erringen müssen, was wir geerbt: Das Europa der Regionen« von 2015 auf »The European«. Der Artikel beginnt pikanterweise auch noch mit dem Bild von Hallstein, s. Eine kurze Geschichte der europäischen Zukunft. Der Beitrag findet sich auch in Buchform in dem Sammelband »Kurze Geschichte der Europäischen Zukunft«, S. 27–37 von 2016
Winkler beschäftigt sich in seinem Buch »Zerbricht der Westen?« aus dem Jahr 2017 im Kapitel 2 mit dem Thema »Die Nation überwinden oder überwölben« und geht hier auf Menasse ein. In dem von Keuschnig verlinkten Beitrag von Krieghofer gibt es übrigens einen Referenzlink in der Fußnote auf dieses Buchkapitel bei Google, was anscheinend vollständig lesbar ist.
Laut Winkler, und das ist der zentrale Vorwurf, sind die Zitate nicht nur nicht belegt, »sie widersprechen auch diametral dem, was Hallstein bei zwei der von Menasse genannten Anlässe tatsächlich gesagt hat«:
»In seiner ersten Rede vor dem Europäischen Parlament beschrieb der frisch ernannte Kommissionspräsident am 19. März 1958 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als eine «Staatengemeinschaft mit starken föderativen Zügen». Vor dem Europäischen Gemeindetag in Rom erteilte er am 15. Oktober 1964 zwar der Idee der nationalstaatlichen Souveränität alten Stils «und der heutigen politischen Form der Nationen» eine Absage, ebenso aber auch der Folgerung, «dass die bestehende politische Ordnung ausgelöscht, durch einen europäischen Supranationalstaat ersetzt wird». Es gehe vielmehr darum, die «Kraftquellen der europäischen Nationen zu erhalten, ja sie zu noch lebendigerer Wirkung zu bringen».[8]
Menasse hat ja zugegeben, daß einige Zitate nicht korrekt waren. Er meint aber, er habe mit diesen Sätzen betreffend das mögliche oder gewünschte Verschwinden der Nationen Hallsteins denken auf den Punkt gebracht (ich kann selbst nicht beurteilen, inwieweit das zutrifft, und habe auch keine Lust, die Schriften Hallsteins zu lesen). Aber die Rechtfertigung Menasses in der österr. Zeitung Die Presse sollte man zumindest zur Kenntnis nehmen:
»Ich habe die Quelle immer genannt, nämlich die Römische Rede Hallsteins vom 15. Oktober 1964. Verbürgt ist Hallsteins Feststellung, dass keine europäische Nation allein den Herausforderungen der Zukunft gewachsen sein kann. Er stellt in dieser Rede klar, dass das europäische Einigungswerk nicht auf einer „schemenhaften Idee“ oder einem „nebelhaften Traum“ aufbaut, sondern auf der „Wirklichkeit“, den „Realitäten Europas“. Und was sind diese? „Als erste europäische Realität sieht unser Einigungswerk den europäischen Menschen, den Europäer als Einzelwesen.“ Das folgt klar dem berühmten Satz von Jean Monnet, dass es beim europäischen Projekt darum gehe, „Menschen zu einen und nicht Nationen zu integrieren“. (...) Hallstein zitiert den französischen Außenminister Robert Schuman, dass es um eine „Solidarität der Tatsachen“ gehe, „d. h. eine Solidarität gemeinsamen Handelns, gemeinsamen menschlichen Tuns“, und das ist als europapolitisches Programm etwas deutlich anderes als die von Nationalisten geforderte Verteidigung „nationaler Interessen“ in der Union. Daher hat Hallstein die Europäische Kommission als eine „supranationale“ und nicht als eine „internationale Institution“ verstanden und aufgebaut, wodurch bekanntlich der Konflikt mit Charles de Gaulle entstand.«
Menasse führt das alles noch weiter aus und zitiert zuletzt noch einmal (hoffentlich korrekt) Hallstein: „Die Völker Europas wissen, dass sie das Maß an Selbstständigkeit, an Selbstbestimmung, das sie im europäischen Zusammenschluss aufgeben, auf höherer Ebene wiederfinden.“ Die heutigen politischen Organisationsformen, nämlich die Nationen, seien (Menasse zitiert wiederum Hallstein) »Formen, die in der Vergangenheit, in einer ganz bestimmten geschichtlichen Periode ihre Berechtigung (...) gehabt haben. Wir können aber die Zeit nicht anhalten.“
Den von Axel B. zitierten Hallsteinschen Satz, die »Kraftquellen der europäischen Nationen« seien »zu erhalten«, ja sie seien »zu noch lebendigerer Wirkung zu bringen«, diesen Satz und diese Einschränkung hat Menasse, der ja besonders die römische Rede Hallsteins heranzieht, also ausgeblendet? (Das wäre meine Frage an @Axel B.)
Menasse Staatskünstler oder nicht, er ist von seinem Werdegang her nicht nur Josephiner, sondern auch und vor allem Hegelianer, der Titel seines ersten Romans eine Anspielung auf Hegel, fast ein Zitat (»Sinnliche Gewißheit«). Ich lese Menasse schon seit Jahren nicht mehr bzw. nur im sporadisch im Feuilleton, habe aber den Eindruck, daß er diesen Historizismus nie aufgegeben hat. Vermutlich hat er eine historische Tendenz zum Verschwinden der Nationalstaaten festgestellt und meint, dieser Tendenz im (subjektiven) Denken und auch Handeln entsprechen zu müssen.
Menasse Staatsliterat? Vielleicht in dem Sinn, wie man in Hegel den preußischen Staatsphilosophen sehen kann.
Axel B.’s Ausschnitte von Winkler zeigen ja, dass Menasse sogar die Intentionen Hallsteins verfälscht haben soll.
Wenn Menasse Monnet zitiert, sind inzwischen auch Zweifel angebracht. Man lese dieses hier. Es ist einfach nur noch erbärmlich. (Immerhin scheint er sich von der Kritik erholt zu haben: er sei »komplett tiefenentspannt«, wie es heisst.)
Bis auf eines sind die anderen Zitate, die von Hallstein stammen sollten, bei Google nicht auffindbar – außer in einem Artikel von Menasse selber in der »Welt«. Das hat nichts zu sagen. Oder doch? Keine Ahnung.
Ich glaube viele – dazu zählt auch Menasse – bemerken, dass da politisch etwas entgleitet. Ich halte dieses Gefühl für richtig. Was Figuren wie Menasse nicht bemerken, ist, dass sie mit ihren Forderungen nach Mehr – vom – Gleichen Teil des Problems sind und nicht der Lösung.
Die Berufung auf Auschwitz ist da ein Indiz für eine Verlegenheit und letztlich ein Nick für eine vermeintliche Alternativlosigkeit, insofern mit ihr ja häufig sehr konkrete politische Forderungen verbunden sind, die diese alternativlose Tiefe gar nicht haben. Es ist eine Dramatisierung. Man könnte es auch moralische Erpressung nennen. Ich glaube dieses tiefgelegte – oder hochtönende – Argument macht die erhebliche Fallhöhe aus, die so viel Anlass zur Häme gibt. Das eigentliche Ereignis, die Falschzitation, wird erst vor diesem Hintergrund gewichtig, für sich genommen wäre es Pillepalle.
Häme ist das adäquate Pendant zu dieser von Menasse intendierten Feierlichkeit. Mit Häme wird reagiert auf die Schließung des Argumentationsraumes und der Zuweisung eines Platzes am Katzentisch der moralisch und intellektuell unzurechnungsfähigen Schmuddelkinder, denen man nicht zubilligt, mit Messer und Gabel essen zu können. Darauf reagieren sie eben fälschlicherweise oft, indem intellektuelles Fingerfood zu einer kulinarischen Delikatesse hochpromoviert wird. Das sind dann diese Scheinalternativen, in denen man sich bewegt. In der Parteipolitik heißen die Antipoden in Reinform: AFD und Grüne – alles andere sind Mischformen. Bei beiden muss man überwiegend nur das Vorzeichen wechseln, um beim jeweils anderen zu landen, der Denkstil ist oft sehr ähnlich, nämlich kulturalistisch. So landet man eben oft und auf vielen Ebenen bei völlig falschen Alternativen, die erhebliche Teile der Realität ausblenden: entweder übermäßiger Fleischkonsum oder vegane Mangelernährung. Da muss man je nach Peergroup schon aus ideologischen Gründen mit der Zunge schnalzen: hm – lecker! Daraus resultiert auch, dass inzwischen wichtiger ist, wer etwas sagt als was er sagt.
Aus diesem Grunde schon liegt Menasse falsch, und falsch läge er auch, wenn schon Hallstein, in noch anderem Kontext, diesen inzwischen völlig offenbaren Irrtum propagiert und diese Äußerung so und am behaupteten Ort getan hätte. Mit Irrtum meine ich nicht etwa, dass Hallstein eine solche Position rein theoretisch damals nicht hätte mit moralischer Würde vertreten können – das hätte er sehr wohl. Auf dieser moralischen Ebene stimmt Menasse Argument, Hallstein hätte diese Äußerungen damals so getätigt haben können. Dennoch verheddert er sich in seiner Selbstverteidigung in seiner moralischen Selbstbespiegelung, denn historisch hat er Unrecht. Solche Äußerungen Hallsteins wären als Gründungsargument für die EU (nennen wir die Frühform einfach mal so) zeituntypisch gewesen, er hätte sich in der Durchschlagskraft seines Argumentes empfindlich geirrt. Menasse musste gar nicht falsch zitieren, um Unrecht zu haben. Seine Position wäre auch bei korrekter Zitation ausgesprochen fragil insofern, als sie unterstellt, damals wären die Deutschen und andere, etwa Frankreich und später Großbritannien, für das Projekt Europa mit hauptsächlich diesem Argument zu gewinnen gewesen. Das Argument war wohl eher: Schwamm drüber, wir fangen kontrolliert neu an – und andere, auch handfeste Interessen, das führte jetzt zu weit. Dass jemand sich schon vor Jahrzehnten gleich geirrt hätte wie Menasse selbst in der realpolitischen Relevanz seines Arguments, änderte am Irrtum ja gar nichts. Bezeichnend ist aber, dass Menasse offenbar das diffuse, vielleicht nicht zur Gänze bewusste Gefühl hatte, seine Position lasse sich nur mit Fiktionen moralischer Eindeutigkeit wirksam verteidigen. Und eine Autorität müsse her! Es gibt zudem auch Äußerungen, die darauf hindeuten, dass wir es nicht mit klassischem Betrug und bewußt strategischer Unredlichkeit zu tun haben, sondern dass Menasse das selbst so glaubt. Für ihn waren seine Erfindungen moralisch plausibilisierte Historie, daher die zumindest mangelnde Sorgfalt. Dass alles diffus bleibt wie @Keuschnig treffend schreibt, gehört zur Argumentation, denn anders funktioniert sie ja nicht.
Hier sind wir eigentlich auch ganz dicht beim Storytelling von Relotius – da könnte sicherlich auch manches Erfundene so gewesen sein. Und wenn ein reflektierter Literaturkritiker (den ich durchaus schätze) und zugleich Preisbetriebsmanager (den ich inzwischen für inhaltliche Unbestechlichkeit etwas zu vernetzt finde) wie Hubert Winkels zur Halbverteidigung Menasses von quasi erfundenen Zitaten spricht, und ihm dabei die unfreiwillige Komik solcher Äußerungen nicht auffällt, sind wir bedenklich nahe an den „alternative facts“ von Trumps Regierungssprecherin. Und wer sprach denn da? Der geschätzte Kritiker? Oder der leicht misstrauisch beäugte Preisverleihungsnetzwerker?
Wenn Menasse sich auf die Gründergeneration beruft wie Rom auf die Kirchenväter, könnte mir das in festem katholischen Glauben der Form nach ja noch sympathisch sein. Wenn er allerdings Butterberge mit Golgatha verwechselt, geht´s deutlich zu weit. Das ist doch alles nicht nur ein bisschen zu dicke. Dass von Ihnen, lieber Herr Keuschnig, verwendete Wort „totalitär“ finde ich da allerdings bei allem Dank für den schönen Beitrag auch ein bisschen zu dicke. Eventuell haben Sie da, in von mir geteilter Säuernis über so viel Unverfrorenheit und der allzu großen Neigung des Betriebes zur Generalabsolution des Genehmen, unfreiwillig Menasses Methode des Zutiefbohrens mitgespielt. Auch da ginge es eine Nummer kleiner noch treffend.
Das von Ihnen angeführte „Babylon Berlin“ habe ich noch vor mir. Mein Vorabverdacht, dass hier die antik- religiös fundierte Bedeutungsschnorrerei der zwanziger Jahre auch für die Gegenwart des heutigen Berlin plausibel gemacht werden soll, lassen mich dem Vergnügen mit gemischten Gefühlen entgegen sehen. Aber ich werd´s sehen...
Im übrigen – letzter Satz – ist Menasses Position – bei Differenzen im Detail – von der eines Hochkaräters wie Habermas nicht sehr verschieden.
Lieber Jumid, vielen Dank für diesen Kommentar, dem ich in nahezu allen Punkten zustimmen kann.
Die Vokabel »totalitär« sollte ausdrücken, dass da jemand auf seine entstellenden Erfindungen dahingehend pocht, dass Kritik daran irgendwelchen Rechtsextremen helfe. Das suggeriert für mich, dass man diese zu unterlassen habe, da man andernfalls diesen Leuten zuspiele. Das Wort mag ungelenk gewählt sein, vielleicht ist es auch falsch. Aber dafür gibt es ja diese Kommentarmöglichkeit hier, von der Sie glücklicherweise Gebrauch gemacht haben.
Jumid, Sie schreiben, dass Habermas’ und Menasses EU-Positionen so ca. gleich seien. Es gibt aber zumindest einen fundamentalen Unterschied: Habermas ist sicher nicht “josephinisch«.
Menasse schon, da stimme ich dem oben von Federmair/Keuschnig/Jumid gesagten zu. Menasse amalgamiert die altlinke elitistische Tradition mit dem top-aktuellen Postdemokratismus und schon etwas abgehangenen Dekonstruktivismus usw. – und auch der Postdemokratismus und der Dekonstruktivismus sind tendenziell jedenfalls elitistische Denkschulen, wie ich finde.
- Für die Reinform der Fehler-Verkörperung kann man Menasse durchaus dankbar sein: In seiner EU-Position sind etliche der autoritären, antiaufklärerischen und elitistischen Defekte der EU gebündelt, nur dass er sie halt als Vorzüge oder wenigstens notwendige Übel begreift.
Das zentrale Problem des EU-Demokratiedefizits sieht neben Habermas auch Enzensberger – und zwar klar und deutlich. Seine Abkürzungs-Lese in “Sanftes Monster” soll man besser nicht als geschmäcklerisch einsortieren.
Denn Enzensberger zeigt mit diesem Abkürzungswald die – DURCH MANGELNDE DEMOKRATISCHE KONTROLLE – verursachte bürokratische Hypertrophie der aktuellen EU. Er veranschaulicht so – durchaus unterhaltsam (das geb ich zu ) – die in Straßburg u n d (seufz) Brüssel obwaltende Neigung großer Organisationen, mehr und mehr zum Selbstzweck zu werden, ja zu einem geschlossenen Bezugs- und Verweissystem (Enzensberger hat nicht nur Luhmann getreulich studiert, sondern halt auch Franz Kafka zur Hand, wenn es gilt).
Wer sich dem Wahlvolk nicht stellt, hypertrophiert ins Monströse. Das ist Enzensbergers aus Kafka und Luhman zu so ca. gleichen Teilen fundierte EU-Kritik in einem Satz.
Und deswegen ist es eben ganz plausibel, dass er im Schweizerischen Monat diese Dinge im Plauderton, aber gleichwohl sehr präzis, zusammenfasst: Die Schweiz ist nämlich ein glückliches Beispiel dafür, wie die politische Integration diverser Kulturen über sehr ausdiffrenzierte demokratische (und kommunikative!) Strukturen gelingen kann. Die Schweiz, das hat auch Habermas wiederholt gesagt, ist ein Modell für die EU. Man muss das, füge ich hinzu, nur verstehen – und soll es, finde ich, auch würdigen – von mir aus durch Kritik…
PS
(Die Idee, die AfD am Nasenring ihrer Schweizerischen Sehnsüchte durch die Arena der hiesigen Öffentlichkeit zu führen, wie das in letzter Zeit in Ba-Wü häufiger getan worden ist (nicht zuletzt mit Hilfe von Gisela Erler, der Ba-Wü “Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgebeteiligung«, ist deshalb keine ganz perfekte Idee, um dieses Problem hier sehr mild zu fassen).
Aus einem Interview mit Menasse in der Aargauer Zeitung, 2015 (@ Dieter Kief):
»Für einen Schweizer ist der Kanton wichtiger als die Nation. Das passt perfekt in ein künftiges nachnationales Europa der Regionen. Und was heute direkte Demokratie heisst, ist nur eine Vorstufe der subsidiären Demokratie einer künftigen europäischen Republik.«
Menasse denkt Subsidiarität eben ohne die – für ihn – überflüssig werdende Zwischenstufe der Nation.
Ich will hier nicht den Advocatus diaboli spielen, aber zu den Ausführungen Jumids fällt mir die Familiengeschichte Menasses und auch sein Roman »Die Vertreibung aus der Hölle« ein, der einen Faden von der NS-Judenverfolgung zurück ins 17. Jahrhundert spinnt. Menasses Vater, der sehr talentierte Fußballspieler Hans Menasse, 1930 geboren, kam 1938 mit einem Kindertransport nach England und entging dadurch wahrscheinlich dem KZ. Nach dem Krieg kehrte er nach Wien zurück, spielte bei der Vienna und auch im Nationalteam.
Ich erwähne das, wohl wissend, daß Persönliches nicht vor verfehlten Argumentationen schützt und diese keinesfalls rechtfertigt. Aber auch, wenn man von Familiengeschichten absieht: Die Realität der Weltkriege und der Konzentrationslager, der Millionen Toten, ist nun einmal die Ausgangslage für europäische Politik Mitte des 20. Jahrhunderts, ob man das nun »dramatisch« findet oder nicht. Dazu gibt es tatsächlich nur die eine Alternative: Kooperation statt Konfrontation. Außer, man nimmt neue Katastrophen ähnlichen Ausmaßes in Kauf. Wie diese Kooperation auszusehen hat, in Bezug auf diese Frage gibt es selbstverständlich Alternativen, und es ist notwendig, sie zu diskutieren.
In Bezug auf das Weitere habe ich keine Einwände gegen Jumids Beitrag, außer vielleicht den schon von Dieter Kief erhobenen, Habermas betreffenden.
Christian Meier verweist in seinem Essay »Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns« auf eine seit der Antike existierende Tradition des Vergessens gewalttätiger kollektiver Auseinandersetzungen, die nicht nur einen Neuanfang ermöglichen sollte, sondern vor allem eine Wiederkehr der Gewalt durch Erinnerung an die Ereignisse (der zweite Weltkrieg brach etwa gerade in dem Wissen um und die Erinnerung an Versailles und den ersten Weltkrieg aus). Nur in der jüdischen Tradition habe er (Meier) Gegenbeispiele gefunden, Erinnerung wird dort – sozusagen – eingemahnt oder eingefordert. Auschwitz so Meier, widerstreite dieser Tradition des Vergessen.
Bezogen auf die Diskussion oben, könnte man sagen, haben die europäischen Staaten Auschwitz und die nationalsozialistischen Verbrechen in ihrem kollektiven Gedächtnis behalten, mit dem Manko, dass die Erinnerung heute sehr ritualisiert wirkt. Im Hinblick auf ihre eigene »Gemeinschaft« (EU) haben sich die beteiligten Staaten eher an »ihre Tradition« gehalten, die größten Verbrecher und Verbrechen bestraft, manches sicherlich übersehen und die Dinge dann auf sich ruhen lassen. — In den Diskussionen um die Schulden Griechenlands kam diese Vergangenheit als Forderung gegen Deutschland kurzzeitig wieder hervor, ansonsten hält diese ausgesprochene oder unausgesproche Vereinbarung, öffentlich Stillschweigen zu bewahren. Ein großer, Europa umspannender Krieg ist bislang zumindest ausgeblieben, andere hat es freilich gegeben.
Ich wage mich noch einmal an die Polit-Psychologie: Menasse verabschiedet erkennbar den Staat / die Nation, ohne das geringste Wimpernzucken. Es ist ein Opfer, das ihm sehr leicht fällt, denn das »Eigentum am Opfer« würde er gar nicht beanspruchen. Er opfert nicht etwas, was ihm gehört, sondern etwas, was er nicht »haben will«...
Ich bitte diese von mir gefertigte Unterstellung/Interpretation zu prüfen. Denn sie steht in einem Kontrast zum allgemeinen Modell des Tausches, das zum Beispiel Hallstein heranzieht, wenn er von einem Verzicht auf Selbständigkeit spricht, welche die europäischen Völker zunächst hergeben, um sie dann auf höherer Ebene wiederzufinden. Man opfert etwas, und kriegt etwas dafür. Das ist menschlich und normal. Das nennt man Tauschhandel.
Menasse opfert etwas, das er gar nicht will, weil es ihm befremdlich vorkommt. Und diese Transaktion ist nicht auf den Vorteil des Gewinns, sondern auf den »Vorteil des Verlustes« hin angelegt. Dieses Geschäft ist absurd, oder kainitisch: ich opfere mein schlechtestes Schaf, der HerrGott wirds nicht merken, und das mache ich gern, denn ich hatte schon immer das Gefühl, dass es nicht »zu mir gehört«...
Jetzt wird’s biblisch, meine Herren!
Darauf gekommen bin ich durch den heutigen Kommentar im Standard, wo Pohl an die alte linke Aversion gegenüber dem bürgerlichen Staat erinnert.
Sehr grob: Menasse geht es nicht um die Demokratie, es geht ihm nicht um die Nation. Die Intention besteht darin, ein Konzept des Staates loszuwerden, mit dem er (und viele) sich partout nicht anfreunden können.
Leider fehlt mir für eine vollständige Analyse der theoretische Hintergrund. Das geht in die Tiefe, hat mit Territorium vs. Erdball, Vertrag vs. Gewohnheit, Organisation vs. Plan zu tun.
Und doch liegt @jumid richtig. Es kann als der Versuch betrachtet werden, ein Unbehagen zu beseitigen. Der politische Wille geht bekanntlich vom Volke aus. Eine Kollektiv-Singular-Instanz. Die Willensbildung und die Legitimation verlaufen dabei parallel, bei aller Diversität und Interaktion. Feedback und Widerstand gehören zum Geschäft. Was nicht mehr ins Demokratie-Modell passt, ist ein Plural von Kollektiven (die 28) mit zwei Regierungen (aus domestischer Sicht, Nation und EU), wobei die eine souverän erklärt ist, und die andere integrativ legitimiert ist. Die integrative Legitimation ist eigentlich super-demokratisch, sie stellt eine Quadratur des Prinzips dar.
Habermas erklärt ja so schön die neue zweite Bürgerlichkeit, die uns zugewachsen ist, als demokratische Teilnehmer innerhalb der EU. Er übersieht, dass wir damit auch zwei Gesetzgeber zu begrüßen haben, bzw. zwei willensbildende Versammlungen assoziieren müssen. Sehr richtig: das EU-Parlament und der EU-Rat streiten darüber, wer das Volk sein darf. Aber das ist ein Streit darüber, wer das »Super-Volk« sein darf. Das Demokratie-Modell fliegt uns um die Ohren.
@#31 Kidanes »komplett tiefenentspannt« in der taz verstand ich so, dass Manesse, sorry: Menasse keinerlei Engagement ausdrückte, seine Zitate nachzuweisen gegenüber Springer. Aber mag mich täuschen. #IronyIsOver
@Sophie
Opfer und Tausch, ich fürchte, die Begriffe passen hier nicht. Der (bürgerliche) Staat muß verschwinden, so die Marxsche Lehre, er muß, weil es die Geschichte so will, und die Geschichte ist das höchste Wesen, ihm dienen wir, wenn wir denken. Ich glaube, hier liegt die Wurzel von Menasses Theorien. Er ist sehr theorieverliebt, auch wenn er das nicht immer gleich erkennen läßt. Und natürlich sind wir – nach dieser Lehre – ohne Staat frei, wir haben nicht etwas geopfert, sondern gewonnen: freie Vergesellschaftung, auch persönliche Freiheit, die Möglichkeit, uns ungehindert zu entfalten (ach, EU-Bürokratie!).
Das sind Utopien, eher haltlose, und die Schwierigkeiten Menasses haben damit zu tun, daß sie sich mit konkreten Konstruktionen oder gar mit Fakten, mit dem Funktionieren oder Nichtfunktionieren von Institutionen, schwer unter einen Hut bringen lassen.
Es ist viel Wasser den Fluß dieser Debatte runtergeflossen; ich möchte das Pferd trotzdem noch einmal aufzäumen, und zwar anders. Daß mich die Debatte, die Unterstellungen, der Haß, der da wieder einmal ein Ventil gefunden hat, aufgebracht hat, lang anfangs daran, daß mir die Übertreibungen (»Geschichtsfälschung« – kann man überhaupt noch, ohne Angst zu kriegen, Anführungszeichen gebrauchen?) in den Kontext der an allen Fronten reflexhaft geforderten Korrektheit, der Redlichkeit von Autorschhaft gehören zu schien. Ich denke das immer noch. Und ich denke und sage, mich in die Brennesseln setzend, daß dieser Übereifer parallel geht mit der Verteidigung des Copyrights, die in der Kulturindustrie (oder Neoliberalismus – Keuschnig mag das Wort nicht) eine so zentrale Rolle spielt. Was mir gehört, darfst du nur kopieren, wenn die Kopie dem Original hundertprozentig entspricht, und in der Regel mußt du fürs Kopieren zahlen oder wirst bestraft, wenn ich es dir nicht ausdrücklich erlaube. Von den Essays Adornos bis Maskottchen und anderem, profitträchtigem kommerziellem Krimskrams muß alles geistige Eigentum geschützt und vernützt werden.
Politikern, oft keine großen intellektuellen Leuchten, können Medienleute sehr leicht am Zeug flicken, indem sie deren akademische Diplomarbeiten aus dem Archiv holen und durchchecken. (Wer hat schon das, was er schreibt, wirklich selbst gemacht? Jeder Gedanke fußt auf einer, auf vielen Überlieferungen.) Es gibt Leute, die haben sich das Checken zum Beruf gemacht, Big Data läßt grüßen. Leute wie Menasse sind gewiefter und gebildet, Menasse hat die Journalisten jahrelang geblendet, aber jetzt sind doch noch welche fündig geworden und beweisen, daß ein paar Sätze nicht korrekt kopiert sind.
In meinem Bücherregal steht an einer Leerstelle ein Kärtchen, auf das ich geschrieben habe: »Oui, je suis un voleur de pensées.« Mit Anführungszeichen, kühn und korrekt.
Nach einigen Turbulenzen kann ich nun wieder auf meinen Blog zugreifen.
@die_kalte_Sophie
Die Erklärungsversuche sind interessant, aber ich glaube, es geht bei Menasse sehr viel einfacher zu. Eine großartige »Vision« hat er nur dahingehend, dass er ein utopisches (bzw. utopisch anmutendes) Ziel formuliert. Er gleicht einem Sportler, der, sagen wir einmal, formuliert, dass er die 100 m in 11,5 Sekunden laufen möchte. Er sagt dies immer und immer wieder, aber er sagt nicht, wie er dieses Ziel erreichen will. Stattdessen kauft er sich hübsche Trainingsgeräte und betrügt sich mit falschen Resultaten seiner Leistungen.
Das Beispiel hinkt vielleicht ein bisschen, aber will sagen, dass Menasse den Weg der Interellektuellen in das, was man halb geringschätzig, halb anstrengend als »Realpolitik« bezeichnet, scheut. Er lehnt einfach das ab, was er vorfindet und formuliert sehr schwammig, worin das Ziel liegen müsste. Dazwischen hält er sich bedeckt. (Darin unterscheidet er sich übrigens von jemandem wie Grass.)
Um sein Ansinnen mit Relevanz und Autorität auszustatten verwendet er Zitate bzw. biegt sie nach seinem Denken um. Ich halte es, lieber @Leopold Federmair, für abwegig, das Copyright mit dem Zitieren in einen direkten Zusammenhang zu setzen. Es geht eben nicht darum, dass die Erben von Hallstein finanzieller Entschädigung möchten, sondern es geht um eine politische Idee, welches mit Erfundenem und, einige sagen es, Entstelltem unterfüttert werden soll.
Mit »Big Data« hat das alles nichts zu tun. Und dass Journalisten oder Publizisten verpflichtet sein sollen, Zitate im Vorfeld zu überprüfen, halte ich für abwegig. Es muss schon so etwas wie Vertrauen vorherrschen.
Von mir aus vergessen wir den ganzen akademischen Quatsch und jeder schreibt dann über andere derart, wie er oder sie es für richtig hält. Ich für meinen Teil werde versuchen, diesem Trend, der dann auch noch mit dem üblichen »Augenzwinkern« kommentiert werden könnte, nicht nachzugeben.
(Ich habe übrigens nie eine Universität von innen gesehen. Dass ein »Idiot« wie ich plötzlich darauf rekurriert, ein bisschen intellektuelle Redlichkeit einzuhalten, ist wirklich putzig.)
Ergänzung zu meinem Kommentar (eine Kleinlichkeit oder Kleinigkeit): Ich habe doch schon einmal eine Universität von innen gesehen. Das war im Oktober 2017 in Klagenfurt, als ich einen Vortrag über »Peter Handke und das Internet« hielt.
Werter Gregor Keuschnig – wenn man dem eminenten kanadischen Psychologen Jordan B. Peterson (und mir…) folgen will, so sind Universitätsabschlüsse jedenfalls nicht direkt mit moralisch/ethischer Superorität zu verrechnen.
(Wenn ich recht sehe, sagen Peterson und meine Wenigkeit seit einiger Zeit öffentlich daselbe in dieser Sache. Wer mag kann für einen Nachweis für Petersons Position ins Intellectual Dark Web abtauchen, und das zweite Gespräch, das der Komiker Joe Rogan mit Peterson (Ende 2018) geführt hat aufrufen, da bringt dieser auch klinisch (etliche tausend mit psychisch Kranken verbrachte Stunden) ausgewiesene Psychologe beiläufig die Erfahrung (!) zum Vortrag, dass Intellektuelle jedenfalls nicht weniger anfällig für Rationalisierungen (vulgo: irreführende Ideen) seien, als weniger formal hochtrainierte Leute. Dann sagt er noch etwas: Dass es nämlich im Fall von Intellektuellen oft schwerer (!) sei, ihre (neurotischen) Irrungen zu entwirren als im Fall von formal weniger Gebildeten, nicht zuletzt, weil die Intellektuellen mehr Material zur Hand haben, um ihre Irrtümer (=existentiellen Fehldeutungen) zu stützen).
(cf. die Redensart vom “Bullshit Castle” für die Mercedes-Zentrale in Stuttgart. cf. auch den interessanten Artikel im Donau-Kurier dieser Tage über einen Fließenleger, der nicht mehr für Ingnieure von Audi und Siemens zu arbeiten bereit ist, weil diese Personengruppe sich als überwiegend common-sense-feindlich – und deshalb extrem streithanselig erwiesen habe – im Gegensatz z. B. zu Polizisten).
https://www.donaukurier.de/nachrichten/bayern/DKmobil-Audi-Ingenieure-unerwuenscht;art155371,4038012
@ Metepsilonema: Meiers Bemerkung über die unterschiedliche Einordnung des Verzeihens in der jüdischen bzw. christlichen Ethik ist sehr interessant – wenngleich wenig überraschend. Das Judentum folgt nämlich dem Alten, das Christentum dem Neuen Testament... Dennoch – der Talmud hätte ja auch anderslautende Gedanken bereithalten können, an die aktuell nur keiner gedacht hat. Aber nein: Es folgt offenbar Juden – wie Christentum haargenau der in der Bibel in den beiden Testamenten vorgezeichneten Logik, bis heute.
Das Judentum ist traditionaler, wenn auch – - – nur (?!) – - ‑einer über zweitausend Jahre alten Einteilung zufolge... (Wenn man sich derlei – ok: Wenn ich mir derlei vergegenwärtige, schwindelt mir).
@ Die_kalte_Sophie
Wg.Pseudo-Opfer Menasses – diesen Gedanken könnte man noch anreichern mit der marxschen kommunistischen Utopie der weltweiten Herrschaftslosigkeit und – - – deren Hauptfeind: Nämlich dem notwendigerweise (!) expansionistischen (=imperialistischen) kapitalistischen Nationalstaat. Menasses Position ist plausibel, sobald man Marx das letzte Wort über die (»wissenschaftliche« (Marx)) Deutung der Weltgeschichte überlässt.
Folgt man stattdessen – - – ‑roughly spoken: Odo Marquart, Luhmann, Kambartel***, Habermas (!) und Gadamer, verneint man also einen im Marxschen Sinne wissenschaftlich abgesicherten = gesetzmässigen Verlauf der Weltgeschichte, so kann die Europäische Geschichte auch als ein emanzipativer kollektiver Lernprozess gelesen werden, mit dem liberalen und sozialen nationalen Verfassungsstaat als eine seiner (unter Schmerzen geborenen, das schon!) erheblichen Errungenschaften (hier ist ickjloobe Iasiah Berlin der erste glasklare Deuter gegen Marx – und wenn man sich Berlins Sowjetische Familiengeschichte anschaut, so geschah das nicht ganz zufällig).
So gesehen erscheint Menasses Idee, der zukünftige europäische Friede sei nur möglich, nachdem der Nationalstaat auf dem Altar des »Ewigen Friedens« (Kant) geopfert worden ist, als – - – - nun ja: Theoretisch insuffizient und praktisch widerlegt.
*** In Friedrich Kambartels in Poetik und Hermeneutik (?Bd. VI, ickjloobe) vorgetragener Lesart ist vor allem die marxsche Idee eines gesellschaftlichen Kollektivsubjekts theoretisch unhaltbar. – Ich kürze diesen Einwand ab, indem ich konstatiere, dass an die Stelle dieser marxistisch inspirierten Theoreme heutzutage die Sozialpsychologie getreten ist, als Deuterin kollektiver Einstellungen/Präferenzen usw.
Ich bleibe auf diesem – zugegeben: erheblichen – Abstraktinsniveau und kann deshalb noch unterbingen, dass sich Durs Grünbein in der aktuellen ZEIT (unfreiwillig) als Gegenaufklärer outet, indem er den gesamten jahrzehntealten quantitativen sozialpsychologischen Diskurs als menschenfeindlich (im Prinzip neurechts!) meint denunzieren zu sollen (nämlich alle diejenigen, die sich anheischig machen, etwas über die (statistischen) Durschnittseigenschaften von Menschengruppen auszusagen).
Eine Schelmerei von Graden. Wahrscheinlich weiß er gar nicht genau, was er da sagt. Aber er sagt es sehr schön, und geht deshalb als irgendwie menschenfreundlich und tiefsinnig durch, während er in Tat und Wahrheit einen intellektuellen Maschinenstürmer darstellt.
- Nun, der weitsichtige Ror Wolf sprach bereits von unseren irgendwie verstopften Weltverhältnissen – er benannte die Verstopfung in noch drastischerer Manier, aber ich bin nicht Ror Wolf, für mich mögen deshalb diese obigen, wiewohl ein wenig – eheh- gschamigen – - Andeutungen am Ende vielleicht auch genügen.
@ Gregor K.
Schön, in den Brennesseln... Ich denke, wir werden uns da nicht einigen. Ihre Erklärung bezüglich der Fallhöhe, die man riskiert, wenn man sich aufs hohe Roß setzt, fand ich plausibel. Diese Erklärung schließt jene andere der medienhysterischen Überbietungen nicht aus. Der Name Robert Menasse ist mir das erste Mal in der Literaturzeitschrift Wespennest begegnet, abgedruckt war dort eine Seminararbeit Menasses über Fontane. Ich war ebenfalls ein fleißiger Student und staunte nicht schlecht, daß diese angesehene Zeitschrift einen studentischen Text veröffentlicht. Menasses Seminararbeit war mit »nicht genügend« beurteilt worden, und die Veröffentlichung zeigte deutliche Zeichen einer Trotzreaktion. Sie zeugte auch von einem beträchtlichen Maß an Selbstbewußtsein, das ihn wohl seitdem nicht verlassen hat, im Gegenteil. Die akademische Beurteilung durch die Professorin wird wohl mit Menasses damaligem Marxismus zu tun gehabt haben. Wie ich hörte, war er Mitglied einer revolutionären Splittergruppe.
Was mich heute, vierzig (!) Jahre später, an Menasse erstaunt, ist die Inkohärenz seiner Äußerungen. Der Staat, den er verschwinden sieht, das sind offenbar die Nationalstaaten. Auf der anderen Seite lobt er die Brüsseler Bürokratie, also letztlich den EU-Staat, oder seine Keime, über den grünen Klee. Josephinismus und marxistischer Anarchismus, das paßt nicht gut zusammen.
Sie sagen, lieber Gregor K., Menasse habe vermutlich keine großen Visionen, die Ätiologie seiner Irrtümer sei simpler. Ich glaube schon, daß er sich von großen Theorien leiten läßt, daß er diese – zumindest früher einmal – durchdacht hat, würde aber vermuten, daß ihn gerade dieses Festhalten an Theorien, an denen man heute mehr als früher mit guten Gründen und neuen Erfahrungen zweifeln kann, in Widersprüche bringt.
Dieter Kief beruft sich auf Habermas, Luhmann etc., um historizistisches Denken abzuweisen. Ich möchte hinzufügen: In »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« zog Karl Popper schon am Ende des 2. Weltkriegs Schlußfolgerungen aus den stattgefundenen Katastrophen, auf m. E. sehr überzeugende Weise, zur gleichen Zeit wie Horkheimer/Adorno, aber in ganz anderem Stil, in eine andere Richtung weisend. Im Prinzipiellen, glaube ich, kann man Popper immer noch folgen, auch mit Blick auf den europäischen Einigungsprozess und seine Rückschläge.
Ich muss mich missverständlich ausgedrückt haben: Natürlich lässt sich Menasse von großen Visionen leiten, die von mir aus marxistisch oder sonstwie umkränzt sind. Das zweifle ich nicht an. Aber daran liegt eben das Problem. Politische »Visionen« genügen nicht. Man muss nicht den Helmut-Schmidt-Satz im Munde führen, der trotzig-ruppig einmal sinngemäss sagte, dass, wer Visionen hätte, zum Arzt gehen soll. Der tiefe Sinn in diesem Bon- oder von mir aus Malmot liegt darin, dass politische Visionäre bei der Ausarbeitung ihrer Visionen in den Totalitarismus abdrifteten und damit ihre Idee zumeist pervertierten.
Natürlich ist eine »Vision« der Vereinigten Staaten von Europa per se nicht ehrenrührig. Aber man sollte dann schon ein bisschen mehr Ideenreichtum in die adäquate Umsetzung dieses Ziels investieren. Will sagen: Wie soll ein solcher Schritt realpolitisch gedacht werden? Wie lautet der »Fahrplan« Menasses dorthin? Man kann z. B. die Ideen Macrons kritisieren, aber immerhin entwirft er so etwas wie einen Plan zu einer stärkeren Verknüpfung der Staaten (wobei er natürlich gleichzeitig die einzigartige Stellung Frankreichs betont). Diese Form der politischen »Agenda«-Bildung gibt es bei Menasse meines Wissens nicht. Nationalstaaten abschaffen und ein bisschen Josephinismus – das ist arg dürftig, wenn nicht gar kitschverdächtig.
Insofern frage ich mich, was Menasse bei einer bestimmten Klientel so interessant macht. Es ist – provokativ gesagt – das dezidiert Unpolitsche seines Traumbildes der Vereinigten Staaten von Europa. Es ist für viele derart attraktiv, dass sie darüber ihren realpolitischen Verstand verloren haben.
Ich sehe bei Menasse nichts was links, »altlink« oder marxistisch sein könnte, aber viel was als linksliberal, kulturalistisch oder Identitätsdenken zu bezeichnen wäre (vielleicht war er das einmal). Marx hat nicht nur historisch argumentiert, die Logik des Geldes widersprach für ihn immer der sinnlichen Natur des Menschen, genauso wie die Warenerzeugung, bzw. die Produktionsabläufe dem Menschen die Möglichkeit nahmen (und nehmen) selbst in seinem Tun aufzuscheinen (er kann ihm sozusagen keine Signatur geben und entfremdet ihm darüber). Die logische Folge daraus war (und ist), dass der Kapitalismus verhindert, dass wir zur (vollen) Entfaltung unserer selbst gelangen können (man muss also nicht zwangsläufig historisch argumentieren). Daraus müsste eigentlich eine gewisse Sympathie für die Situation der breiten Bevölkerung wachsen, trotz (vielleicht sogar wegen) ihrer groben Affekte, ihrer Häme, usw., weil sie dafür nicht alleine Schuld tragen, mehr noch, weil sie – wenn wir Marx weiter folgen – das Fundament für den Wohlstand der oberen Schichten liefern. Aus linker Sicht sichert die EU die vier kapitalistischen Freiheiten, das kapitalistische Prinzip wird auf höherer Ebene als eine Art »gemeinsames Martkinteresse« verfolgt. Mir geht es nicht darum, ob man das nun teilt oder nicht, aber Menasse versucht dem eine moralische Grundlage, entgegen der faktischen (historischen), zu geben. Er versucht das kapitalistische System zu rechtfertigen, er stellt sich vor und neben die Führungselite, also die Profiteure. Er handelt wie viele aus dem linksliberalen Spektrum: Er verachtete die sogenannten kleinen Leute, weiß sich (meist auf bequemer Position im System) auf der richtigen Seite und schafft durch sein moralisches Denken eine Gruppenlogik (die bösen sind rechts, populistisch, nationalistisch). Die (moralisch) legitimierte Gruppe hat damit recht, sie steht über einem Denken, das diese überwindet, dem sozialen würde der Linke sagen, für den nicht die Gruppe, sondern die soziale Bedürftigkeit entscheidend war oder ist. Das spielt den Mächtigen in die Hände, es ist vormodern, unkritisch und bequem, das ist Menasse vorzuhalten. — Und wahrscheinlich, würde der Linke sagen, zeugt ein solches Verhalten auch von Entfremdung.
@ Leopold Federmair und Gregor Keuschnig
Ich finde am Klarsten drückt es Enzensberger aus: Die EU wird dysfunktional, gerade weil es ihr an demokratischer Kontrolle und daher demokratischem/kritschem Feedback fehlt. Menasse gehört zur Gruppe jener, die früher gegen das Volk waren, weil es nicht revolutionär war und heute, weil es das “Friedensprojekt EU” nicht mehr so mag. Er sprach früher als Mitlglied einer sozialistischen Avantgarde und heute als Herold der EU-Funktionselite gegen die “Leute” (Peter Glotz*** u n d Thilo Sarrazin).
*** cf. Von Heimat zu Heimat ‑Erinnerungen eines Grenzgängers, S. 97 f. und S. 110
Das warme Plätzchen hält die Funktionselite ihrem Herold Menasse gerne bereit. Und der weiß das, und – als kapitalloser Kleinunternehmer, der er ist, genießt er das auch.
Klar kann man das oben Gesagte auch anhand von Popper und Hayek (und Dahrendorf und I. Berlin) durchdeklinieren, Leopold Federmair. Helmut Schmidt sprach häufig und mit großer Bewunderung von Karl Popper – auch Thilo Sarrazin tut das...
@ Gregor Keuschnig: An Helmut Schmidt erstaunt seine sehr klare Ablehnung der offenen Grenzen und des unregulierten muslimischen Zuzugs. Schmidt sah, dass dieser unregulierte Zuzug auf Kosten der hiesigen Arbeitnehmerschaft gehen würde, und Hebert Wehner meinte gar, dass der unregulierte Zuzug die SPD einer »Zerreißprobe« aussetzen würde – prophetische Worte, wie ich finde.
Schmidt war in der Tat Realpolitiker. Menasse setzt sich über derlei realpolitische Einwände gegen die EU-Politik der offenen Grenzen und des unregulierten Zuzugs locker weg. – Da mögen auch biographische Reflexe eine Rolle spielen.
Aber auch die müssten angesichts des offenen Antisemitismus, der mit dem unregulierten Zuzug hier Einzug hält, längst einer kritischen Prüfung weichen (cf. die Einwände Elisabeth Badinters und Alain Finkilekrauts (usw.) gegen den weiteren unregulierten Zuzugwegen drastisch steigendem (muslimischen) Antisemitismus).
Dass Menasse diesen – eigentlich völlig auf der Hand liegenden argumentativen Zug nicht macht, hat freilich ebenfalls seine Logik: Gerade wegen seiner jüdischen Herkunft ist Menasse in der derzeitigen Lage ein umso wertvollerer Apologet des Status quo: Genau dass mit dem von der Funktionselite für unverzichtbar gehaltenen weiteren unregulierten Zuzug der Antisemitismus steigt, lässt auch den Marktwert Robert Menasses als eines unverdrossenen Verteidigers dieses Zuzugs steigen. Nicht zuletzt weil er Jude ist. Auch das macht ihn zu einem unverdächtigen Befürworter in zunehmend ungemütlicher werdender Lage. Und er wird in dieser Rolle umso wertvoller und unverzichtbarer, je ungemütlicher die Lage wird (je mehr Antisemitismus der unregulierte Zuzug nach Europa bringt).
Und nein – ich sage damit nicht, dass alle Beteiligten korrupt wären. Aber ich folge Thilo Sarrazins demnächst auf der Achse des Guten erscheinender Analyse auch des Casus Menasse, dass es für die Politik und für das klare Urteil in politisch komplexen Lagen nicht förderlich ist, wenn man sich zu sehr auf die Moral und auf das historisch informierte Gefühl stützt.
Ich kürze ab: Das Dritte Reich ist vorbeit. Wir sollten verstehen, dass Geschichte sich niemals wiederholt (cf. – (sorry, aber das ist ein grandioser Aufsatz) – - – »Vom Blätterteig der Zeit. Eine Meditation übe den Anchronismus«, 1996, Hans Magnus Enzensberger, in »Zickzack. Aufsätze«. Darin der die gesamte Problematik skizzierende Satz bereits im Motto dieses fulminanten Texts: »Nicht bloß der Wind der Zufälle bewegt mich in seiner Richtung (...) ich bewege mich noch obendrein (...) und wer nur genu auf den Ausgangspunkt achtet, der wird sich schwerlich zweimal in völlig derselben Lage wiederfinden.«
PS
Man könnte auch so sagen: Die Geschichte wiederholt sich nicht. Jedenfalls nie auf völlig gleiche Weise. (Und derzeit schon gar nicht (das entspricht übrigens so ca. der Art und Weise, in der Marx im Achtzehnten Brumaire über die französische Geschichte geurteilt hat (nicht ausgeschlossen, dass Marx dabei den nämlichen Leitgedanken folgte wie der nicht umonst für solcherart – - – - Witz (=Geistesgegenwart) – - – - sehr sehr zu Recht gerühmte Enzensberger).
PPS
Jetzt könnte man nachgucken, was Isaiah Berlin und Karl Popper von Michel de Montaigne gehalten haben.
Es ist, glaube ich, nicht fruchtbar, Menasses jüdische Herkunft in diesen Kontext zu stellen. Der »importierte Antisemitismus« spielt hier keine wesentliche Rolle.
Interessanter finde ich die Einlassungen @metepsilonema, in denen die Anhänger der Vereinigten Staaten von Europa (VSE) mehr oder weniger ins Spektrum der Kapitalismusbewahrer subsumiert werden und zwischen »links« und »linksliberal« differenziert wird.
»Links« oder »altlinks« ist bei Menasse zweifellos der Internationalismus, der sich in diesem Ideal der VSE zeigt. Das war es dann aber schon. Tatsächlich scheint er sich über den Kapitalismus und das, was die jetzige EU daraus macht (Stichwort: Handelspolitik), wenig bis gar keine Gedanken zu machen. Es gibt bei ihm kein politisch strukturiertes Denken; der möchte ein Haus bauen und fängt mit dem Dach an. Die z. T. wütende Ablehnung ist vorprogrammiert und wird dem »Projekt« auf der Habenseite notiert: Viel Feind, viel Ehr’. Von der EU-Adepten wird er dabei wie ein Zirkuspferd inszeniert.
In der SZ las ich in Bezug auf die Zitatverfälschungen, Menasse habe im Übereifer »für die gute Sache« agiert. Demnach wäre die Vision der VSE für den Journalisten eine gute Sache. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass all diejenigen, die daran zweifeln, einer »bösen Sache« dienen.
Der Knacks in Deutschland in Bezug auf die EU (bzw. ihre Vorläufer) kann sich an zwei Daten festmachen. Zum einen an der Einführung des Euro 2002. Und zum anderen mit Beginn der Griechenlandkrise 2009/10.
Deutschland hatte nach 1945 aus sehr nachvollziehbaren Gründen fast vollständig auf großartige nationale Symbolik verzichtet. Der Ersatzmythos war die starke D‑Mark. 1973 schaffte es Schmidt in Kooperation mit Frankreich und den Benelux-Staaten in einer von nun an konzertierten Aktion den Wechselkurs zum US-Dollar stabil zu halten. Mit der Zeit wurde die starke DM aber mehr und mehr zu Belastung in Europa. Daher der Deal zwischen Mitterrand und Kohl, die Wiedervereinigung mit dem Euro zu verquicken. Das Versprechen war: Der Euro wird genauso stark wie die DM; die Kaufkraft leidet nicht. Aber der Euro war ein politisches Projekt, kein ökonomisches. Vorbehalte wurden weggewischt. Das ging bis 2009 ganz gut. Die Griechenlandkrise hat dann die Fragilität und zum Teil auch Absurdität dieses Konstrukts Euro offenbart.
Bis dahin war die Meinung der Deutschen der EU gegenüber bis in die 2000er Jahre hinein eher positiv-gleichgültig. Man nahm die Vorteile gerne an (Reise- und Handelsfreiheiten) und nickte die Sonntagsreden schulterzuckend ab. Einige EU-Verordnungen zogen Spott auf sich, anderes (das permanente Umziehen des EU-Parlaments etwa) wurde kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen. Erst als die EU mehr und mehr in den Tagesablauf eindrang, begann die Skepsis. Den Euro habe ich schon erwähnt. Andere Sachen kamen hinzu. Ich will das nicht bedeutender machen als es ist, aber dieses Glühbirnenverbot wurde schon als ziemlich bescheuert empfunden, zumal die Ersatzlampen mit dem giftigen Quecksilber befüllt waren (das hatte man ja gerade aus Fieberthermometern verbannt).
Am Arbeitsplatz lernte man die geballte EU-Kompetenz stärker kennen. Ab Januar 1993 wurden die Umsatzsteueridentifikationsnummern eingeführt. Jeder EU-Geschäftsvorfall musste nun über diese Kennziffer abgewickelt werden. Den bürokratischen Aufwand kann man gar nicht beschreiben. Für die Art Handelsgeschäfte, die in den Unternehmen, in denen ich arbeitete, anfielen, erwiesen sie sich als untauglich. Das kam einfach nicht vor. Beispielsweise wenn eine deutsche Firma Waren in Belgien einlagert und an einen französischen Kunden verkauft. Wo fällt die Umsatzsteuer an? Welche Nummer ist zu verwenden? Man fragte drei Leute und bekam drei Meinungen. Gelöst wurden solche Problematiken, in dem sich Firmen selber Rechnungen auf ihre unterschiedlichen Identifikaionsnummern geschrieben haben. – Als dann in den 2010er Jahren die neue Chemikalienverordnung der EU zu greifen begann (die letzte Stufe ist im Mai 2018 in Kraft getreten), war es klar, dass mein Arbeitsplatz à la longue wegfallen wird. Der finanzielle Aufwand sich an neuen Versuchen ob der Gefährlichkeit von Chemikalien zu beteiligen, war einfach zu hoch. Die Produzenten waren dankbar darum – reihenweise passten die ungeliebten Importeure. Mit Lebensmittelchemikalien und Arzneimitteln handelte ich leider nicht – sie waren nämlich absurderweise ausgenommen von der Verordnung.
Meine These: Die EU hat mit dem Personal und den Institutionen, die es im Moment gibt, keine Chance, sich weiterzuentwickeln. Denn in der Tat bestimmen ja die Nationalstaaten weiterhin die Richtlinien; das EU-Parlament ist eine Art »Störenfried«, wenn es zu bunt wird. Den Spagat zwischen Bewahren des Status quo und revolutionärem EU-Parlamentarismus kann man auf Dauer nicht durchhalten. Jetzt rächt sich die übereilte Ausdehnung. Ich erinnere mich an Joschka Fischer, der noch kurz vor Beginn seiner Außenministertätigkeit Vertiefung vor Ausdehnung anmahnte. Er hätte wissen müssen, dass da der Zug längst abgefahren war: Die Verträge mit den osteuropäischen Staaten waren geschlossen; die Termine fix.
Hinzu kommt, dass die EU offensichtlich nicht so attraktiv für »Regionen« wie Katalonien oder Schottland ist. Hier bilden sich Sezessionsbewegungen, die urplötzlich auch von linker Seite unterstützt werden, was sehr merkwürdig ist. Wo ist da der Internationalismus? Menasse nimmt das offensichtlich nicht zur Kenntnis. Immerhin macht man den Fehler den 1990er Jahre nicht. Damals hat man voreilig die Zerschlagung Jugoslawiens begleitet.
@ Gregor Keuschnig
Der importierte Antisemitismus ist aus Ihrer Sicht vielleicht geringer als aus der von Michael Wolffsohn oder Elisabeth Bainter oder Alain Finkielkraut, die allesamt sagen, der spiele eine enorme Rolle. Allein die vielen jüdischen Schulen, die nicht mehr ohne Polizeischutz auskommen – auch hier bei uns nicht, übrigens.
Zu glauben, der Fall Menasse sei hinreichend zu vertsehen ohne Menasses diesbezügliche Rolle scheint mir nicht plausibel.
Allein aus Paris, sagt Elisabeth Badinter, seien – in erster Linie aufgrund des importierten islamischen Antismitismus, in den letzten Jahren 50 000 Juden weggezogen. In meinen Augen keine Kleinigkeit.
Das Hauptproblem der EU sind nicht die Glühbirnen und nicht die Gurken oder die Regulierung der Chemie (in meinen Augen lauter lösbare bürokratische Standard-Situationen), sondern der unregulierte Zuzug und die dubiosen Riesen-Eingriffe in das Finanzsystem (z. B. die unglaubliche Geldmengenausweitung via allem möglichen).
Das aber lässt Menasse alles schön auf sich beruhen und trommelt von früh bis spat für diese Art ineffektiver und demokratisch unterlegitimierter Elitenherrschaft im Namen der Verhinderung der Wiederauferstehung Hitlers.
Mir leuchtet daher Enzensberger mit seiner EU-Rückba-Forderung sehr ein.
Der Soiologe em. Dieter Prokopp setzt heute auf der Achse des Guten auf einen EU-Grenzschutz, weil er meint, dass sich a) der ungeregelte Zuzug nicht länger halten lasse, und b) dass sich das EU-Grenzregime nicht mehr umbauen lasse.
Er ignoriert Orban und die Polen und Macron und Italy und die Dänen und die Schweden – er ignoriert alle, die sich in der Grenzfrage derzeit einfach von der Zentrale absetzen – – - von Norwegen und Großbritannien ganz zu schweigen.
Es ging mir bei der Schilderung der EU-Bürokratie eben nicht um die großen theoretischen Abläufe, sondern um die Praxis, wie die EU in die Abläufe von Unternehmen eingreift. Davon haben Sie, Dieter Kief offensichtlich keine Ahnung – was nicht schlimm ist, aber dann sollte man den Mund halten.
Natürlich werden wir mit der EZB-Politik des Herrn Draghi noch viele Jahre zu tun haben – Ende durchaus offen. Es kann zu einem »Knall« kommen, der ja schon auf diversen Foren prognostiziert wird – oder eben nicht. Wir werden sehen.
Und noch einmal: Wir diskutieren nicht über »importierten Antisemitismus«. Das ist kein Stammtisch hier. Danke für Berücksichtigung.
Ich meine, ich könne diese EU-Abläufe in ihrer Bedeung in etwa einschätzen und äußerte diese meine Einschätzung, das ist alles. Dass Sie persönlich davon in Sachen Chemie in Mitleidenschaft gezogen wurden, tut mir leid.
Die gigantische Geldmengenausweitung der EZB, die Haftungsübernahme für marodierende Banken, die Target-Salden, die Finanzierung konsumptiver Haushaltsausgaben von Migliedsstaaaten wie Griechenland und Italien (demnächst Frankreich?) im großen Stil – das ist die eine Seite. Und auf der anderen Seite haben wir die Behauptung, es gehe nicht ohne euro, während gleichzeitig Norwegen, Schweden, die briten, die Schweizer tagtäglich das Gegenteil beweisen.
Greor Keuschnig ich muss lachen: Ein Stammtisch, bestzt mit Michael Wolffsohn, Elisabeth Badinter, et tutti quanti (Henryk M. Broder, Alain Finkielkraut und Pascal Bruckner...) – was um alles in der Welt wäre dagegen zu sagen? ‑Außer, dass da vielleicht Dinge gesagt werden, die Ihnen nicht passen?
Von einem bevorstehenden Euro-Crash habe ich nichts gesagt. Werde ich auch nichts sagen. In der Ruhe liegt die Kraft.