Noch ein Preis­ge­krön­ter

Al­les wie­der im Lot – so der Te­nor der Pres­se­er­klä­rung des Lan­des Rhein­land Pfalz. Ro­bert Men­as­se be­kommt trotz ei­ni­ger Ein­wän­de die Zuck­may­er-Me­dail­le, die, wie man le­sen kann, für »Ver­dien­ste um die deut­sche Spra­che und um das künst­le­ri­sche Wort« ver­ge­ben wird. Da Li­te­ra­tur­prei­se im­mer auch Ge­sin­nungs­prei­se sind, hat­te man ei­gent­lich nichts an­de­res er­war­tet. Das biss­chen Krei­de, dass Men­as­se es­sen muss­te, spielt da kei­ne Rol­le.

Men­as­se war in die (li­te­ra­tur­be­trieb­li­chen) Schlag­zei­len ge­ra­ten, weil er Zi­ta­te des er­sten Vor­sit­zen­den der Kom­mis­si­on der Eu­ro­päi­schen Wirt­schafts­ge­mein­schaft, Wal­ter Hall­stein, ge­fälscht und ihm ei­ne Re­de in Ausch­witz an­ge­dich­tet hat­te. Der Knack­punkt war, das Men­as­ses Fäl­schun­gen nicht nur in sei­nen Ro­ma­nen ge­tä­tigt wur­den, son­dern auch in den öf­fent­li­chen Re­den und Es­says des Au­tors auf­tauch­ten. Sie dien­ten als Schmuck für sei­ne po­li­ti­sche Idee des ent­na­tio­na­li­sier­ten Ein­heits­staats Eu­ro­pa. Men­as­se sieht im Na­tio­nal­staat den Keim für die Ka­ta­stro­phen des 20. Jahr­hun­derts und glaubt, dass ei­ne Art von Ver­ei­nig­te Staa­ten von Eu­ro­pa den Dä­mon für im­mer ban­nen könn­te. Wie ge­nau die­ser Ein­heits­staat aus­se­hen könn­te und mit wel­chem Per­so­nal bleibt dif­fus. Mit sol­chen Ne­ben­säch­lich­kei­ten be­schäf­tigt sich der Vi­sio­när eher nicht.

Men­as­se galt (und gilt) als Mu­ster­bei­spiel ei­nes en­ga­gier­ten Au­tors. Ei­ne Art öster­rei­chi­scher Grass, was die EU an­geht. Es gibt Leu­te, auf de­ren li­te­ra­ri­sches Ur­teil ich viel ge­be, die ihn für ei­nen gu­ten Schrift­stel­ler hal­ten. Ich kann das nicht be­ur­tei­len – er ist mir ir­gend­wie nie be­geg­net. »Die Haupt­stadt« ha­be ich auch nicht ge­le­sen. Ei­ni­ge po­li­ti­sche State­ments Men­as­ses schon.

Die Ge­schich­te die­ser Fäl­schun­gen kann man bei Ge­rald Krieg­ho­fer nach­schla­gen, der sich mit fal­schen Zi­ta­ten akri­bisch be­schäf­tigt. An­zei­chen gab es be­reits 2017 – hö­ren woll­te das nie­mand. Erst als Ans­gar Graw kurz vor Weih­nach­ten ei­ne Stel­lung­nah­me von Men­as­se er­hielt, be­kam die Sa­che ei­ne neue Dy­na­mik.

Es rei­che, so die Recht­fer­ti­gung Men­as­ses, dass Hall­stein die Aus­sa­gen ge­tä­tigt ha­ben könn­te. Sie sei­en nicht so ge­fal­len, »aber es ist den­noch kor­rekt, und wird auch durch an­de­re Aus­sa­gen von Hall­stein in­halt­lich ge­stützt. Was küm­mert mich das ‘Wört­li­che’, wenn es mir um den Sinn geht«, so der Wor­te­schmied Men­as­se.

Die Em­pö­rung des Feuil­le­tons fiel ver­hält­nis­mä­ssig mil­de aus. Pa­trick Bah­ners konn­te sich nicht ent­schei­den, ob er es »Lü­ge« oder nur »Bluff« nen­nen soll­te (bei­des wird je ein Mal ver­wandt). Hu­bert Win­kels ei­er­te im Ge­spräch her­um und sag­te, Men­as­se ha­be die Zi­ta­te »qua­si er­fun­den«. Was sind »quasi«-Erfindungen? (Vom irr­lich­tern­den Aug­stein, der die Auf­re­gung um das fal­sche Zi­tat nicht ver­steht, ein­mal ab­ge­se­hen; der zählt nicht.)

Den in­ter­es­san­te­sten Text zur Sa­che gab es auf 54books. Jo­han­nes Fran­zen re­fe­riert zu­nächst die Cau­sa um sich dann der häu­fig an­ge­führ­ten Tren­nung zwi­schen Ro­man und Re­de zu wid­men. Die mei­sten Prot­ago­ni­sten kon­ze­dier­ten Men­as­se sehr wohl die dich­te­ri­sche Frei­heit ei­ner hi­sto­ri­schen Per­sön­lich­keit nicht ge­spro­che­ne Aus­sa­gen in den Mund zu le­gen. Die Kri­tik kon­zen­trier­te sich auf Men­as­ses Re­den und Es­say­istik, in der die­ses Ver­fah­ren über­nom­men wur­de.

Fran­zen stellt nun fest, dass es auch im Ro­man Gren­zen ge­be. Denn in der »fik­ti­ven Welt des Ro­mans« stell­ten »er­fun­de­ne Zi­ta­te, die ei­ner rea­len Per­son in den Mund ge­legt wer­den, ein Pro­blem dar. Auch im Mo­dus des Fik­tio­na­len kann man rea­le Per­so­nen nicht nach Be­lie­ben ‘ge­brau­chen’ oder brauch­ba­re Din­ge sa­gen ‘las­sen’ «. Die The­se ist et­was über­ra­schend, weil sie nicht nur den Prin­zi­pi­en der li­te­ra­ri­schen Mo­der­ne wi­der­spricht. Hat denn Ri­chard III. das ge­spro­chen, was ihm Shake­speare sa­gen ließ? Wie sieht es mit Wal­len­stein oder Dan­ton aus? Wann wä­re ein Ver­fah­ren zu ver­wer­fen und wann nicht?

Fran­zen ar­gu­men­tiert un­ter an­de­rem mit Tho­mas Manns »Lot­te in Wei­mar«. Hier ha­be »der Au­tor den al­tern­den Goe­the ei­nen in­ne­ren Mo­no­log hal­ten [las­sen], der sich als Kom­men­tar ge­gen­wär­ti­ger Er­eig­nis­se« des Jah­res 1940 er­wei­sen konn­te. »Im Jahr 1946, wäh­rend der Nürn­ber­ger Pro­zes­se, zi­tier­te Hart­ley Shaw­cross, der Haupt­an­klä­ger des bri­ti­schen Kö­nig­reichs, un­wis­sent­lich den fik­ti­ven Goe­the Tho­mas Manns mit ei­ner Ein­schät­zung über die Deut­schen.« Als der Falsch­ge­brauch (der, ne­ben­bei ge­sagt, nicht Tho­mas Mann an­ge­la­stet wer­den kann) her­aus­kommt, ver­tei­dig­te Mann sein Wort da­hin­ge­hend, dass es Goe­the ge­sagt ha­ben könn­te. Das sei die glei­che For­mu­lie­rung wie sie Men­as­se ver­wen­de. Al­ler­dings – und das ver­gisst Fran­zen – ver­wen­det Men­as­se die­se Ver­tei­di­gung nicht nur für sei­nen Ro­man, son­dern auch für sei­ne po­li­ti­schen Äu­ße­run­gen in der »rea­len Welt«.

Fast gra­vie­ren­der fin­det Fran­zen die Fäl­schung der Re­de Hall­steins in Ausch­witz. Mit Ausch­witz spie­le man nicht, so zi­tiert er sinn­ge­mäss auch Bah­ners. Hier ha­be, so wird sug­ge­riert, Men­as­se ei­ne Art Gren­ze über­schrit­ten. Zwar fol­ge dar­aus »kein ab­so­lu­tes Fik­ti­ons­ver­bot, aber doch die For­de­rung nach ei­nem re­spekt­vol­len und re­flek­tier­ten Um­gang, der über das frei­mü­ti­ge und fre­che Spiel ei­ner dich­te­ri­schen Ent­pflich­tung hin­aus­geht.«

In der Tat wird man – Bah­ners spricht es kurz an – an die er­fun­de­ne Bio­gra­phie des Bin­ja­min Wil­ko­mir­ski er­in­nert, der sich sel­ber als Ho­lo­caust-Über­le­ben­der in­sze­nier­te und Fik­ti­on und Rea­li­tät nicht mehr un­ter­schei­den konn­te. Vie­les spricht al­ler­dings da­für, dass die an­schlie­ßen­de, wuch­ti­ge Em­pö­rung auch ein Aus­druck der Krän­kung de­rer war, die auf die Täu­schung Wil­ko­mir­skis her­ein­ge­fal­len wa­ren – lob­te man doch zu Be­ginn die­ses Buch in den höch­sten Tö­nen.

Wer be­stimmt die­sen »re­spekt­vol­len und re­flek­tier­ten Um­gang«? Wer hat die­sen denn da­mals bei Men­as­se ein­ge­for­dert bzw. über­prüft? Und wi­der­spricht die­se The­se nicht nur den Prin­zi­pi­en der li­te­ra­ri­schen Mo­der­ne? Hat denn Ri­chard III. das ge­spro­chen, was ihm Shake­speare sa­gen ließ? Wie sieht es mit Wal­len­stein oder Dan­ton aus? Schil­ler und Büch­ner als Ge­schichts­ver­bie­ger? Wohl kaum. Aber wann wä­re ein Ver­fah­ren zu ver­wer­fen und wann nicht?

Und fei­ert nicht längst das »Do­ku-Dra­ma« bzw. die Do­ku-Fik­ti­on so­wohl in TV-Se­ri­en wie auch in Gen­re-Ro­ma­nen ei­ne Re­nais­sance? In­zwi­schen wer­den mas­sen­haft hi­sto­ri­sche Per­sön­lich­kei­ten – aus wel­chen Grün­den auch im­mer – zu Ro­man­fi­gu­ren, de­nen na­tur­ge­mäß Aus­sa­gen »an­ge­dich­tet« wer­den, für die es kei­ner­lei Be­leg gibt, ja: gar kei­nen Be­leg ge­ben kann. Oder fik­ti­ve Per­so­nen in­ter­agie­ren wie selbst­ver­ständ­lich mit ih­nen. Dies geht so­gar so weit, dass schein­bar hi­sto­ri­sche Er­eig­nis­se er­fun­den wer­den (nur ein Bei­spiel sei an­ge­führt: der von ei­ner ein­zi­gen Per­son ab­ge­wen­de­te Staatstreich in der Wei­ma­rer Re­pu­blik – man se­he sich »Ber­lin Ba­by­lon« an). Ir­gend­wel­che Em­pö­run­gen hier­über? Nein.

Denn, und hier­auf weist Fran­zen hin: Auf das Pu­bli­kum kommt es an. Es muss un­ter­schei­den kön­nen, was Fik­ti­on und was Rea­li­tät ist bzw. war. Das ist auch ei­ne Bil­dungs­fra­ge. Aber nicht nur, denn bei Men­as­se sei man ge­neigt, die »sym­pa­thi­sche po­li­ti­sche Il­lu­si­on« (Fran­zen) zu gou­tie­ren. So stellt sich auch beim li­te­ra­ri­schen ge­bil­de­ten und in­ter­es­sier­ten Re­zi­pi­en­ten die Fra­ge, ob bzw. wie sie be­reit sind, zwi­schen Er­fin­dung und Rea­li­tät zu un­ter­schei­den. Dies kol­li­diert mit der im­mer mehr fort­schrei­ten­den Ver­mi­schung zwi­schen Au­tor und Werk. Wenn auf der ei­nen Sei­te ei­nem (wo­mög­lich po­li­tisch kon­no­tier­ten) Na­tu­ra­lis­mus im­mer mehr Be­deu­tung zu­kommt, ver­schwim­men die Gren­zen. Dies hat auch mit ei­ner Li­te­ra­tur­kri­tik zu tun, die sich im­mer mehr als Pro­mo­ter des Buch­han­dels sieht statt auf äs­the­ti­sche For­men und li­te­ra­ri­sche Spra­che hin­zu­wei­sen.

Men­as­se legt der­wei­len nach. In ei­nem an Frech­heit kaum zu über­bie­ten­den Schel­men­stück möch­te er sich ge­gen Kri­tik da­hin­ge­hend im­mu­ni­sie­ren, weil die­se den »Rechts­extre­men« ar­gu­men­ta­ti­ven Stoff bö­te. Sei­ne po­li­ti­sche Sicht der Din­ge wird da­mit zum Dog­ma er­klärt – un­ab­hän­gig vom Wahr­heits­ge­halt. Nur ein paar »höh­ni­sche« Jour­na­li­sten und Blog­ger stö­ren die Ru­he. Und Alei­da Ass­mann, die auf den Un­sinn der Ver­mi­schung zwi­schen Na­ti­on und Na­tio­na­lis­mus hin­weist. Viel­leicht bleibt we­nig­stens sie ver­schont vom Eti­kett »rechts«.

Die Kon­se­quenz aus Men­as­ses Über­le­gun­gen wä­re, dass all das, was even­tu­ell po­li­tisch ra­di­ka­len Kräf­ten als ar­gu­men­ta­ti­ve Mu­ni­ti­on im Dis­kurs die­nen könn­te, ver­schwie­gen wer­den muss. Man kommt nicht um­hin, so et­was to­ta­li­tär zu nen­nen. Gleich­zei­tig ist es von ei­ner in­tel­lek­tu­el­len Arm­se­lig­keit, die schockiert. Aber im­mer­hin: Noch hat sich Suhr­kamp nicht von ihm di­stan­ziert.

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  1. Die Po­li­to­lo­gin Ul­ri­ke Gué­rot steht jetzt u.a. blöd da, weil sie zu­sam­men mit Men­as­se als Co-Au­torin ei­nes Auf­sat­zes fir­miert, in dem das von Men­as­se ge­fälsch­te Hall­stein-Zi­tat steht.

    Ich se­he in die­ser Fäl­schung ei­ne post­hu­me Ruf­schä­di­gung Wal­ter Hall­steins. Da­zu kommt ei­ne be­son­de­re Bos­haf­tig­keit, weil Men­as­ses Zi­tat­fäl­schung den In­ten­tio­nen Wal­ter Hall­steins voll­kom­men wi­der­spricht. Ein Au­tor hat ein An­recht auf au­the­ti­sche post­hu­me Wir­kung, und die­ses An­recht hat Men­as­se mit sei­nem ver­meint­li­chen Zi­tat emp­find­lich ge­stört. Dar­auf hat Hein­rich-Au­gust Wink­ler als er­ster, so­viel ich weiß, hin­ge­wie­sen. Dass Men­as­se, wie Sie ganz rich­tig her­vor­he­ben, meint, das zäh­le al­les nicht, weil er so gu­te Ab­sich­ten ver­fol­ge, passt ins zeit­ge­nös­si­sche Mu­ster des all­ge­gen­wär­ti­gen Nar­ziss­mus; und die­ses Selbst­an­be­tungs-Mu­ster ist gleich­zei­tig ein lei­der häu­fi­ges Zei­chen des lin­ken Gut­men­schen­tums.

    Es ist ver­füh­re­risch, die Welt in »us and them« ( – : – WIR=gut und DIE=schlecht (Pink Floyd)) ein­zu­tei­len, weil – als ei­ne der sü­ße­ste Gra­ti­fi­ka­tio­nen über­haupt – mit ganz we­ni­gen Win­kel­zü­gen die ei­ge­ne Gran­dio­si­tät her­aus­ge­stellt und im Licht der Öf­fent­lich­keit so­fort ge­nos­sen wer­den kann. Ein ganz sü­ßes Gift. Aber hoch­po­tent.

  2. Die Fra­ge wird sein, ob Frau Gué­rot auch wei­ter­hin Mit­dis­ku­tan­tin in öf­fent­lich-recht­li­chen Po­li­tik­talk­shows zum The­ma »EU« sein wird. Sie zeigt sich ja reu­mü­tig. Mir wär’s recht, denn im­mer wenn sie auf­taucht, schal­te ich um. Was ei­nen schö­nen Zeit­ge­winn bringt.

  3. Ul­ri­ke Gué­rot ist ei­ne bun­des­re­pu­bli­ka­ni­sche In­sti­tu­ti­on und wird wei­ter­hin zu­ver­läs­sig Grün­de da­für lie­fern um­zu­schal­ten. Kaum je­mand wird in vier Wo­chen mehr von ih­rem Faux­pas spre­chen, und wenn, nicht sehr vor­wurfs­voll.

  4. Was an dem Men­as­se­schen Text frech und ein Schel­men­stück sein soll, kann ich beim be­sten Wil­len nicht er­ken­nen. In­kri­mi­niert wur­den vor al­lem ein ein­zel­nes Zi­tat und ein be­stimm­tes li­te­ra­ri­sches Ver­fah­ren (wo­bei die Li­te­r­a­ri­zi­tät von den em­pör­ten Kom­men­ta­to­ren meist un­ter­schla­gen wur­de).
    Das »Zi­tat« ist, wie Men­as­se nun selbst er­klärt, ei­ne Zu­sam­men­fas­sung der Po­si­tio­nen des frü­he­ren EWG-Kom­mis­si­ons­vor­sit­zen­den Wal­ter Hall­stein, es lau­tet: »Das Ziel des eu­ro­päi­schen Ei­ni­gungs­pro­zes­ses ist die Über­win­dung der Na­tio­nal­staa­ten.« Die Er­läu­te­run­gen Men­as­ses, wie es zu die­sem »Zi­tat« kam, sind durch­aus nach­voll­zieh­bar. Mag sein, daß er in der (ex­tra­li­te­ra­ri­schen) Dar­stel­lung et­was schlam­pig war, aber von Fäl­schung kann da kei­nes­falls die Re­de sein.
    Das be­stimm­te Ver­fah­ren be­stand dar­in, ei­ne hi­sto­ri­sche Re­de Hall­steins in der Fik­ti­on des Ro­mans »Die Haupt­stadt« nach Ausch­witz zu trans­po­nie­ren. Die Äu­ße­run­gen Fran­zens dar­über, was ein Au­tor im Ro­man nun »darf« und was nicht, hal­te ich für Ge­schwa­fel, das an li­te­ra­ri­schen Rea­li­tä­ten vor­bei­zielt. Selbst­ver­ständ­lich kann man der Ju­den­ver­nich­tung auch spie­le­risch, mit Hu­mor etc. be­geg­nen, und das wur­de auch des öf­te­ren ge­tan (La vi­ta è bel­la, und auch bei Ker­té­sz fin­det man et­was da­von). »Nach Ausch­witz ein Ge­dicht zu schrei­ben ist bar­ba­risch« (oder so ähn­lich!), die­se Flos­kel soll­te sich doch in­zwi­schen er­üb­rigt ha­ben. Men­as­se aber be­grün­det sei­ne Trans­po­si­ti­on ganz ernst­haft, wie­der­um nach­voll­zieh­bar, mit Blick auf die Ge­schich­te (und nicht nur auf ei­ne »time­line«).
    Daß man nicht ko­tro­vers über EU und Na­tio­nal­staa­ten dis­ku­tie­ren dür­fe, oder nur bei Stra­fe, Was­ser auf die Müh­len der Rechts­extre­men zu schüt­ten, die­se Kon­se­quenz liegt nicht, wie Keu­sch­nig un­ter­stellt, in Men­as­ses Text. Ich ha­be mir in ei­nem viel fre­quen­tier­ten öster­rei­chi­schen Fo­rum (Der Stan­dard on­line) die Bei­trä­ge von »Usern« an­ge­se­hen – und muß auf­grund des dort zum Aus­druck kom­men­den Men­as­se recht­ge­ben. Aus die­sen Kom­men­ta­ren Sprich Haß, ziel­lo­se Em­pö­rung, al­so das, was heu­te üb­lich und Main­stream ist. So­bald je­mand auch nur die Mög­lich­keit in Be­tracht zieht, daß man Na­tio­nal­staa­ten durch an­de­re Ge­bil­de er­set­zen könn­te, geht es los mit den An­fein­dun­gen und Be­schimp­fun­gen. Ab­ge­se­hen da­von, daß der »en­ga­gier­te« Au­tor Men­as­se in Öster­reich so­wie­so für die mei­sten ein ro­tes Tuch ist, und zwar in er­ster Li­nie auf­grund des eben­falls in der heu­ti­gen Ge­sell­schaft fun­da­men­ta­len Neids, den sei­ne Li­te­ra­tur­prei­se und Sti­pen­di­en wecken.
    Ich ha­be »Die Haupt­stadt« nicht ge­le­sen, ha­be frü­her ei­ni­ge Es­says und Ro­ma­ne von M. ge­le­sen, hat­te im­mer ei­nen eher zwie­späl­ti­gen Ein­druck, kann mich mit der oft auf rhe­to­ri­sche Poin­ten hin­aus­lau­fen­den Spra­che des Au­tors nicht so ganz an­freun­den, kann al­so auch nicht sa­gen, ob er ein be­deu­ten­der Schrift­stel­ler (oder was auch im­mer) ist, bin mir aber ziem­lich si­cher, daß die An­schwär­zung, de­ren Op­fer (ja!) er der­zeit ist, po­li­ti­sche und ge­sell­schaft­li­che Grün­de hat, li­te­ra­risch fun­diert sind sie nicht.
    Dar­über, ob Na­tio­nal­staa­ten über­holt sind oder ge­nau die rich­ti­ge Form und Grö­ße für de­mo­kra­ti­sche Pro­zes­se bie­ten (wie Alei­da Ass­mann meint), kann man dis­ku­tie­ren. Aber dis­ku­tiert wird bei der Men­as­se-Hatz nicht, von In­hal­ten und of­fe­nen Fra­gen wird nur ab­ge­lenkt. Sei­ne Has­ser, sind was sie meist nicht aus­drück­lich sa­gen, ge­gen die EU, ge­gen die »Bü­ro­kra­ten«, ge­gen »die Po­li­ti­ker«, ge­gen die Alt­lin­ken, »Na­ti­on« ist für sie et­was Selbst­ver­ständ­li­ches, an dem sie so oder so fest­hal­ten. Ich für mei­nen Teil will mich da echt nicht ein­rei­hen. Ich bin selbst Öster­rei­cher, die Idee der österr. Na­ti­on ist für mich im Lauf der Jah­re äu­ßerst zwei­fel­haft ge­wor­den. Die po­li­ti­schen Än­de­run­gen im Ter­ri­to­ri­um, das an­geb­lich »mei­nes« ist, sind, wenn man nur ein biß­chen Weit­blick wal­ten läßt, ex­or­bi­tant. Viel­völ­ker­staat oder ‑ker­ker mit deutsch»nationaler« Do­mi­nanz, deutsch-öster­rei­chi­sche Ein­heit, und jetzt das lie­be klei­ne Länd­chen, das nie­man­dem was zu­lei­de tut, mit der gro­ßen Ge­schich­te, die man den Tou­ri­sten­mas­sen un­ter­ju­belt. Ich muß die­se öster­rei­chi­sche Na­ti­on nicht un­be­dingt ha­ben, aber ich füh­le mich sehr wohl – und das wä­re dann im Sin­ne Hall­steins – als An­ge­hö­ri­ger mei­ner Re­gi­on und Eu­ro­pas.

  5. Das Hall­stein-Zi­tat von Men­as­se ist kei­ne Zu­sam­men­fas­sung der Po­si­tio­nen von Wal­ter Hall­stein, Leo­pold Fe­der­mai­er, son­dern ei­ne den In­ten­tio­nen und der Po­li­tik Wal­ter Hall­steins zu­wi­der­lau­fen­de In­dienst­nah­me bei gleich­zei­ti­ger wahr­heits­wid­ri­ger Vor­spie­ge­lung von Wört­lich­keit. Sa­ge ich – und zwar auf­grund des­sen, was Hein­rich Au­gust Wink­ler in die­ser Sa­che an Ein­zel­hei­ten zu­ta­ge för­der­te. Dass Wink­ler sich ir­gend ge­täuscht hät­te, hat bis­her noch kei­ner ge­sagt oder zu zei­gen ver­mocht. Aber heu­te im Ber­li­ner Ta­ges­pie­gel hat ein wei­te­rer Fach­mann nach­ge­legt: Men­as­se ha­be mit Blick auf Hall­steins Po­si­tio­nen zum Na­tio­nal­staat un­recht. Und er ha­be ge­fälscht.
    Ich hat­te in letz­ter Zeit üb­ri­gens öf­ter mal den Ein­druck, Men­as­se flie­ge ein biss­chen hoch und han­tie­re eher frag­wür­dig mit Tat­sa­chen. Mir ist ei­ne Fern­seh­dis­kus­si­on er­in­ner­lich, wo er auf of­fe­ner Sze­ne der fak­ten­frei­en Her­ab­wür­di­gung ge­zie­hen wur­de – und ein­räu­men muss­te, dass das nicht von un­ge­fähr kam.

    An­son­sten stim­me ich zu: Na­tür­lich soll man über den The­men­kom­plex In­ter­na­tio­na­lis­mus vs. na­tio­na­le Per­spek­ti­ven spre­chen – von mir aus auch strei­ten.

    Die Gelb­we­sten wer­den heu­te im Per­len­tau­cher sum­ma­risch als »Ma­ro­deu­re« be­zeich­net, und im glei­chen Ar­ti­kel wird dar­auf hin­ge­wie­sen, dass bei­de (!) Ko­ali­ti­ons­part­ner der der­zeit­gen Ita­lie­ni­schen Re­gie­rung die Gelb­we­sten aus­drück­lich ge­gen Macron un­ter­stüt­zen.

  6. Bei Krieg­ho­fer kann man nach­le­sen, dass Men­as­se ins­ge­samt drei Zi­ta­te Hall­stein er­fun­den hat. Die mei­sten Kri­ti­ker be­schrän­ken sich dar­auf, de­ren Ge­brauch in Men­as­ses Re­den und Es­says an­zu­pran­gern. Ähn­li­ches gilt für die omi­nö­se Ausch­witz-Re­de Hall­steins, die in Zei­ten des Kal­ten Krie­ges nie­mals der­art hät­te statt­fin­den kön­nen. Es ist mir rät­sel­haft, wie man die­ses Ver­fah­ren auch nur an­satz­wei­se ver­tei­di­gen kann. Was kommt als näch­stes? Ein Zi­tat, was Kaf­ka zu Twit­ter ge­sagt ha­ben könn­te? Ein Ex­trakt aus Zi­ta­ten von Bru­no Krei­sky zu Se­ba­sti­an Kurz?

    * * *

    Men­as­ses Ver­tei­di­gungs­re­de ist für mich ein Schel­men­stück, weil er sich po­li­tisch ge­gen Kri­tik im­mu­ni­sie­ren will und Kri­ti­ker als »höh­nisch« ab­qua­li­fi­ziert. Er schreibt:

    »Na­tür­lich geht es nun auch dar­um, ei­ne eu­ro­pa­po­li­ti­sche Idee nie­der­zu­kar­tätschen, ei­ne Vi­si­on, die in den letz­ten Jah­ren ver­mehrt Zu­stim­mung ge­fun­den hat. Es geht um das In­ter­es­se der Na­tio­na­li­sten, die Grün­dungs­idee des eu­ro­päi­schen Ei­ni­gungs­pro­jekts zu ver­drän­gen und je­de Vi­si­on ei­nes nach­na­tio­na­len Eu­ro­pas als Spin­ne­rei ab­zu­tun, gar als „Ver­schwö­rung zio­ni­stisch-bol­sche­wi­sti­scher Kräf­te“ (sie­he „Ge­gen den Strom“). Wis­sen das die er­reg­ten oder höh­ni­schen Jour­na­li­sten und Blog­ger, die mir „Fäl­schung“ vor­ge­wor­fen ha­ben – in vie­len Fäl­len oh­ne die Hall­stein-Re­de ge­le­sen zu ha­ben? Sie selbst lie­fern – be­wusst oder un­be­wusst – den Rechts­extre­men Stoff.«

    Mit dem letz­ten Satz sug­ge­riert er, dass Kri­tik an sei­nem Ver­fah­ren den »Rechts­extre­men Stoff« bie­tet. Ich »un­ter­stel­le« al­so nichts.

    Die­se Form der Dis­kurs­rä­son hal­te ich um es freund­lich aus­zu­drücken, für ver­we­gen, weil es ei­nen Nu­kle­us vor­aus­setzt, der be­stim­men wür­de, was »op­por­tun« ist. Es ist zu­gleich ver­rä­te­risch, weil es zeigt, dass da je­mand sei­ne Äu­ße­run­gen am Ver­hal­ten an­de­rer aus­rich­tet. Dies soll nun von de­nen mit über­nom­men wer­den, die die­ses Ver­fah­ren kri­ti­sie­ren. Weil et­was in­stru­men­ta­li­siert wer­den kann, soll­te man schwei­gen. Aber hät­te Men­as­se nicht sei­ne Fäl­schun­gen vor­ge­nom­men (noch ein­mal: ich mei­ne nicht den Roman/die Ro­ma­ne), gä­be es kein An­ge­bot an »Stoff« für Rechts­extre­me.

    Ich bin nicht für die zahl­rei­chen Hass-Po­stings und Schmä­hun­gen ver­ant­wort­lich. Dass es sie gibt, ist u. a. auch auf Men­as­ses Fehl­ver­hal­ten in die­sem Punkt zu­rück­zu­füh­ren. Die mei­sten der Schmä­her wis­sen wo­mög­lich gar nicht was ein Zi­tat be­deu­tet und rei­ten tat­säch­lich auf die­ser Wel­le mit. Aber es ge­hört eben da­zu, dass man ge­ra­de wenn man im Fo­kus von po­li­ti­schen Ex­tre­mi­sten steht, be­son­ders klug agiert – und dies vor al­lem in öf­fent­li­chen Stel­lung­nah­men.

    * * *

    War­um hat Men­as­se nicht ge­sagt, dass man aus den Re­den Hall­steins dies und je­nes fol­gern könn­te? Die Ant­wort ist: Men­as­se woll­te schmücken. Er woll­te ei­nen »Ver­bün­de­ten« für sei­ne ei­ge­ne Po­si­ti­on, ei­nen Un­ter­stüt­zer, der viel­leicht auch zei­gen soll­te, wie ha­sen­fü­ssig das der­zei­ti­ge EU-Per­so­nal agiert.

    Mit »Ausch­witz« soll­ten die­se Aus­sa­gen be­kräf­tigt wer­den. Ir­gend­wo ha­be ich ge­le­sen, die Ver­or­tung ei­ner Re­de Hall­steins nach Ausch­witz ent­sprä­che Men­as­ses my­thi­schem Den­ken. Ich ver­mag das nicht zu be­ur­tei­len. Die Ein­bin­dung von Ausch­witz als My­thos ist je­doch durch­aus ver­brei­tet. Ich er­in­ne­re nur an Gün­ter Grass, der die Wie­der­ver­ei­ni­gung zwi­schen BRD und DDR 1989/90 un­ter an­de­rem des­we­gen ab­lehn­te, weil er die Tei­lung Deutsch­lands als ge­rech­te Stra­fe für die na­tio­nal­so­zia­li­sti­schen Ver­bre­chen emp­fand.

    Das Ador­no-Dik­tum ha­be ich im­mer für pro­ble­ma­tisch ge­hal­ten. Ich ver­stand es we­ni­ger als Im­pe­ra­tiv son­dern eher als ei­ne Art Sorg­falts­ge­bot. Ich hal­te Fran­zens und auch Bah­ners’ Ver­dikt, dass man mit Ausch­witz li­te­ra­risch nicht »spie­len« dür­fe, in die­ser Här­te für falsch. Der Hin­weis auf Ker­té­sz ist rich­tig, wenn­gleich man Ker­té­sz als Ho­lo­caust-Über­le­ben­den dies »ge­stat­te­te«. Bei Wil­ko­mir­ski sah das schon an­ders aus – nicht zu­letzt weil er sich sel­ber als ehe­ma­li­ger KZ-In­sas­se de­kla­rier­te. Er be­trieb al­so nicht nur fik­tio­na­le Hoch­sta­pe­lei.

    Ge­ne­rell ist man, was den spie­le­ri­schen Um­gang mit der Sho­ah an­geht, in Deutsch­land sehr sen­si­bel. Ich er­in­ne­re an Be­nig­nis Film »Das Le­ben ist schön«, der hef­tig kri­ti­siert wur­de. Es wä­re un­mög­lich ge­we­sen, dass ei­nen sol­chen Film ein deut­scher Re­gis­seur dreht. Ge­ra­de in die­sen Ta­gen wird die US-ame­ri­ka­ni­sche Se­rie »Ho­lo­caust – Die Ge­schich­te der Fa­mi­lie Weiss« wie­der­holt, die in den Drit­ten Pro­gram­men im deut­schen Fern­se­hen erst­mals in den 1970er Jah­ren aus­ge­strahlt wur­de. Es han­delt sich um ei­ne fik­ti­ve jü­di­sche Fa­mi­lie, die in den bar­ba­ri­schen Ver­nich­tungs­ap­pa­rat der Na­zis ge­rät. Die Se­rie war da­mals hef­tig um­strit­ten, weil man fik­ti­ve Per­so­nen nicht in den rea­len Kon­text von KZs brin­gen woll­te. Der Er­folg war al­ler­dings groß, weil man sich plötz­lich nicht mit ab­strak­ten Zah­len be­schäf­tig­te, son­dern mit den Fi­gu­ren Iden­ti­fi­ka­ti­ons­po­ten­ti­al lie­fer­te. Wo­mög­lich hat die­se Se­rie mehr zur hi­sto­ri­schen Auf­klä­rung und Be­wusst­ma­chung der Ver­bre­chen der Na­zis bei­getra­gen als so man­che Do­ku­men­ta­ti­on.

    * * *

    Über Prei­se und Sti­pen­di­en (ver­mut­lich vom Na­tio­nal­staat Öster­reich, den Men­as­se ja ei­gent­lich ab­lehnt – er ist da wie die EU-Geg­ner, die sich ins EU-Par­la­ment wäh­len las­sen) ver­mag ich nichts zu sa­gen, da ich sein li­te­ra­ri­sches Werk nicht ken­ne.

  7. Der My­thos Ausch­witz, Gre­gor Keu­sch­nig, – das ist be­reits ein bö­ses Wort, hat es da­mals ge­hei­ßen, als Sie­fer­le die­sen Be­griff in Deutsch­land in Um­lauf brach­te. Sie­fer­les Haupt­punkt ist der von der Ausch­witz-Schuld, die nun nicht mehr ver­ge­hen darf. Auch laut Alei­da Ass­man und Ro­bert Men­as­se nicht: Da­her Men­as­ses Idee, die De­mo­kra­tie in den Ab­grund zu »schup­fen« und im Na­men von Ausch­witz an der De­mo­kra­tie vor­bei ei­nen Eu­ro­päi­schen Staat mit der Haupt­stadt Ausch­witz zu bau­en.

    Ei­ne ziem­lich ver­nunft­fer­ne und durch­ge­knall­te Vi­si­on. Ich stau­ne, jetzt, da ich mich mit Men­as­se ein we­nig be­schäf­ti­ge, auf was für Köp­fe die hie­si­ge li­be­ra­le Öf­fent­lich­keit abon­niert ist.

    Bö­ser Ver­dacht von mir, der ich Alei­da Ass­manns Wir­ken seit Jahr­zehn­ten aus ei­ni­ger Nä­he ver­fol­ge: Sie will den Deut­schen Na­tio­nal­staat nicht ganz ver­schwin­den se­hen, weil sie den braucht als Ba­sis für ihr zu­sam­men mit (u. a.) Ro­bert Men­as­se be­trie­be­nes Pro­jekt, Ausch­witz als welt­wei­tes Mo­dell des Ge­den­kens zu eta­blie­ren. Ei­ne ko­mi­sche Sei­te hat die­se Ab­sicht üb­ri­gens auch, denn tat­säch­lich wird der Na­zi-Ju­den­ver­nich­tung be­reits in­ter­na­tio­nal ge­dacht, ganz oh­ne Alei­da Ass­mans Zu­tun.

    Nun, Alei­da Ass­man ist aus gu­tem evan­ge­li­schen Hau­se, aber die Ausch­witz-Schuld soll nicht ver­ge­hen dür­fen, weil sie als Me­ga-Schuld von der ei­gent­lich grund­le­gen­den christ­li­chen Ver­zei­hens­ethik aus­ge­nom­men ist. Das ist un­christ­lich, wie Sie­fer­le in Fi­nis Ger­ma­nia sehr klar sagt. Das küm­mert heu­te aber Kei­nen, weil die Theo­lo­gie öf­fent­lich kaum mehr vor­kommt.

    Bei Jas­pers war noch klar, dass es kei­ne Kol­lek­tiv­schuld ge­ben soll. Auch die­se Idee ver­liert an Kraft, denn sonst wür­de sich die Fra­ge stel­len, wor­in die spe­zi­fi­sche deut­sche Schuld denn be­steht, wenn man fest­stellt, dass von den Deut­schen Tä­tern (und von den deut­schen Mit­läu­fern) lang­sam nicht mehr vie­le üb­rig­ge­blie­ben sind – wer soll un­ter die­sen Um­stän­den ei­gent­lich der Trä­ger der deut­schen Schuld sein? Das trifft ein­fach die Nach­ge­bo­re­nen, die sind jetzt so­zu­sa­gen stell­ver­tre­tend Schuld. Kamma nix ma­chen. Gibt Schlim­me­res...

    Ins­ge­samt ist das, fürch­te ich, nicht plau­si­bel und des­halb zwar ver­ständ­lich, aber lei­der auch un­sin­nig, ja un­mensch­lich, denn man soll un­be­dingt auch das Ver­zei­hen üben, das ist ein Fun­da­ment un­se­rer Zi­vi­li­sa­ti­on.

    Der Hol­caust ist ei­ne mo­der­ne ge­schicht­li­che Un­tat von enor­mer Di­men­si­on. Er hat sei­ne Be­son­der­hei­ten. Man soll aus ihm ler­nen. Und? – Man soll we­gen des Ho­lo­caust we­der die Ver­nunft noch die christ­li­che Ethik ver­ab­schie­den und man soll die Nach­ge­bo­re­nen nicht in ewi­ge Gei­ßel­haft neh­men für die Un­ta­ten ih­rer Vor­fah­ren. Die Schuld der Al­ten ist nicht die der Jun­gen.

    So ge­se­hen, hat Ro­bert Men­as­se viel­leicht ei­ne der letz­te Ge­le­gen­hei­ten er­grif­fen, aus sei­nem fal­schen Stre­ben ir­gend ei­nen Fun­ken (und ei­nen pri­va­ten Nut­zen?) her­aus­zu­locken. Das wä­re die op­ti­mi­sti­sche Les­art des der­zei­ti­gen Tu­mults...

  8. Ich be­zie­he mich auf Bah­ners, nicht auf den Schwa­dro­neur Sie­fer­le. Bah­ners schreibt et­was ver­quast: »Die Ge­schich­te von Ausch­witz als Grün­dungs­my­thos der EU er­weist sich, fach­sprach­lich ge­spro­chen, als ein Fall von the­ra­peu­tisch in­du­zier­ter wie­der­ge­won­ne­ner Er­in­ne­rung, de­ren Fik­tio­na­li­tät in Kauf ge­nom­men wird.«

    .-.-.

    In­ter­es­sant noch die­ser Ar­ti­kel von Paul Mi­cha­el Lüt­ze­l­er hier, der mehr über die In­ten­tio­nen des von Men­as­se so be­mun­der­ten Hall­stein sagt. Dort steht: »In­grid Piela zeigt in ih­rer Hall­stein-Stu­die (Ber­li­ner Wis­sen­schafts-Ver­lag 2012), dass der Kom­mis­si­ons­prä­si­dent ei­ner fö­de­ra­li­sti­schen Denk­rich­tung zu­zu­rech­nen ist, die (im Ge­gen­satz zu Mon­net) we­ni­ger funk­tio­nal-prag­ma­tisch als kon­sti­tu­tio­na­li­stisch aus­ge­rich­tet war: Oh­ne Ver­fas­sung sei auf lan­ge Sicht die po­li­ti­sche In­te­gra­ti­on nicht zu er­rei­chen.

    Auch Hall­stein ging es nie um ei­ne Ab­schaf­fung der Na­tio­nal­staa­ten. Piela schreibt, dass die ‘Ver­tei­lung der Kom­pe­ten­zen zwi­schen Bund und Mit­glied­staa­ten’ für Hall­stein die ‘be­deut­sam­ste spe­zi­fisch fö­de­ra­le Fra­ge’ im Hin­blick auf die eu­ro­päi­sche Ge­mein­schaft war. Sie be­tont, dass Hall­stein in sei­nem Spät­werk ‘Der un­voll­ende­te Bun­des­staat’ (1969) für ei­ne eu­ro­päi­sche Fö­de­ra­ti­on plä­dier­te, für ei­nen ‘Bun­des­staat, nicht ei­nen Ein­heits­staat’.«

  9. Nach der Sich­tung ei­ni­ger Quel­len, ein paar Be­mer­kun­gen:

    Wir ha­ben hier im­mer wie­der über Fak­ten, Wahr­heit, Rich­tig­keit, usw., dis­ku­tiert. In die­sem Kon­text ist die oben ste­hen­de Pro­ble­ma­tik zu se­hen. Wenn man in ei­nem nicht-li­te­ra­ri­schen Kon­text ein Zi­tat als ei­nes aus­gibt, das tat­säch­lich kei­nes ist, han­delt man un­red­lich. Wenn man sich hin­ter­her durch­zu­schum­meln ver­sucht, steht man nicht zu dem, was man ge­tan hat. Ein sol­ches Ver­hal­ten wiegt um so schwe­rer, je ge­bil­de­ter man ist, je eher man um über die zu­grun­de lie­gen­den kul­tu­rel­len Prak­ti­ken (kor­rek­tes Zi­tie­ren) be­scheid weiß. Statt­des­sen könn­te man auch sa­gen, »ich le­se xy so« oder »ich in­ter­pre­tie­re jetzt sehr frei«, hier wird ei­ne In­ten­ti­on spür­bar.

    Wahr­heit ist das ei­ne, Mo­ral das an­de­re. Wahr ist nicht, was man für rich­tig oder gut hält. Wenn nun das »Un­ten« ein Mit­glied des »Oben« mit Hohn über­gießt, dann hat das viel­leicht auch mit dem Ver­hal­ten des­je­ni­gen zu tun. Je hö­her man sich stellt, je mehr man mo­ra­li­siert, und sich über die­je­ni­gen er­ei­fert, die un­ten sind, de­sto eher und leich­ter wird man zu ei­nem Ob­jekt des Has­ses, Zorns, etc. der von un­ten auf­wallt. Viel­leicht, und das wä­re mit­zu­be­den­ken, gibt es zwi­schen dem, das auf­wallt und dem an­geb­lich Gu­ten, das bis­wei­len Mit­tel zu recht­fer­ti­gen scheint, die an­son­sten dis­kre­di­tiert sind, ei­nen Zu­sam­men­hang. Karl Marx hat, so weit ich weiß, ein­mal die Funk­ti­on der In­tel­lek­tu­el­len als ei­ne Art Sy­stem­er­hal­ter oder Be­stands­er­hal­ter be­schrie­ben. Aus die­ser Sicht wä­re über das En­ga­ge­ment nach­zu­den­ken, auch dar­über ob es nicht viel­leicht sei­ne (an­geb­li­chen) Geg­ner »mit­pro­du­ziert«.

    Na­ti­on, Na­tio­nal­staat, Volk: Ich ha­be es vor ei­ni­ger Zeit schon ein­mal ge­schrie­ben, wenn man ei­ni­ge Bei­trä­ge im Mer­kur liest aus je­ner Zeit, in der man über die Mög­lich­keit ei­ner eu­ro­päi­schen Ei­ni­gung dis­ku­tiert hat, dann sieht man wie arm­se­lig der heu­ti­ge öf­fent­li­che Dis­kurs ist: Dah­ren­dorf hat da­mals fest­ge­stellt, dass es der Na­tio­nal­staat ist, der un­se­re Bür­ger­rech­te si­cher­stellt und dass er des­halb not­wen­dig sei. Das tut die­ser heu­te noch und vie­les an­de­re mehr. Das Feh­len die­ser Dif­fe­ren­zen, macht mich miss­trau­isch, es ist aber ty­pisch für Pro­pa­gan­di­sten, die Wer­te im­mer mit Din­gen, Zu­stän­den und Fak­ten, die auf an­de­ren Eben lie­gen, ver­men­gen müs­sen, um sie un­an­greif­bar zu ma­chen. Was steht hin­ter die­ser Not­wen­dig­keit der Un­an­greif­bar­keit?

  10. Bah­ners spielt auf Sie­fer­le an, wür­de ich mei­nen. Ich kann­te je­den­falls Sie­fer­le. Er war ein Mit­ar­bei­ter zu­erst von Die­ter Groh in Kon­stanz und wur­de dann von Pe­ter Glotz nach Sankt Gal­len ge­holt. Ich hab’ ei­ni­ge Bü­cher von ihm ge­le­sen. Er ist kein Schwa­dro­neur, Gre­gor Keu­sch­nig. Er war ja auch als Fach­hi­sto­ri­ker der Wei­ma­rer Zeit und der In­du­stria­li­sie­rung – ins­be­son­de­re der Koh­le- und über­haupt der En­er­gie­wirt­schaft ganz zwei­fels­frei an­er­kannt. – Bis dann Sie­fer­les mi­gra­ti­ons­kri­ti­sche Auf­sät­ze er­schie­nen und bis schließ­lich und en­lich das la­ko­nisch küh­le und kon­zi­se Fi­nis Ge­ma­nia er­schien...

    @ me­tep­si­lo­n­e­ma
    Ih­re Er­in­ne­rung an Ralf Dah­ren­dorf ist ein­leuch­tend. Auch die an den Mer­kur. Ich fü­ge der Mer­kur-Er­in­ner­nung noch die an Karl­heinz Boh­rer hin­zu (in sei­ner über­aus le­sens­wer­ten Au­to­bio­gra­phie »Jetzt« kommt auch Boh­rer im­mer wie­der auf die Hy­bris der EU und die Un­ver­zicht­bar­keit des Na­tio­nal­staats zu spre­chen).

    Und Dah­ren­dorf schrieb den Ox­for­der Ideen­ge­schicht­ler und An­ti­to­ta­li­ta­ri­sten Isai­ah Ber­lin fort. Auf bei­de be­zieht sich üb­ri­gens hie und da Pe­ter Slo­ter­di­jk – und sein Freund Rü­di­ger Sa­fran­ski ist eben­falls übezeugt von der Un­er­setz­lich­keit des Na­tio­nal­staats. Auch En­zens­ber­ger, üb­ri­gens, des­sen Eu­ro­pa-Buch »Das Wei­che Mon­ster Brüs­sel« den sehr trocke­nen Hin­weis ent­hält, die ret­tung­los hy­per­tro­phe EU sei nur über­le­bens­fä­hig, wenn ih­re Be­für­wor­ter be­grei­fen, dass ein Rück­bau fäl­lig ist.

  11. Was Men­as­se nun mit Eu­ro­pa pro­biert, näm­lich ein neu­es Eu­ro­pa zu bau­en mit Ausch­witz als Grün­dungs­my­thos, hat Jockl Fi­scher schon im Sinn ge­habt mit Blick auf Deutsch­land – und Ju­go­sla­wi­en.

    Hein­rich-Au­gust Wink­ler hat das in den mitt­le­ren nuller Jah­ren er­freu­lich klar zu­rück­ge­wie­sen: »Aber so et­was Furcht­ba­res wie Ausch­witz zum Grün­dungs­my­thos der Bun­des­re­pu­blik zu er­klä­ren, wie Au­ßen­mi­ni­ster Fi­scher das ge­tan hat, geht eben­falls nicht. Ausch­witz taugt nicht da­für. Ein Ge­mein­we­sen läßt sich nicht auf den Mas­sen­mord an den eu­ro­päi­schen Ju­den grün­den.« – We­he, we­he, ein AfD­ler wür­de so was sa­gen ... da wä­re wie­der ge­scheit was los, wie ich den­ke. Gleich­zei­tig se­he ich nicht, was in­ter­es­sier­te AfD­ler da­von ab­hal­ten soll­te, sich auf Hein­rich-Au­gust Wink­ler (und Györ­gi Kon­rad (und Ger­hard Schrö­der)) zu be­zie­hen; au­ßer viel­leicht Ei­tel­keit – oder Be­rüh­rungs­äng­ste. Da hät­te ich frei­lich – mit ei­nem be­rühm­ten En­zens­ber­ger­schen Sei­ten­blick auf die Ka­nal­ar­bei­ter – kein Ver­ständ­nis für.

    Wür­de man gleich­wohl Ausch­witz als Grün­dungs­my­thos in­stal­lie­ren wie von Fi­scher und nun Men­as­se in­ten­diert, so ent­stün­de ein zeit­ge­nös­si­scher To­ten­kult. Und der wä­re – ich mei­ne, das eben­falls auf Wink­ler ge­stützt sa­gen zu kön­nen: – Nicht nur ge­gen­auf­klä­re­risch, son­dern in letz­ter Kon­se­quenz so­gar le­bens­feind­lich (Wink­lers »geht ein­fach nicht«).

    Man kann es über­trei­ben mit der Er­in­ne­rung. Denn die Do­sis macht in der Na­tur­wis­sen­schaft wie im Kul­tu­rel­len und im So­zia­len auch das Gift. All­zu­viel ist un­ge­sund.

  12. Ich bin dann wohl der Trot­tel hier, der »Die Haupt­stadt« ge­le­sen hat. Das Buch ist ba­nal, die höl­zern kon­stru­ier­ten Fi­gu­ren sind auf den Ef­fekt zu­ge­schnit­ten, das En­de tat dann nur noch weh. Ja, man darf mit Ausch­witz spie­len, es aber zum Knall­bon­bon ma­chen, geht nicht. Viel­leicht täu­sche ich mich, aber mir er­scheint der Ver­such, Ausch­witz als Grün­dungs­my­thos zu plat­zie­ren als sehr ge­wollt. Bis­her ha­be ich ne­ben den wirt­schaft­li­chen In­ter­es­sen die Mo­ti­va­ti­on für ein su­pra­na­tio­na­les Ge­bil­de in Ver­dun, in Ypern, an der Som­me und im Ison­zo-Tal ge­se­hen.

    Wenn In­ge­nieu­re ein Sy­stem un­ter­su­chen, dre­hen sie ger­ne mal die Reg­ler ganz nach links und rechts (et­wa so wie Gre­gor Keu­sch­nig es mit Kafka/Twitter ge­macht hat). In der Li­te­ra­tur wä­re dann der Reg­ler ganz links viel­leicht der au­then­ti­sche Sol­dat in Sta­lin­grad, dem man de­fä­ti­sti­sche Äu­ße­run­gen un­ter­stellt und der Reg­ler ganz rechts Ben­ja­min Ne­tan­ja­hu, dem man ei­ne End­lö­sung der Pa­lä­sti­nen­ser­fra­ge in den Mund legt. Je wei­ter ich den Reg­ler nach rechts dre­he, de­sto kri­ti­scher wird der Sy­stem­zu­stand und soll­te nur mit sehr gu­tem Grund und bei ent­spre­chen­den Vor­keh­run­gen in dem Ar­beits­punkt be­trie­ben wer­den. Das tut Men­as­se nicht. Au­ßer­halb der Li­te­ra­tur stim­me ich Gre­gor Keu­sch­nig und me­tep­si­lo­n­e­ma zu.

  13. Ich se­he wirk­lich nicht, wes­halb es grund­sätz­lich be­denk­lich sein soll­te, daß ein Ro­man­cier lo­ka­le Trans­po­si­tio­nen vor­nimmt, die ei­ne hi­sto­ri­sche Re­de an ei­nen an­de­ren Ort bringt als den, an dem sie in der Wirk­lich­keit statt­ge­fun­den hat. Jo­seph Bran­cos Ein­schät­zung des Ro­mans ist für mich nach­voll­zieh­bar, es ist durch­aus hilf­reich (und gar nicht trot­tel­haft), daß er uns hier ein biß­chen Nach­hil­fe gibt.
    In sei­ner Recht­fer­ti­gung in der »Pres­se« be­grün­det Men­as­se, wes­halb er die­se Trans­po­si­ti­on vor­ge­nom­men hat. Auch die­se Be­grün­dung hat et­was für sich. Wie Bran­co sagt, die eu­ro­päi­sche Ko­ope­ra­ti­on woll­te und will Leh­ren aus dem 2. (und 1.) Welt­krieg zie­hen und Ver­hält­nis­se her­bei­füh­ren, in der es auf eu­ro­päi­schem Bo­den nicht mehr zu sol­chen Krie­gen kommt. Da­für ist z. B. Ver­dun ein em­ble­ma­ti­scher Ort – man kennt das Fo­to mit Kohl und Mit­te­rand Hand in Hand auf dem ehe­ma­li­gen Schlacht­feld. Ein eben­so em­ble­ma­ti­scher Ort im sel­ben (!) Kon­text ist Ausch­witz. War­um soll­te Ver­dun gel­ten, um sym­bo­li­sche Ak­te oder Re­den im Sinn des Frie­dens zu set­zen, aber Ausch­witz nicht?

    Die Er­wäh­nung Kaf­kas und der Twit­ter-Kom­mu­ni­ka­ti­on in ei­nem Atem­zug fin­de ich ab­we­gig. Tat­säch­lich hat man, eben­falls nicht oh­ne Grün­de, in Kaf­kas Werk An­ti­zi­pa­tio­nen von Na­zis­mus und Ju­den­ver­nich­tung ge­le­sen. Über sol­che Vor­weg­nah­men zu mut­ma­ßen, fin­de ich nicht grund­sätz­lich ver­kehrt. Aber auf Twit­ter zu ver­fal­len, das ist wirk­lich lä­cher­lich. Und noch et­was: Men­as­se war si­cher schlam­pig, ein Teil der Vor­wür­fe be­steht zu­recht. Er hat aber den Sinn der Re­den Hall­steins nicht wil­lent­lich ver­fälscht, son­dern ver­sucht, sie auf den Punkt zu brin­gen. Wie ge­schickt oder un­ge­schickt, kann und will ich im ein­zel­nen nicht be­ur­tei­len.

    Ich weiß, daß das nicht in der Ab­sicht mei­ner Ge­sprächs­part­ner hier liegt, aber ich wer­de von ih­nen in je­nes Pro-und-Kon­tra-Ver­hält­nis ge­zwun­gen, zu dem die In­ter­net­fo­ren ge­ne­rell nei­gen (für Be­gleit­schrei­ben gilt das ja nor­ma­ler­wei­se nicht, ein­fach auf­grund des Dif­fe­ren­zie­rungs­ver­mö­gens der hier teil­neh­men­den Per­so­nen). Ich bin kein Men­as­se-Freund, war und bin ihm als öf­fent­li­cher, »en­ga­gier­te­re« Fi­gur und sei­ner Li­te­ra­tur ge­gen­über eher skep­tisch.
    Ich glau­be, daß in der der­zei­ti­gen me­dia­len Dy­na­mik ge­gen Men­as­se die Ab­leh­nung der ge­gen­wär­ti­gen EU und der Trend zu ei­nem neu­en Na­tio­na­lis­mus, weg von al­lem, was die so­ge­nann­te Glo­ba­li­sie­rung vor­an­trei­ben wür­de, die trei­ben­de Rol­le spielt. War­um soll­te man dar­auf nicht hin­wei­sen? Was soll dar­an »to­ta­li­tär« sein? Na­tür­lich kann je­der den­ken und sa­gen, was er will. Mag sein, daß Men­as­se hin und wie­der Na­ti­on und Na­tio­na­lis­mus ver­mischt. Aber auf die von mir hier an­ge­spro­che­ne Ten­denz hin­zu­wei­sen, be­deu­tet noch lan­ge nicht, daß man al­les in ei­nen Topf wirft.

    Ich fin­de den Ar­ti­kel Lüt­zel­ers im Ta­ges­spie­gel, auf den Die­ter Kief hin­weist, auf­schluß­reich, vor al­lem den Hin­weis dar­auf, daß Men­as­se of­fen­bar nichts vom Sub­si­dia­ri­täts­prin­zip hält (al­ler­dings ist da­mit das der­zei­ti­ge Prin­zip ge­meint, Men­as­se will Sub­si­dia­ri­tät oh­ne Na­tio­nen). Mög­li­cher­wei­se ver­kürzt Men­as­se in sei­nen Dar­stel­lun­gen und For­de­run­gen in Be­zug auf den eu­ro­päi­schen Ei­ni­gungs­pro­zeß. Sein Lob der EU-Bü­ro­kra­tie und die Ab­leh­nung des Ein­flus­ses von Ver­tre­tern der Na­tio­nal­staa­ten muß man nicht tei­len. Auch die Hall­stein­schen Po­si­tio­nen sind von ihm mög­li­cher­wei­se ver­kürzt dar­ge­stellt (ich glau­be aber nicht – oh­ne mich »aus­zu­ken­nen« -, daß die Dar­stel­lung völ­lig da­ne­ben oder gar be­wußt ent­stel­lend ist).

    So könn­te man al­so dif­fe­ren­zie­rend auf Men­as­ses Po­si­tio­nen ein­ge­hen, man könn­te auf Irr­tü­mer hin­wei­sen, ihn aber trotz­dem ernst neh­men. Das wird nicht ge­tan, statt des­sen wird er ge­basht. War­um?

  14. Er wird nicht un­be­dingt »ge­basht«, son­dern kri­ti­siert, weil er sei­ne Trans­po­si­tio­nen als Zi­ta­te aus­ge­wie­sen hat. In­so­fern hat er Hall­stein Äu­ße­run­gen ver­fälscht. Dar­an be­steht kein Zwei­fel; das kon­ze­diert Men­as­se ja sel­ber. Al­les an­de­re ist Her­um­re­de­rei. Und ja, zur Il­lu­stra­ti­on die­ses Ver­fah­rens wähl­te ich ei­ni­ge ab­sei­ti­ge Ver­glei­che.

    Dass Men­as­ses Feh­ler in ent­spre­chen­den Krei­se Hä­me und Spott aus­lö­sen, ist eben in­zwi­schen so üb­lich. Das hat mit der Fall­hö­he zu tun: Wer sich als (europa-)politischer Vi­sio­när ge­riert, da­für aber als Re­fe­renz glaubt Zi­ta­te fäl­schen zu müs­sen, fällt eben hin. Und wer im­mer schon Pa­ria war, be­kommt es nun ge­ra­de ab. Je­mand der sich der­art ex­po­niert, soll­te wis­sen, was er tut.

    (Mir kom­men da die Pla­gi­ats­fäl­le deut­scher Po­li­ti­ker in den Sinn, die da­mals auch ver­harm­lost wur­den, weil ja so ein paar »Gän­se­füß­chen« nicht so wich­tig sind...)

    Und in der Tat: Hät­te es ei­ne Re­de von Hall­stein in Ausch­witz in den 1960er Jah­ren ge­ge­ben, wä­re dies si­cher­lich ein Zei­chen ge­we­sen. Sie hat es aber nicht ge­ge­ben. Man kann dies frei­lich in ei­nem Ro­man be­haup­ten. Aber eben nicht in Es­says und Re­den als Fak­tum dar­stel­len. Der Ver­gleich mit Kohl und Mit­ter­rand Hand-in-Hand in Ver­dun trifft es nicht, weil er re­al war. (Als »Grün­dungs­my­thos« für was auch im­mer taugt so et­was na­tür­lich nicht, aber Kohl war als Hi­sto­ri­ker auch ein biss­chen be­ses­sen von sol­chen Bil­dern.)

    Kief er­wähnt En­zens­ber­gers Buch »Sanf­tes Mon­ster Brüs­sel oder Die Ent­mün­di­gung Eu­ro­pas« (eben nicht »wei­ches« Mon­ster – und auch den Hin­weis En­zens­ber­gers auf den »Rück­bau« der EU ha­be ich nicht in Er­in­ne­rung. Hel­fen Sie mir doch bit­te: Wo steht das?). Das Buch ha­be ich sei­ner­zeit be­spro­chen; es ist im­mer noch un­ter­halt­sam – auch des­halb, weil sich am bü­ro­kra­ti­schen Ge­flecht der EU nichts ge­än­dert hat. En­zens­ber­ger nimmt auch Be­zug auf Men­as­se, des­sen Po­si­ti­on er spür­bar ab­lehnt, aber doch ir­gend­wie da­von fas­zi­niert scheint. Ich hät­te mir da mehr Aus­ein­an­der­set­zung und we­ni­ger in­tel­lek­tu­el­le Re­vue ge­wünscht.

    Ich bin zu we­nig im The­ma, aber das, was ich von Men­as­se zu »Eu­ro­pa« (für ihn sind »Eu­ro­pa« und »EU« iden­tisch) ge­le­sen ha­be, lässt mich mit Un­be­ha­gen zu­rück. Im Buch über sei­nem »Prak­ti­kum« bei der EU (»Der Eu­ro­päi­sche Land­bo­te« – die An­leh­nung an Büch­ner ist na­tür­lich ge­wollt) schwa­dro­niert er da­von, dass »die klas­si­sche De­mo­kra­tie, ein Mo­dell, das im 19. Jahr­hun­derts zur ver­nünf­ti­gen Or­ga­ni­sa­ti­on von Na­tio­nal­staa­ten ent­wickelt wur­de, nicht ein­fach auf ei­ne su­pra­na­tio­na­le Uni­on um­ge­legt wer­den kann, ja sie be­hin­dert. De­mo­kra­tie setzt den ge­bil­de­ten Ci­toy­en vor­aus. Wenn die­ser ge­gen die von Mas­sen­me­di­en or­ga­ni­sier­ten Hetz­ma­ssen nicht mehr mehr­heits­fä­hig ist, wird De­mo­kra­tie ge­mein­ge­fähr­lich.« Er möch­te am En­de »die Re­gie­rungs­chefs [der Na­tio­nal­staa­ten] höf­lich hin­aus­bit­ten, wenn ei­ne neue De­mo­kra­tie sich ent­fal­tet, als Checks and Balances–System zwi­schen ei­nem ech­ten eu­ro­päi­schen Par­la­ment der Re­gio­nen und dem auf­ge­klär­ten, jo­se­phi­ni­sti­schen Be­am­ten­ap­pa­rat der Kom­mis­si­on.« Ehr­lich ge­sagt: Be­son­ders at­trak­tiv als Al­ter­na­ti­ve zum be­stehen­den er­scheint mir das auch nicht. (Wer »ge­bil­det« im Sin­ne Men­as­ses ist, be­stimmt dann ver­mut­lich ei­ne Kom­mis­si­on.)

    Den ver­mehrt auf­kom­men­den Na­tio­na­lis­mus be­kämpft man nicht mit Vi­sio­nen und/oder Ent­mün­di­gungs­stra­te­gien. Er ist be­grün­det dar­in, dass die Glo­ba­li­sie­rung mit wach­sen­dem Un­be­ha­gen be­merkt wird. Gleich­zei­tig ist der EU-Ap­pa­rat, wie er sich dar­stellt, ei­ne Ka­ta­stro­phe. Wie soll man bspw. ei­ner In­sti­tu­ti­on Ver­trau­en schen­ken, die sich nicht ein­mal über ei­nen Stand­ort ih­res Par­la­ments ei­nig wer­den kann son­dern statt­des­sen per­ma­nent um­zieht? Ab­sur­di­tä­ten all­über­all.

    In Deutsch­land gilt die EU im­mer noch als mehr oder we­ni­ger sa­kro­sankt. Das hat tat­säch­lich mit der furcht­ba­ren Ge­schich­te Deutsch­lands zu tun. Aber die­se Sonn­tags­re­den er­set­zen seit vie­len Jah­ren Ta­ten. Sie sol­len die De­mo­kra­tie­de­fi­zi­te der EU-In­sti­tu­tio­nen schön­re­den und ca­mou­flie­ren. Da­mit er­reicht man das Ge­gen­teil des­sen, was man möch­te. Da­bei ist das Ver­fah­ren, nach­dem die mei­sten Re­gie­run­gen han­deln, be­kannt: Das Gu­te ih­rer Po­li­tik ver­ein­nah­men sie für sich – al­les Schlech­te kommt von »Eu­ro­pa«. Da­bei wird »ver­ges­sen«, dass sie sel­ber in den ent­spre­chen­den Gre­mi­en sit­zen und al­les be­schlos­sen ha­ben.

    Den größ­ten Feh­ler hat die EU in den 2000er-Jah­ren durch die schnel­le Aus­deh­nung ge­macht. Statt­des­sen hät­te ei­ne Ver­tie­fung der be­stehen­den EU Vor­rang ha­ben müs­sen. All die­se Punk­te dis­ku­tiert je­mand wie Men­as­se gar nicht erst. Er schüt­tet die 27 Kin­der mit dem Ba­de aus und möch­te ei­nen »jo­se­phi­ni­schen Be­am­ten­ap­pa­rat«. Und dann wun­dert er sich, wenn das auf Wi­der­stand stösst.

  15. Noch Off to­pic, be­son­ders für @Leopold Fe­der­mair: Ich se­he kei­ner­lei Pro­ble­me dar­in, Pro-und-Con­tra-Po­si­tio­nen in die­sem Blog aus­zu­dis­ku­tie­ren. Da­für sind die Kom­men­tar­fel­der ein­ge­rich­tet. Und ist es nicht ge­ra­de der Vor­wurf an In­ter­net-Fo­ren, dass sie sich all­zu­sehr in ih­rer ei­ge­nen Bla­se und Ei­nig­keit suh­len?

    Das klas­si­sche »Pro und Con­tra« hat­te ich als Ju­gend­li­cher in ei­ner Fern­seh­sen­dung ken­nen­ge­lernt, in dem kon­tro­ver­se ge­sell­schafts­po­li­ti­sche Stand­punk­te in Art ei­ner Ge­richts­ver­hand­lung aus­dis­ku­tiert wur­den. Es gab »An­wäl­te« und »Zeu­gen«, al­so Sach­ver­stän­di­ge, die von der je­wei­li­gen Sei­te be­nannt wur­den. Ge­lei­tet wur­de dies von ei­nem Mo­de­ra­tor, der auf die For­ma­li­en und die Ein­hal­tung der Zeit­vor­ga­ben ach­te­te. Die Sen­dung fand vor Pu­bli­kum statt. Vor­her wur­de ei­ne Be­fra­gung durch­ge­führt, wie das Pu­bli­kum zum ver­han­del­ten Sach­ver­halt ste­he. Nach den »Be­fra­gun­gen«, kurz vor En­de der Sen­dung, gab es die­se Um­fra­ge dann noch ein­mal und es wur­de er­mit­telt, wie­vie­le Um­stim­mun­gen es gab.

    Die Sen­dung dau­er­te – mei­ner Er­in­ne­rung nach – 45 Mi­nu­ten (oder 60?). Sie ent­sprach dem Zeit­geist des »Aus­dis­ku­tie­rens«. Zeit­gei­stig war auch der Sach­be­zug; Be­schimp­fung den Per­so­nen ge­gen­über gab es nie (wie­der muss hier die Er­in­ne­rung her­hal­ten).

    Ir­gend­wann wur­de de Sen­dung ein­ge­stellt; die Grün­de ken­ne ich nicht. Als in den 1990er Jah­ren das Pri­vat­fern­se­hen kam, er­rich­te­te man auf RTL ei­ne Sen­dung, die man »Der hei­ße Stuhl« nann­te. Hier wur­de ei­ne Per­son, die po­li­tisch oder mo­ra­lisch kon­tro­vers wahr­ge­nom­men wur­de, von ih­ren »Geg­nern« be­fragt, auch be­schimpft. Es ging um Kra­wall. Wenn man will kann man hier­an die Ver­än­de­run­gen der Dis­kurs­ge­wohn­hei­ten fest­ma­chen. Auch die­ses »For­mat« ist längst ein­ge­stellt. Statt­des­sen »dis­ku­tie­ren« in Po­lit­talk­shows die im­mer­glei­chen Prot­ago­ni­sten die im­mer­glei­chen The­men. Die­sen »Dis­kus­sio­nen« ist ei­gen, dass sie meist nur aus Stel­lung­nah­men be­stehen und den je­weils An­ders­den­ken­den an be­son­ders wich­ti­gen Stel­len zu un­ter­bre­chen trach­ten.

  16. Men­as­se zu ver­tei­di­gen, liegt mir fern. Aber die Fra­ge von Leo­pold neh­me ich ernst: wo­her die Auf­re­gung?! Men­as­se hübscht nur das Te­los von Ge­stern auf, und for­ciert das mit ei­ner ma­nich­äi­schen Mo­ral rund um Ausch­witz, eben­so kin­disch wie im­per­ti­nent. Er er­fin­det ei­ne Ur­sprungs­idee, die an­geb­lich ver­schüt­tet ging, ob­wohl al­le sie sehr gut ken­nen: die bun­des­staat­li­che Ver­ei­ni­gung. Ein­zig Pech, dass Wal­ter Hall­stein nicht als Vor­den­ker die­ser Idee in Fra­ge kommt.
    Wer nie »ei­ne Se­kun­de lang« dar­an ge­glaubt hat, der wer­fe den er­sten Stein. So ge­se­hen, müss­te Men­as­se schad­los da­von kom­men. Aber die Ver­le­gen­heit ist ja in­zwi­schen rie­sig. Die Po­li­tik­wis­sen­schaft­ler er­fin­den im­mer­zu neue Ter­mi­ni, um über­haupt be­griff­lich kor­rekt dar­stel­len zu kön­nen, was Eu­ro­pa ei­gent­lich ist. Ei­ne qua­si-kon­sti­tu­ti­ve Fö­de­ra­ti­on von an sich sou­ve­rä­nen...
    Die­se Idee passt auf kein T‑Shirt. Ein Qua­si-Se­mi-In­ter-Dings­da. Eu­ro­pa liegt er­kenn­bar ab­seits der be­kann­ten staat­li­chen Ka­te­go­rien.
    Da­her die Er­klä­rung: Men­as­se kriegt den Un­mut dar­über ab, dass ei­ne un­ge­bro­che­ne hi­sto­ri­sche Dy­na­mik im­mer das for­ma­le End­ziel sus­pen­die­ren kann. Aber wenn die Dy­na­mik stockt, dann schaut man auf das Etap­pen­er­geb­nis und ist wo­mög­lich ent­täuscht. Was im­mer es ist: die Ge­fahr ist groß, dass es bleibt, was es ist...

  17. Gre­gor Keu­sch­nig, ich hab’ das »Sanf­tes Mon­ster Brüs­sel« Büch­lein lei­der nur im Kopf, aber nicht zur Hand – das Rück­bau-Zi­tat schwarz auf weiß gibt uns frei­lich das In­ter­net:
    file:///C:/Users/Kief/Downloads/caplaan_files/smh-003_2011_91__1128_d.pdf

    Sie fin­den es auf der Halb­sei­te über der Ho­tel-An­non­ce in der rech­ten Spal­te. Das Ge­spräch ist über­haupt gut und passt auch zum The­ma.

  18. die_kalte_Sophie
    Ent­we­der wol­len Sie ein biss­chen pro­vo­zie­ren oder mei­nen es ernst. Bei Letz­te­rem kann man dann die ge­sam­te po­li­ti­sche Pu­bli­zi­stik ver­ges­sen, weil es dann er­laubt ist, Pa­ra­phra­sen und Ex­trak­te als Zi­ta­te zu »ver­kau­fen«. Kann man ma­chen, aber dann darf man sich auf über »Fake-News« nicht mehr son­der­lich auf­re­gen.

    @Dieter Kief
    Die­ser Link funk­tio­niert bei mir nicht. Las­sen Sie’s gut sein. Ge­schenkt.

  19. Ver­zei­hung, ich woll­te nur Men­as­ses Mo­ti­ve er­grün­den bzw. den Hin­ter­grund der Re­ak­tio­nen aus­leuch­ten. Al­les an­de­re war ja schon ge­sagt.
    Wie Men­as­se ver­sucht, sich aus der Ver­ant­wor­tung zu steh­len, hat ja et­was Ur-Ko­mi­sches. Al­so, ich muss da la­chen. Wenn ein Kind beim Lü­gen er­wischt wird, ver­sucht es in­stink­tiv, in sei­ner Selbst­ver­tei­di­gung sämt­li­che Re­gi­ster der Klug­heit zu zie­hen. Das ist dann trotz der Mis­se­tat schon wie­der span­nend.
    Die po­lit-me­dia­len Zu­mu­tun­gen un­se­rer Zeit ha­be ich schlicht igno­riert. Die Ord­nung des Dis­kur­ses ist an­ge­knackst, ich weiß. Ganz oben die Ra­bu­li­stik von Men­as­se, die sich wie ein Bei­trag zur wer­te­ge­la­de­nen Li­te­ra­tur­theo­rie aus­nimmt, ganz un­ten die Faken­ews des Prä­si­den­ten und al­ler sub­ver­si­ven Zeit­ge­nos­sen. Wenn ein Preis­ge­krön­ter sich als Schar­la­tan her­aus­stellt, ist das pein­lich. Aber auch gut so. Mei­ne Be­wun­de­rung gilt dem Eme­ri­tus Wink­ler, der Zeit und Ge­duld ge­nug hat, die­sem Un­fug auf den Grund zu ge­hen und öf­fent­lich zu kor­ri­gie­ren. Ler­ne von den Al­ten! Die ma­chen sich noch die Mü­he!
    Viel­leicht doch ein Wort zur Äs­the­tik: die li­te­ra­ri­sche oder fil­mi­sche In­sze­nie­rung von po­li­ti­schen Er­eig­nis­sen einschl. öf­fent­li­cher Per­so­nen ist künst­le­risch im­mer miss­lun­gen. Ver­mut­lich ein Na­tur­ge­setz. Die Mu­sen ver­wei­gern die Ko­ope­ra­ti­on. In den Dik­ta­tu­ren ist das Agit­prop. Bei uns ein ge­schmack­lo­ses Zu­stim­mungs-Thea­ter resp. Ma­te­ri­al für das Un­ter­richts-Fern­se­hen. Po­li­tik soll­te im Ro­man nicht vor­kom­men, meint Mar­tin Amis.
    Fällt das auf den Au­tor und sein wei­te­res Werk zu­rück?!
    Das wird man ja wohl kaum re­la­ti­vie­ren kön­nen. Ein­mal Staats­künst­ler, im­mer Staats­künst­ler. Ich zie­he es vor, die­se Rand­gän­ger mit viel Iro­nie zu miss­ach­ten. Aber ich bin kein Bud­dha: Zu­ge­ge­ben, manch­mal aber nur manch­mal re­ge ich mich ein klein biss­chen auf...

  20. Na­ja, ein »Staats­künst­ler« ist Men­as­se ja ir­gend­wie nicht.

    Die Fra­ge, ob Po­li­tik ei­nen Ro­man oder gar ei­nen Schrift­stel­ler ver­dirbt, ist alt und wird ver­mut­lich, wenn über­haupt, nur im Ein­zel­fall zu klä­ren sein. Bei Men­as­se scheint das nicht trenn­bar zu sein. Er er­in­nert mich in der Ve­he­menz an Grass, der 1990 schrieb, er müs­se drin­gend zu Brandt um ihm zu sa­gen, dass er ir­re, wenn er die Ein­heit for­cier­te. Er wuss­te na­tür­lich al­les bes­ser. »Ein wei­tes Feld« fand ich den­noch un­ter­halt­sam, ob­wohl po­li­tisch ka­ta­stro­phal. Aber als Spiel ak­zep­ta­bel. Grass hat im­mer­hin Fon­ta­ne nichts »an­ge­dich­tet«; sei­ne Fi­gur, »Fon­ty« ge­nannt, er­in­ner­te an Fon­ta­ne, trans­for­miert in die Neu­zeit.

    (Der Satz »Die Mu­sen ver­wei­gern die Ko­ope­ra­ti­on« ist gross­ar­tig.)

  21. Der link oben wg. En­zens­ber­gers Rück­bau-The­se funk­tio­niert, wenn man ihn ko­piert und in goog­le ein­gibt.

    Die Lek­tü­re des Ge­sprächs lohnt ebe­no wie die Lek­tü­re von En­zens­ber­ger kur­zem und knacki­gen Auf­satz­bänd­chen »Sanf­tes Mon­ster Brüs­sel – Oder die Ent­mün­di­gung Eu­ro­pas«.

    Das ist seit Jahr und Tag das Buch der Stun­de in Sa­chen EU. Aber man will es nicht zur Kennt­nis neh­men, wg. (recht­po­pu­li­stis­mus­ver­däch­ti­ger!) Un­bot­mä­ssig­keit. Da kommt me­na­se na­tür­lich wie ge­ru­fen.

    Ich fin­de En­zens­ber­gers ent­spre­chen­de Aus­sa­gen sehr in­ter­es­sant und zi­tie­re ei­ne Stel­le aus dem Ge­spräch im schwei­ze­ri­schen Mo­nat, wo es um die De­tails des aus En­zens­ber­gers (und mei­ner, klar) Sicht not­wen­di­gen Rück­baus geht:

    « Wel­che ge­nau?« – Fragt der Mo­nat, – al­so wel­che Din­ge ge­nau sol­len in Brüs­sel zu­rück­ge­baut wer­den? und En­zens­ber­ger ant­wor­tet:

    [quo­te]
    Ich sa­ge Ih­nen, was blei­ben darf und blei­ben wird: die Idee ei­nes
    ge­mein­sa­men Mark­tes und die Idee der Per­so­nen­frei­zü­gig­keit.
    Was nicht blei­ben darf, ist die Usur­pa­ti­on de­mo­kra­ti­scher Rech­te.
    Denn die Fol­ge da­von, das se­hen wir ge­ra­de, ist der Auf­stieg po­pu¬
    li­sti­scher Kräf­te, die die EU-Kri­tik als Ve­hi­kel zum Macht­ge­winn —nut­zen. Die Schweiz hat ih¬
    ren Blo­cher, die Fin­nen
    ih­re «wah­ren Fin­nen» und
    die Dä­nen kon­trol­lie­ren
    so­gar schon die Gren­zen
    wie­der. Selbst in Schwe­den
    und Nor­we­gen gibt es
    20-Pro­zent-Par­tei­en, die
    aus­schliess­lich dank ih­rer
    – An­ti­hal­tung zur EU er­folg¬
    reich sind. Der Bür­ger sagt sich: so­lan­ge ich über­haupt noch wäh¬
    len darf, wäh­le ich die Geg­ner der In­sti­tu­ti­on. Völ­lig ver­ständ­lich.
    Pa­ra­do­xer­wei­se ist an ge­nau die­ser eu­ro­pa­wei­ten Be­we­gung die EU
    selbst schuld. Sie fährt ih­ren ei­ge­nen Kar­ren auf­grund der ihr in­ne¬
    woh­nen­den de­mo­kra­ti­schen Män­gel an die Wand.
    From­me Wün­sche zum Rück­bau wer­den die EU nicht da­von ab­hal¬
    ten, die Kom­pe­ten­zen wei­ter aus­zu­bau­en und zu zen­tra­li­sie­ren.
    Der Rück­bau funk­tio­niert nur un­ter Druck. Die po­pu­li­sti­schen
    Be­we­gun­gen üben die­sen Druck nun aus, und die eta­blier­ten Par¬
    tei­en und Funk­tio­nä­re müs­sen auf ir­gend­ei­ne Art und Wei­se dar¬
    auf re­agie­ren. Be­zeich­nend mag auch hier wie­der sein, dass der
    Druck in Deutsch­land im Ver­gleich zu an­de­ren Mit­glieds­staa­ten
    der EU sehr ge­ring ist. We­der die Lin­ke noch die Rech­te schafft es,
    sich mit dem The­ma pro­mi­nent zu po­si­tio­nie­ren. So­bald man
    über die Gren­zen schaut, sieht das ganz an­ders aus: Va­clav Klaus,
    der Prä­si­dent der Tsche­chi­schen Re­pu­blik, zum Bei­spiel ist sehr
    EU-skep­tisch.

    Mont: Klaus hat ein Pro­blem: er wird me­di­al mit Ver­schwö­rungs­theo­re­ti¬
    kern und Re­ak­tio­nä­ren in ei­nen Topf ge­wor­fen. Ha­ben Sie nicht
    auch Be­den­ken, in die­ser Ecke zu lan­den?

    E: »Sie re­den vom «Bei­fall von der fal­schen Sei­te». Da­mit ha­be ich mich
    schon sehr früh be­schäf­ti­gen müs­sen. Ich hö­re we­der auf den
    «rich­ti­gen» noch auf den «fal­schen» Bei­fall, das wür­de mich ja ganz
    ver­rückt ma­chen. Je­der, der öf­fent­lich auf­tritt, sorgt da­für, dass
    man sich ein Bild von ihm macht. So­bald die Men­ge die­ser Bil­der
    ei­ne kri­ti­sche Mas­se über­schrei­tet, kann man von ei­ner Le­gen­de
    spre­chen. Man kann dann be­haup­ten, ich sei An­ar­chist, Christ, ein
    gu­ter Mensch, ein Sa­dist, was Sie wol­len. Die Ge­schich­te ei­ner öf¬
    fent­li­chen Per­son er­zeugt man nicht selbst, sie wird er­zeugt. Da ist
    man macht­los. Mir war oh­ne­hin nie das Ta­lent ge­ge­ben, ein gu­tes
    Mit­glied oder so et­was zu sein.

    [un­quo­te]

    Der ent­schei­den­de Un­ter­schied zu Men­as­ses Po­si­ti­on in Sa­chen EU ist, dass Men­as­se die Ent­kop­pe­lung von Funk­ti­ons­eli­te und Stimm­volk aus vol­lem Hals be­für­wor­tet, wäh­rend En­zens­ber­ger über­zeugt ist, dass die Ent­kop­pe­lung von Funk­ti­ons­eli­te und Stimm­volk, die die EU der­zeit (ab­sicht­lich!) ver­kör­pert, der Sy­stem­feh­ler schlecht­hin ist. Enezsn­ber­gers Fin­ger liegt in der Wun­de.

    Ak­zep­tiert man Men­as­ses Prä­mis­sen, läuft al­les dar­auf hin­aus, dass man – wie so oft auf der Lin­ken, ein au­to­riä­tes Po­li­tik­ver­ständ­nis be­vor­zugt mit dem Ver­weis auf künf­ti­ge Wohl­ta­ten – und ver­gan­ge­ne Gräu­el.

    Ganz kurz noch der da: Die au­to­ri­tä­re Lin­ke und die Da­vo­ser Funk­ti­ons­eli­te zie­hen in die­ser Sa­che an ei­nem Strang.

    En­zens­ber­ger ist vom lin­ken To­ta­li­ta­ris­mus gründ­lich ge­heilt (und nicht oh­ne er­heb­li­chen Weg­zoll in Form kras­ser Irr­tü­mer an den lin­ken Dis­kurs­gren­zen-Zoll­häus­chen ent­rich­tet zu ha­ben).

    Noch ein De­tail: Wie Hou­el­leb­cq lobt En­zens­ber­ger aus­drück­lich die Schwei­ze­ri­che Volks­de­mo­kra­tie. Die­ses obi­ge In­ter­view er­schien nicht um­sonst im schwei­ze­ri­schen Mo­nat.

  22. Ei­nen Link auf die ei­ge­ne Fest­plat­te set­zen, ist wohl die­ses noch nicht durch­schrit­te­ne Ter­rain.

  23. Dan­ke für’s Su­chen. Ich ha­be in Ih­rem Kom­men­tar den Hin­weis auf quote/unquote ein­ge­fügt, um ei­nen Un­ter­schied zu ma­chen. Der Link zum pdf im Netz ist hier. Das Ge­spräch ist von 2011.

    Die Aus­sa­gen En­zens­ber­gers sind in­ter­es­sant. Ge­gen En­de wird er ein biss­chen ei­tel. Aber das rüt­telt nicht an sei­nen Po­si­tio­nen.

  24. @die_kalte_Sophie
    Nun ja, war­um? Ein Teil der Auf­re­gung wird aus der Le­bens­welt der Men­schen stam­men, aus ih­rem Be­ruf, der Fa­mi­lie, dem All­tag; Un­zu­frie­den­heit und »Be­schleu­ni­gung« spie­len da ei­ne Rol­le und an­de­res auch. Ich kann die­sen Un­mut gut nach­voll­zie­hen, weil ich ihn an mir selbst in ei­nem Ab­schnitt mei­nes Le­bens er­lebt ha­be und weiß, dass er mit den Be­din­gun­gen zu tun hat, un­ter de­nen man lebt und ar­bei­tet. Häu­fig ist ein Teil be­rech­tigt und ei­ner selbst ver­schul­det. Die mei­sten wür­den, wenn sie es sich aus­su­chen könn­ten, wohl lie­ber oh­ne die­se emo­tio­na­len Zu­stän­de aus­kom­men. Egal wie häss­lich sie sind, sie ha­ben Grün­de und Ur­sa­chen. Das lässt mich vor­sich­tig sein, vor­sich­tig mit ver­all­ge­mei­nern­den mo­ra­li­schen Ur­tei­len (ich re­agie­re selbst emp­find­lich wenn, ich mer­ke, dass ich das Op­fer ei­ner Pro­jek­ti­on wer­de, al­ler­dings lö­sen mei­ne Emp­find­lich­kei­ten und Emo­tio­na­li­tä­ten, so be­rech­tigt sie sind, nicht das zu Grun­de lie­gen­de Pro­blem). Ich kann mich gut an ei­ne Fern­seh­dis­kus­si­on er­in­nern, in der ein öster­rei­chi­scher Po­li­to­lo­ge zur da­ma­li­gen Bun­des­spre­che­rin der öster­rei­chi­schen Grü­nen sag­te, dass die Trump­wäh­ler doch nicht ih­re Kli­en­tel sei­en. Man kann das na­tür­lich sa­gen, dass dann aber Stra­ßen­keh­rer, Müll­män­ner, Brief­trä­ger, Spe­di­teu­re, usw., ih­rer­seits hä­misch re­agie­ren, liegt in der Na­tur der Sa­che, weil die nicht nur ba­sa­le Ar­bei­ten er­le­di­gen, oh­ne die wir tat­säch­lich nicht aus­kom­men und die oh­ne­hin kaum je­mand ma­chen will, son­dern zum Teil zu je­ner »Mas­se« zäh­len, auf de­ren Rücken Pro­fit er­wirt­schaf­tet wird. Und es ist je­ne »Mas­se«, die den Kon­kur­renz­druck zu­erst zu spü­ren be­kommt.

    Wenn wir über Po­pu­lis­mus oder Na­tio­na­lis­mus re­den, dann sind das Phä­no­me­ne, die ich lie­ber ver­stan­den se­hen wür­de, als als Geg­ner apo­stro­phiert, weil das die­je­ni­gen, die viel­leicht be­rech­tigt mit den Ver­hält­nis­sen un­zu­frie­den sind, nur wei­ter auf­bringt. Es ist, als ob man Öl ins Feu­er schüt­tet. Ich fra­ge mich schon lan­ge, ob die Ur­sa­che der­ar­ti­ger, häu­fig ab­strak­ter, Er­klä­run­gen, »Nai­vi­tät« oder doch »Ab­sicht« ist. Aber wenn die Kla­gen des »Un­ten« ei­ne Be­rech­ti­gung ha­ben nicht nur in den Ver­hält­nis­sen, son­dern auch in der Ent­frem­dung, die die­se er­zeu­gen, dann ver­steh ich den Schul­ter­schluss mit dem »Oben« nicht.

  25. @ Gre­gor K.

    Ich hab jetzt so vie­le Hin­wei­se, Links und An­re­gun­gen be­kom­men, daß ich dem erst­mal nach­ge­hen möch­te und fürs er­ste nicht wei­ter kom­men­tie­re. Tref­fend scheint mir be­son­ders Ihr Hin­weis auf Men­as­ses »Jo­se­phi­nis­mus«. Ja, dar­auf wird sei­ne Vi­si­on wohl hin­aus­lau­fen. Ein Viel­völ­ker- oder Viel­re­gio­nen­staat, der von ei­ner (hof­fent­lich) gut qua­li­fi­zier­ten Be­am­ten- und Tech­ni­ker­eli­te ge­lenkt wird. De­mo­kra­ti­sche Ein­fluß- und Ent­schei­dungs­mög­lich­kei­ten nicht so wich­tig. Das weckt dann auch in mir ein un­gu­tes Ge­fühl, ob­wohl... Als Alt­öster­rei­cher kann ich dem Jo­seph II. und sei­nem Werkl nicht ganz oh­ne Sym­pa­thien ge­gen­über­ste­hen. Die Ver­nunft mö­ge re­gie­ren! Und daß Men­as­se den Kon­nex von Bil­dung und De­mo­kra­tie be­tont, fin­de ich auch sinn­voll, ja, not­wen­dig, um Po­pu­lis­men ein­zu­däm­men. Ich weiß al­ler­dings so­we­nig wie Men­as­se, wie man die­sen Kon­nex ge­währ­lei­sten soll.

  26. Ha­be jetzt die Re­zen­si­on Keu­sch­nigs von En­zens­ber­gers Eu­ro­pa-Buch (Sanf­tes Mon­ster Brüs­sel) ge­le­sen und fest­ge­stellt, daß dort die gan­ze ge­gen­wär­ti­ge Dis­kus­si­on schon an­ge­legt ist. Das wie­der­holt sich ei­gent­lich jetzt. Men­as­ses De­mo­kra­tie­gleich­gül­tig­keit, stel­len­wei­se so­gar De­mo­kra­tie­feind­lich­keit ist in der Tat frap­pie­rend – das müß­te ei­nen doch hun­dert­mal mehr auf­re­gen als ein un­schar­fes oder mei­net­we­gen »er­fun­de­nes« Hall­stein-Zi­tat. Auch schon dort ent­hal­ten ist der Vor­wurf an Men­as­se, des­sen Art, sich ge­gen Kri­tik zu ver­wah­ren, sei to­ta­li­ta­ri­stisch. Er geht auf En­zens­ber­ger zu­rück, nur mo­niert Keu­sch­nig, En­zens­ber­ger sei nicht streng ge­nug in der Hand­ha­bung sei­ner Kri­tik der Kri­tik.

  27. Ich mo­nie­re, dass En­zens­ber­ger zu feuil­le­to­ni­stisch ist. Sich über merk­wür­di­ge Ab­kür­zun­gen auf­zu­re­gen ist das Ei­ne. Das »De­mo­kra­tie­de­fi­zit« der EU kann man ja be­kla­gen, und es ist be­kannt. Aber was dann? En­zens­ber­ger stellt die Vor­tei­le her­aus, schreibt über die Nach­tei­le, die, wie er sel­ber zu­gibt, eher klein­lich auf­ge­fasst wer­den könn­ten. Wo­hin soll es ge­hen? Ideen hat­te En­zens­ber­ger ja – er ar­ti­ku­liert sie aber in ei­nem In­ter­view (was ich da­mals nicht wuss­te). In­so­fern ist »Sanf­tes Mon­ster Brüs­sel« nur ein Spass. Am En­de speist man.

    Dass bei ra­di­ka­len Be­für­wor­tern der EU, den »Vi­sio­nä­ren«, De­mo­kra­tie­de­fi­zi­te her­vor­schei­nen, ist fast na­tür­lich. Vie­le ver­ach­ten die Mas­sen. Deut­lich wur­de dies, als sich Ir­land in ei­nem Re­fe­ren­dum wei­ger­te, den Ver­trag von Lis­sa­bon, die so­ge­nann­te EU-Ver­fas­sung, durch­zu­win­ken. Schon der Tat­be­stand ei­nes Volks­ent­scheids wur­de als Sa­kri­leg auf­ge­fasst. Dass man dann zu­nächst den Ver­trag ab­lehn­te, erst recht. Es gab dann ei­ni­ge kos­me­ti­sche Zu­ge­ständ­nis­se. Und dann wur­de neu ab­ge­stimmt.

    Ich bin ja sehr wohl ein An­hän­ger von Ha­ber­mas, wenn er sinn­ge­mäss (!) sagt, dass die EU in al­len Län­dern zu­nächst ein­mal neu le­gi­ti­miert wer­den soll­te. Hier­für muss man al­ler­dings wer­ben, zur Not auch mit rhe­to­ri­schen Mit­teln (aber nicht mit Fäl­schun­gen!) kämp­fen. Statt­des­sen wird die Al­ter­na­tiv­lo­sig­keit be­schwo­ren und da­mit ge­droht, dass neue Krie­ge ent­ste­hen könn­ten, falls Grie­chen­land aus dem Eu­ro aus­tre­ten müss­te.

    Die EU galt in Deutsch­land jahr­zehn­te­lang als un­an­tast­bar. Es galt und gilt das Po­stu­lat, dass sie gut und rich­tig sei. Die po­li­ti­schen Ak­teu­re sel­ber ha­ben dies in Sonn­tags­re­den ge­sagt – ge­han­delt ha­ben sie an­ders. Da­durch hat sich der Ein­druck ver­fe­stigt, dass die EU ein Eli­ten­pro­jekt sei. Zum 50. Jah­res­tag der Rö­mi­schen Ver­trä­ge fiel den Me­di­en nichts an­de­res ein, als die Rei­se­frei­heit als Er­run­gen­schaft her­aus­zu­stel­len. Man mag es als Un­dank­bar­keit ab­tun, aber die­ser Vor­zug ist längst als Selbst­ver­ständ­lich­keit auf­ge­fasst wor­den.

  28. @Leopold Fe­der­mair
     
    Es geht kon­kret nicht um ein »er­fun­de­nes« (in An­füh­rungs­zei­chen) oder un­schar­fes Zi­tat. Das Zi­tat ist ERFUNDEN und steht in ekla­tan­ten Wi­der­spruch zur da­ma­li­gen Po­si­ti­on Hall­steins. Die Zi­ta­te »Die Ab­schaf­fung der Na­ti­on ist die eu­ro­päi­sche Idee» und «Das Ziel des eu­ro­päi­schen Ei­ni­gungs­pro­zes­ses ist die Über­win­dung des Na­tio­nal­staa­tes« und »Ziel ist und bleibt die Über­win­dung der Na­ti­on und die Or­ga­ni­sa­ti­on ei­nes nach­na­tio­na­len Eu­ro­pa« sind vor der jetzt kri­ti­sier­ten li­te­ra­ri­schen Ver­wer­tung von Men­as­se laut Wink­ler in sei­nem Buch von 2017 an drei Stel­len ver­wen­det wor­den – in der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Sonn­tags­zei­tung 2013, in sei­nem po­li­ti­schen Buch »Hei­mat ist die schön­ste Uto­pie. Re­den (wir) über Eu­ro­pa« von 2014 und in dem On­line-Ar­ti­kel »Kur­ze Ge­schich­te der eu­ro­päi­schen Zu­kunft. Oder war­um wir er­rin­gen müs­sen, was wir ge­erbt: Das Eu­ro­pa der Re­gio­nen« von 2015 auf »The Eu­ro­pean«. Der Ar­ti­kel be­ginnt pi­kan­ter­wei­se auch noch mit dem Bild von Hall­stein, s. Ei­ne kur­ze Ge­schich­te der eu­ro­päi­schen Zu­kunft. Der Bei­trag fin­det sich auch in Buch­form in dem Sam­mel­band »Kur­ze Ge­schich­te der Eu­ro­päi­schen Zu­kunft«, S. 27–37 von 2016
     
    Wink­ler be­schäf­tigt sich in sei­nem Buch »Zer­bricht der We­sten?« aus dem Jahr 2017 im Ka­pi­tel 2 mit dem The­ma »Die Na­ti­on über­win­den oder über­wöl­ben« und geht hier auf Men­as­se ein. In dem von Keu­sch­nig ver­link­ten Bei­trag von Krieg­ho­fer gibt es üb­ri­gens ei­nen Re­fe­renz­link in der Fuß­no­te auf die­ses Buch­ka­pi­tel bei Goog­le, was an­schei­nend voll­stän­dig les­bar ist.
     
    Laut Wink­ler, und das ist der zen­tra­le Vor­wurf, sind die Zi­ta­te nicht nur nicht be­legt, »sie wi­der­spre­chen auch dia­me­tral dem, was Hall­stein bei zwei der von Men­as­se ge­nann­ten An­läs­se tat­säch­lich ge­sagt hat«:
     
    »In sei­ner er­sten Re­de vor dem Eu­ro­päi­schen Par­la­ment be­schrieb der frisch er­nann­te Kom­mis­si­ons­prä­si­dent am 19. März 1958 die Eu­ro­päi­sche Wirt­schafts­ge­mein­schaft als ei­ne «Staa­ten­ge­mein­schaft mit star­ken fö­de­ra­ti­ven Zü­gen». Vor dem Eu­ro­päi­schen Ge­mein­de­tag in Rom er­teil­te er am 15. Ok­to­ber 1964 zwar der Idee der na­tio­nal­staat­li­chen Sou­ve­rä­ni­tät al­ten Stils «und der heu­ti­gen po­li­ti­schen Form der Na­tio­nen» ei­ne Ab­sa­ge, eben­so aber auch der Fol­ge­rung, «dass die be­stehen­de po­li­ti­sche Ord­nung aus­ge­löscht, durch ei­nen eu­ro­päi­schen Su­pra­na­tio­nal­staat er­setzt wird». Es ge­he viel­mehr dar­um, die «Kraft­quel­len der eu­ro­päi­schen Na­tio­nen zu er­hal­ten, ja sie zu noch le­ben­di­ge­rer Wir­kung zu bringen».[8]

  29. Men­as­se hat ja zu­ge­ge­ben, daß ei­ni­ge Zi­ta­te nicht kor­rekt wa­ren. Er meint aber, er ha­be mit die­sen Sät­zen be­tref­fend das mög­li­che oder ge­wünsch­te Ver­schwin­den der Na­tio­nen Hall­steins den­ken auf den Punkt ge­bracht (ich kann selbst nicht be­ur­tei­len, in­wie­weit das zu­trifft, und ha­be auch kei­ne Lust, die Schrif­ten Hall­steins zu le­sen). Aber die Recht­fer­ti­gung Men­as­ses in der österr. Zei­tung Die Pres­se soll­te man zu­min­dest zur Kennt­nis neh­men:

    »Ich ha­be die Quel­le im­mer ge­nannt, näm­lich die Rö­mi­sche Re­de Hall­steins vom 15. Ok­to­ber 1964. Ver­bürgt ist Hall­steins Fest­stel­lung, dass kei­ne eu­ro­päi­sche Na­ti­on al­lein den Her­aus­for­de­run­gen der Zu­kunft ge­wach­sen sein kann. Er stellt in die­ser Re­de klar, dass das eu­ro­päi­sche Ei­ni­gungs­werk nicht auf ei­ner „sche­men­haf­ten Idee“ oder ei­nem „ne­bel­haf­ten Traum“ auf­baut, son­dern auf der „Wirk­lich­keit“, den „Rea­li­tä­ten Eu­ro­pas“. Und was sind die­se? „Als er­ste eu­ro­päi­sche Rea­li­tät sieht un­ser Ei­ni­gungs­werk den eu­ro­päi­schen Men­schen, den Eu­ro­pä­er als Ein­zel­we­sen.“ Das folgt klar dem be­rühm­ten Satz von Jean Mon­net, dass es beim eu­ro­päi­schen Pro­jekt dar­um ge­he, „Men­schen zu ei­nen und nicht Na­tio­nen zu in­te­grie­ren“. (...) Hall­stein zi­tiert den fran­zö­si­schen Au­ßen­mi­ni­ster Ro­bert Schu­man, dass es um ei­ne „So­li­da­ri­tät der Tat­sa­chen“ ge­he, „d. h. ei­ne So­li­da­ri­tät ge­mein­sa­men Han­delns, ge­mein­sa­men mensch­li­chen Tuns“, und das ist als eu­ro­pa­po­li­ti­sches Pro­gramm et­was deut­lich an­de­res als die von Na­tio­na­li­sten ge­for­der­te Ver­tei­di­gung „na­tio­na­ler In­ter­es­sen“ in der Uni­on. Da­her hat Hall­stein die Eu­ro­päi­sche Kom­mis­si­on als ei­ne „su­pra­na­tio­na­le“ und nicht als ei­ne „in­ter­na­tio­na­le In­sti­tu­ti­on“ ver­stan­den und auf­ge­baut, wo­durch be­kannt­lich der Kon­flikt mit Charles de Gaul­le ent­stand.«

    Men­as­se führt das al­les noch wei­ter aus und zi­tiert zu­letzt noch ein­mal (hof­fent­lich kor­rekt) Hall­stein: „Die Völ­ker Eu­ro­pas wis­sen, dass sie das Maß an Selbst­stän­dig­keit, an Selbst­be­stim­mung, das sie im eu­ro­päi­schen Zu­sam­men­schluss auf­ge­ben, auf hö­he­rer Ebe­ne wie­der­fin­den.“ Die heu­ti­gen po­li­ti­schen Or­ga­ni­sa­ti­ons­for­men, näm­lich die Na­tio­nen, sei­en (Men­as­se zi­tiert wie­der­um Hall­stein) »For­men, die in der Ver­gan­gen­heit, in ei­ner ganz be­stimm­ten ge­schicht­li­chen Pe­ri­ode ih­re Be­rech­ti­gung (...) ge­habt ha­ben. Wir kön­nen aber die Zeit nicht an­hal­ten.“

    Den von Axel B. zi­tier­ten Hall­stein­schen Satz, die »Kraft­quel­len der eu­ro­päi­schen Na­tio­nen« sei­en »zu er­hal­ten«, ja sie sei­en »zu noch le­ben­di­ge­rer Wir­kung zu brin­gen«, die­sen Satz und die­se Ein­schrän­kung hat Men­as­se, der ja be­son­ders die rö­mi­sche Re­de Hall­steins her­an­zieht, al­so aus­ge­blen­det? (Das wä­re mei­ne Fra­ge an @Axel B.)

    Men­as­se Staats­künst­ler oder nicht, er ist von sei­nem Wer­de­gang her nicht nur Jo­se­phi­ner, son­dern auch und vor al­lem He­ge­lia­ner, der Ti­tel sei­nes er­sten Ro­mans ei­ne An­spie­lung auf He­gel, fast ein Zi­tat (»Sinn­li­che Ge­wiß­heit«). Ich le­se Men­as­se schon seit Jah­ren nicht mehr bzw. nur im spo­ra­disch im Feuil­le­ton, ha­be aber den Ein­druck, daß er die­sen Hi­sto­ri­zis­mus nie auf­ge­ge­ben hat. Ver­mut­lich hat er ei­ne hi­sto­ri­sche Ten­denz zum Ver­schwin­den der Na­tio­nal­staa­ten fest­ge­stellt und meint, die­ser Ten­denz im (sub­jek­ti­ven) Den­ken und auch Han­deln ent­spre­chen zu müs­sen.

    Men­as­se Staats­li­te­rat? Viel­leicht in dem Sinn, wie man in He­gel den preu­ßi­schen Staats­phi­lo­so­phen se­hen kann.

  30. Axel B.’s Aus­schnit­te von Wink­ler zei­gen ja, dass Men­as­se so­gar die In­ten­tio­nen Hall­steins ver­fälscht ha­ben soll.

    Wenn Men­as­se Mon­net zi­tiert, sind in­zwi­schen auch Zwei­fel an­ge­bracht. Man le­se die­ses hier. Es ist ein­fach nur noch er­bärm­lich. (Im­mer­hin scheint er sich von der Kri­tik er­holt zu ha­ben: er sei »kom­plett tie­fen­ent­spannt«, wie es heisst.)

    Bis auf ei­nes sind die an­de­ren Zi­ta­te, die von Hall­stein stam­men soll­ten, bei Goog­le nicht auf­find­bar – au­ßer in ei­nem Ar­ti­kel von Men­as­se sel­ber in der »Welt«. Das hat nichts zu sa­gen. Oder doch? Kei­ne Ah­nung.

  31. Ich glau­be vie­le – da­zu zählt auch Men­as­se – be­mer­ken, dass da po­li­tisch et­was ent­glei­tet. Ich hal­te die­ses Ge­fühl für rich­tig. Was Fi­gu­ren wie Men­as­se nicht be­mer­ken, ist, dass sie mit ih­ren For­de­run­gen nach Mehr – vom – Glei­chen Teil des Pro­blems sind und nicht der Lö­sung.

    Die Be­ru­fung auf Ausch­witz ist da ein In­diz für ei­ne Ver­le­gen­heit und letzt­lich ein Nick für ei­ne ver­meint­li­che Al­ter­na­tiv­lo­sig­keit, in­so­fern mit ihr ja häu­fig sehr kon­kre­te po­li­ti­sche For­de­run­gen ver­bun­den sind, die die­se al­ter­na­tiv­lo­se Tie­fe gar nicht ha­ben. Es ist ei­ne Dra­ma­ti­sie­rung. Man könn­te es auch mo­ra­li­sche Er­pres­sung nen­nen. Ich glau­be die­ses tief­ge­leg­te – oder hoch­tö­nen­de – Ar­gu­ment macht die er­heb­li­che Fall­hö­he aus, die so viel An­lass zur Hä­me gibt. Das ei­gent­li­che Er­eig­nis, die Falsch­zi­ta­ti­on, wird erst vor die­sem Hin­ter­grund ge­wich­tig, für sich ge­nom­men wä­re es Pil­le­pal­le.

    Hä­me ist das ad­äqua­te Pen­dant zu die­ser von Men­as­se in­ten­dier­ten Fei­er­lich­keit. Mit Hä­me wird re­agiert auf die Schlie­ßung des Ar­gu­men­ta­ti­ons­rau­mes und der Zu­wei­sung ei­nes Plat­zes am Kat­zen­tisch der mo­ra­lisch und in­tel­lek­tu­ell un­zu­rech­nungs­fä­hi­gen Schmud­del­kin­der, de­nen man nicht zu­bil­ligt, mit Mes­ser und Ga­bel es­sen zu kön­nen. Dar­auf re­agie­ren sie eben fälsch­li­cher­wei­se oft, in­dem in­tel­lek­tu­el­les Fin­ger­food zu ei­ner ku­li­na­ri­schen De­li­ka­tes­se hoch­pro­mo­viert wird. Das sind dann die­se Schein­al­ter­na­ti­ven, in de­nen man sich be­wegt. In der Par­tei­po­li­tik hei­ßen die An­ti­po­den in Rein­form: AFD und Grü­ne – al­les an­de­re sind Misch­for­men. Bei bei­den muss man über­wie­gend nur das Vor­zei­chen wech­seln, um beim je­weils an­de­ren zu lan­den, der Denk­stil ist oft sehr ähn­lich, näm­lich kul­tu­ra­li­stisch. So lan­det man eben oft und auf vie­len Ebe­nen bei völ­lig fal­schen Al­ter­na­ti­ven, die er­heb­li­che Tei­le der Rea­li­tät aus­blen­den: ent­we­der über­mä­ßi­ger Fleisch­kon­sum oder ve­ga­ne Man­gel­er­näh­rung. Da muss man je nach Peer­group schon aus ideo­lo­gi­schen Grün­den mit der Zun­ge schnal­zen: hm – lecker! Dar­aus re­sul­tiert auch, dass in­zwi­schen wich­ti­ger ist, wer et­was sagt als was er sagt.

    Aus die­sem Grun­de schon liegt Men­as­se falsch, und falsch lä­ge er auch, wenn schon Hall­stein, in noch an­de­rem Kon­text, die­sen in­zwi­schen völ­lig of­fen­ba­ren Irr­tum pro­pa­giert und die­se Äu­ße­rung so und am be­haup­te­ten Ort ge­tan hät­te. Mit Irr­tum mei­ne ich nicht et­wa, dass Hall­stein ei­ne sol­che Po­si­ti­on rein theo­re­tisch da­mals nicht hät­te mit mo­ra­li­scher Wür­de ver­tre­ten kön­nen – das hät­te er sehr wohl. Auf die­ser mo­ra­li­schen Ebe­ne stimmt Men­as­se Ar­gu­ment, Hall­stein hät­te die­se Äu­ße­run­gen da­mals so ge­tä­tigt ha­ben kön­nen. Den­noch ver­hed­dert er sich in sei­ner Selbst­ver­tei­di­gung in sei­ner mo­ra­li­schen Selbst­be­spie­ge­lung, denn hi­sto­risch hat er Un­recht. Sol­che Äu­ße­run­gen Hall­steins wä­ren als Grün­dungs­ar­gu­ment für die EU (nen­nen wir die Früh­form ein­fach mal so) zeit­un­ty­pisch ge­we­sen, er hät­te sich in der Durch­schlags­kraft sei­nes Ar­gu­men­tes emp­find­lich ge­irrt. Men­as­se muss­te gar nicht falsch zi­tie­ren, um Un­recht zu ha­ben. Sei­ne Po­si­ti­on wä­re auch bei kor­rek­ter Zi­ta­ti­on aus­ge­spro­chen fra­gil in­so­fern, als sie un­ter­stellt, da­mals wä­ren die Deut­schen und an­de­re, et­wa Frank­reich und spä­ter Groß­bri­tan­ni­en, für das Pro­jekt Eu­ro­pa mit haupt­säch­lich die­sem Ar­gu­ment zu ge­win­nen ge­we­sen. Das Ar­gu­ment war wohl eher: Schwamm drü­ber, wir fan­gen kon­trol­liert neu an – und an­de­re, auch hand­fe­ste In­ter­es­sen, das führ­te jetzt zu weit. Dass je­mand sich schon vor Jahr­zehn­ten gleich ge­irrt hät­te wie Men­as­se selbst in der re­al­po­li­ti­schen Re­le­vanz sei­nes Ar­gu­ments, än­der­te am Irr­tum ja gar nichts. Be­zeich­nend ist aber, dass Men­as­se of­fen­bar das dif­fu­se, viel­leicht nicht zur Gän­ze be­wuss­te Ge­fühl hat­te, sei­ne Po­si­ti­on las­se sich nur mit Fik­tio­nen mo­ra­li­scher Ein­deu­tig­keit wirk­sam ver­tei­di­gen. Und ei­ne Au­to­ri­tät müs­se her! Es gibt zu­dem auch Äu­ße­run­gen, die dar­auf hin­deu­ten, dass wir es nicht mit klas­si­schem Be­trug und be­wußt stra­te­gi­scher Un­red­lich­keit zu tun ha­ben, son­dern dass Men­as­se das selbst so glaubt. Für ihn wa­ren sei­ne Er­fin­dun­gen mo­ra­lisch plau­si­bi­li­sier­te Hi­sto­rie, da­her die zu­min­dest man­geln­de Sorg­falt. Dass al­les dif­fus bleibt wie @Keuschnig tref­fend schreibt, ge­hört zur Ar­gu­men­ta­ti­on, denn an­ders funk­tio­niert sie ja nicht.

    Hier sind wir ei­gent­lich auch ganz dicht beim Sto­ry­tel­ling von Re­lo­ti­us – da könn­te si­cher­lich auch man­ches Er­fun­de­ne so ge­we­sen sein. Und wenn ein re­flek­tier­ter Li­te­ra­tur­kri­ti­ker (den ich durch­aus schät­ze) und zu­gleich Preis­be­triebs­ma­na­ger (den ich in­zwi­schen für in­halt­li­che Un­be­stech­lich­keit et­was zu ver­netzt fin­de) wie Hu­bert Win­kels zur Halb­ver­tei­di­gung Men­as­ses von qua­si er­fun­de­nen Zi­ta­ten spricht, und ihm da­bei die un­frei­wil­li­ge Ko­mik sol­cher Äu­ße­run­gen nicht auf­fällt, sind wir be­denk­lich na­he an den „al­ter­na­ti­ve facts“ von Trumps Re­gie­rungs­spre­che­rin. Und wer sprach denn da? Der ge­schätz­te Kri­ti­ker? Oder der leicht miss­trau­isch be­äug­te Preis­ver­lei­hungs­netz­wer­ker?

    Wenn Men­as­se sich auf die Grün­der­ge­nera­ti­on be­ruft wie Rom auf die Kir­chen­vä­ter, könn­te mir das in fe­stem ka­tho­li­schen Glau­ben der Form nach ja noch sym­pa­thisch sein. Wenn er al­ler­dings But­ter­ber­ge mit Gol­ga­tha ver­wech­selt, geht´s deut­lich zu weit. Das ist doch al­les nicht nur ein biss­chen zu dicke. Dass von Ih­nen, lie­ber Herr Keu­sch­nig, ver­wen­de­te Wort „to­ta­li­tär“ fin­de ich da al­ler­dings bei al­lem Dank für den schö­nen Bei­trag auch ein biss­chen zu dicke. Even­tu­ell ha­ben Sie da, in von mir ge­teil­ter Säu­er­nis über so viel Un­ver­fro­ren­heit und der all­zu gro­ßen Nei­gung des Be­trie­bes zur Ge­ne­ral­ab­so­lu­ti­on des Ge­neh­men, un­frei­wil­lig Men­as­ses Me­tho­de des Zu­tief­boh­rens mit­ge­spielt. Auch da gin­ge es ei­ne Num­mer klei­ner noch tref­fend.

    Das von Ih­nen an­ge­führ­te „Ba­by­lon Ber­lin“ ha­be ich noch vor mir. Mein Vor­ab­ver­dacht, dass hier die an­tik- re­li­gi­ös fun­dier­te Be­deu­tungs­schnor­re­rei der zwan­zi­ger Jah­re auch für die Ge­gen­wart des heu­ti­gen Ber­lin plau­si­bel ge­macht wer­den soll, las­sen mich dem Ver­gnü­gen mit ge­misch­ten Ge­füh­len ent­ge­gen se­hen. Aber ich werd´s se­hen...

    Im üb­ri­gen – letz­ter Satz – ist Men­as­ses Po­si­ti­on – bei Dif­fe­ren­zen im De­tail – von der ei­nes Hoch­ka­rä­ters wie Ha­ber­mas nicht sehr ver­schie­den.

  32. Lie­ber Ju­mid, vie­len Dank für die­sen Kom­men­tar, dem ich in na­he­zu al­len Punk­ten zu­stim­men kann.

    Die Vo­ka­bel »to­ta­li­tär« soll­te aus­drücken, dass da je­mand auf sei­ne ent­stel­len­den Er­fin­dun­gen da­hin­ge­hend pocht, dass Kri­tik dar­an ir­gend­wel­chen Rechts­extre­men hel­fe. Das sug­ge­riert für mich, dass man die­se zu un­ter­las­sen ha­be, da man an­dern­falls die­sen Leu­ten zu­spie­le. Das Wort mag un­ge­lenk ge­wählt sein, viel­leicht ist es auch falsch. Aber da­für gibt es ja die­se Kom­men­tar­mög­lich­keit hier, von der Sie glück­li­cher­wei­se Ge­brauch ge­macht ha­ben.

  33. Ju­mid, Sie schrei­ben, dass Ha­ber­mas’ und Men­as­ses EU-Po­si­tio­nen so ca. gleich sei­en. Es gibt aber zu­min­dest ei­nen fun­da­men­ta­len Un­ter­schied: Ha­ber­mas ist si­cher nicht “jo­se­phi­nisch«.

    Men­as­se schon, da stim­me ich dem oben von Federmair/Keuschnig/Jumid ge­sag­ten zu. Men­as­se amal­ga­miert die alt­lin­ke eli­ti­sti­sche Tra­di­ti­on mit dem top-ak­tu­el­len Post­de­mo­kra­tis­mus und schon et­was ab­ge­han­ge­nen De­kon­struk­ti­vis­mus usw. – und auch der Post­de­mo­kra­tis­mus und der De­kon­struk­ti­vis­mus sind ten­den­zi­ell je­den­falls eli­ti­sti­sche Denk­schu­len, wie ich fin­de.

    - Für die Rein­form der Feh­ler-Ver­kör­pe­rung kann man Men­as­se durch­aus dank­bar sein: In sei­ner EU-Po­si­ti­on sind et­li­che der au­to­ri­tä­ren, an­ti­auf­klä­re­ri­schen und eli­ti­sti­schen De­fek­te der EU ge­bün­delt, nur dass er sie halt als Vor­zü­ge oder we­nig­stens not­wen­di­ge Übel be­greift.

    Das zen­tra­le Pro­blem des EU-De­mo­kra­tie­de­fi­zits sieht ne­ben Ha­ber­mas auch En­zens­ber­ger – und zwar klar und deut­lich. Sei­ne Ab­kür­zungs-Le­se in “Sanf­tes Mon­ster” soll man bes­ser nicht als ge­schmäck­le­risch ein­sor­tie­ren.

    Denn En­zens­ber­ger zeigt mit die­sem Ab­kür­zungs­wald die – DURCH MANGELNDE DEMOKRATISCHE KONTROLLE – ver­ur­sach­te bü­ro­kra­ti­sche Hy­per­tro­phie der ak­tu­el­len EU. Er ver­an­schau­licht so – durch­aus un­ter­halt­sam (das geb ich zu ) – die in Straß­burg u n d (seufz) Brüs­sel ob­wal­ten­de Nei­gung gro­ßer Or­ga­ni­sa­tio­nen, mehr und mehr zum Selbst­zweck zu wer­den, ja zu ei­nem ge­schlos­se­nen Be­zugs- und Ver­weis­sy­stem (En­zens­ber­ger hat nicht nur Luh­mann ge­treu­lich stu­diert, son­dern halt auch Franz Kaf­ka zur Hand, wenn es gilt).

    Wer sich dem Wahl­volk nicht stellt, hy­per­tro­phiert ins Mon­strö­se. Das ist En­zens­ber­gers aus Kaf­ka und Luh­man zu so ca. glei­chen Tei­len fun­dier­te EU-Kri­tik in ei­nem Satz.

    Und des­we­gen ist es eben ganz plau­si­bel, dass er im Schwei­ze­ri­schen Mo­nat die­se Din­ge im Plau­der­ton, aber gleich­wohl sehr prä­zis, zu­sam­men­fasst: Die Schweiz ist näm­lich ein glück­li­ches Bei­spiel da­für, wie die po­li­ti­sche In­te­gra­ti­on di­ver­ser Kul­tu­ren über sehr aus­dif­fren­zier­te de­mo­kra­ti­sche (und kom­mu­ni­ka­ti­ve!) Struk­tu­ren ge­lin­gen kann. Die Schweiz, das hat auch Ha­ber­mas wie­der­holt ge­sagt, ist ein Mo­dell für die EU. Man muss das, fü­ge ich hin­zu, nur ver­ste­hen – und soll es, fin­de ich, auch wür­di­gen – von mir aus durch Kri­tik…

    PS

    (Die Idee, die AfD am Na­sen­ring ih­rer Schwei­ze­ri­schen Sehn­süch­te durch die Are­na der hie­si­gen Öf­fent­lich­keit zu füh­ren, wie das in letz­ter Zeit in Ba-Wü häu­fi­ger ge­tan wor­den ist (nicht zu­letzt mit Hil­fe von Gi­se­la Er­ler, der Ba-Wü “Staats­rä­tin für Zi­vil­ge­sell­schaft und Bür­ge­be­tei­li­gung«, ist des­halb kei­ne ganz per­fek­te Idee, um die­ses Pro­blem hier sehr mild zu fas­sen).

  34. Aus ei­nem In­ter­view mit Men­as­se in der Aar­gau­er Zei­tung, 2015 (@ Die­ter Kief):

    »Für ei­nen Schwei­zer ist der Kan­ton wich­ti­ger als die Na­ti­on. Das passt per­fekt in ein künf­ti­ges nach­na­tio­na­les Eu­ro­pa der Re­gio­nen. Und was heu­te di­rek­te De­mo­kra­tie heisst, ist nur ei­ne Vor­stu­fe der sub­si­diä­ren De­mo­kra­tie ei­ner künf­ti­gen eu­ro­päi­schen Re­pu­blik.«

    Men­as­se denkt Sub­si­dia­ri­tät eben oh­ne die – für ihn – über­flüs­sig wer­den­de Zwi­schen­stu­fe der Na­ti­on.

    Ich will hier nicht den Ad­vo­ca­tus dia­bo­li spie­len, aber zu den Aus­füh­run­gen Ju­mids fällt mir die Fa­mi­li­en­ge­schich­te Men­as­ses und auch sein Ro­man »Die Ver­trei­bung aus der Höl­le« ein, der ei­nen Fa­den von der NS-Ju­den­ver­fol­gung zu­rück ins 17. Jahr­hun­dert spinnt. Men­as­ses Va­ter, der sehr ta­len­tier­te Fuß­ball­spie­ler Hans Men­as­se, 1930 ge­bo­ren, kam 1938 mit ei­nem Kin­der­trans­port nach Eng­land und ent­ging da­durch wahr­schein­lich dem KZ. Nach dem Krieg kehr­te er nach Wien zu­rück, spiel­te bei der Vi­en­na und auch im Na­tio­nal­team.

    Ich er­wäh­ne das, wohl wis­send, daß Per­sön­li­ches nicht vor ver­fehl­ten Ar­gu­men­ta­tio­nen schützt und die­se kei­nes­falls recht­fer­tigt. Aber auch, wenn man von Fa­mi­li­en­ge­schich­ten ab­sieht: Die Rea­li­tät der Welt­krie­ge und der Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger, der Mil­lio­nen To­ten, ist nun ein­mal die Aus­gangs­la­ge für eu­ro­päi­sche Po­li­tik Mit­te des 20. Jahr­hun­derts, ob man das nun »dra­ma­tisch« fin­det oder nicht. Da­zu gibt es tat­säch­lich nur die ei­ne Al­ter­na­ti­ve: Ko­ope­ra­ti­on statt Kon­fron­ta­ti­on. Au­ßer, man nimmt neue Ka­ta­stro­phen ähn­li­chen Aus­ma­ßes in Kauf. Wie die­se Ko­ope­ra­ti­on aus­zu­se­hen hat, in Be­zug auf die­se Fra­ge gibt es selbst­ver­ständ­lich Al­ter­na­ti­ven, und es ist not­wen­dig, sie zu dis­ku­tie­ren.

    In Be­zug auf das Wei­te­re ha­be ich kei­ne Ein­wän­de ge­gen Ju­mids Bei­trag, au­ßer viel­leicht den schon von Die­ter Kief er­ho­be­nen, Ha­ber­mas be­tref­fen­den.

  35. Chri­sti­an Mei­er ver­weist in sei­nem Es­say »Das Ge­bot zu ver­ges­sen und die Un­ab­weis­bar­keit des Er­in­nerns« auf ei­ne seit der An­ti­ke exi­stie­ren­de Tra­di­ti­on des Ver­ges­sens ge­walt­tä­ti­ger kol­lek­ti­ver Aus­ein­an­der­set­zun­gen, die nicht nur ei­nen Neu­an­fang er­mög­li­chen soll­te, son­dern vor al­lem ei­ne Wie­der­kehr der Ge­walt durch Er­in­ne­rung an die Er­eig­nis­se (der zwei­te Welt­krieg brach et­wa ge­ra­de in dem Wis­sen um und die Er­in­ne­rung an Ver­sailles und den er­sten Welt­krieg aus). Nur in der jü­di­schen Tra­di­ti­on ha­be er (Mei­er) Ge­gen­bei­spie­le ge­fun­den, Er­in­ne­rung wird dort – so­zu­sa­gen – ein­ge­mahnt oder ein­ge­for­dert. Ausch­witz so Mei­er, wi­der­strei­te die­ser Tra­di­ti­on des Ver­ges­sen.

    Be­zo­gen auf die Dis­kus­si­on oben, könn­te man sa­gen, ha­ben die eu­ro­päi­schen Staa­ten Ausch­witz und die na­tio­nal­so­zia­li­sti­schen Ver­bre­chen in ih­rem kol­lek­ti­ven Ge­dächt­nis be­hal­ten, mit dem Man­ko, dass die Er­in­ne­rung heu­te sehr ri­tua­li­siert wirkt. Im Hin­blick auf ih­re ei­ge­ne »Ge­mein­schaft« (EU) ha­ben sich die be­tei­lig­ten Staa­ten eher an »ih­re Tra­di­ti­on« ge­hal­ten, die größ­ten Ver­bre­cher und Ver­bre­chen be­straft, man­ches si­cher­lich über­se­hen und die Din­ge dann auf sich ru­hen las­sen. — In den Dis­kus­sio­nen um die Schul­den Grie­chen­lands kam die­se Ver­gan­gen­heit als For­de­rung ge­gen Deutsch­land kurz­zei­tig wie­der her­vor, an­son­sten hält die­se aus­ge­spro­che­ne oder un­aus­ge­spro­che Ver­ein­ba­rung, öf­fent­lich Still­schwei­gen zu be­wah­ren. Ein gro­ßer, Eu­ro­pa um­span­nen­der Krieg ist bis­lang zu­min­dest aus­ge­blie­ben, an­de­re hat es frei­lich ge­ge­ben.

  36. Ich wa­ge mich noch ein­mal an die Po­lit-Psy­cho­lo­gie: Men­as­se ver­ab­schie­det er­kenn­bar den Staat / die Na­ti­on, oh­ne das ge­ring­ste Wim­pern­zucken. Es ist ein Op­fer, das ihm sehr leicht fällt, denn das »Ei­gen­tum am Op­fer« wür­de er gar nicht be­an­spru­chen. Er op­fert nicht et­was, was ihm ge­hört, son­dern et­was, was er nicht »ha­ben will«...
    Ich bit­te die­se von mir ge­fer­tig­te Unterstellung/Interpretation zu prü­fen. Denn sie steht in ei­nem Kon­trast zum all­ge­mei­nen Mo­dell des Tau­sches, das zum Bei­spiel Hall­stein her­an­zieht, wenn er von ei­nem Ver­zicht auf Selb­stän­dig­keit spricht, wel­che die eu­ro­päi­schen Völ­ker zu­nächst her­ge­ben, um sie dann auf hö­he­rer Ebe­ne wie­der­zu­fin­den. Man op­fert et­was, und kriegt et­was da­für. Das ist mensch­lich und nor­mal. Das nennt man Tausch­han­del.
    Men­as­se op­fert et­was, das er gar nicht will, weil es ihm be­fremd­lich vor­kommt. Und die­se Trans­ak­ti­on ist nicht auf den Vor­teil des Ge­winns, son­dern auf den »Vor­teil des Ver­lu­stes« hin an­ge­legt. Die­ses Ge­schäft ist ab­surd, oder kai­ni­tisch: ich op­fe­re mein schlech­te­stes Schaf, der Herr­Gott wirds nicht mer­ken, und das ma­che ich gern, denn ich hat­te schon im­mer das Ge­fühl, dass es nicht »zu mir ge­hört«...
    Jetzt wird’s bi­blisch, mei­ne Her­ren!
    Dar­auf ge­kom­men bin ich durch den heu­ti­gen Kom­men­tar im Stan­dard, wo Pohl an die al­te lin­ke Aver­si­on ge­gen­über dem bür­ger­li­chen Staat er­in­nert.
    Sehr grob: Men­as­se geht es nicht um die De­mo­kra­tie, es geht ihm nicht um die Na­ti­on. Die In­ten­ti­on be­steht dar­in, ein Kon­zept des Staa­tes los­zu­wer­den, mit dem er (und vie­le) sich par­tout nicht an­freun­den kön­nen.
    Lei­der fehlt mir für ei­ne voll­stän­di­ge Ana­ly­se der theo­re­ti­sche Hin­ter­grund. Das geht in die Tie­fe, hat mit Ter­ri­to­ri­um vs. Erd­ball, Ver­trag vs. Ge­wohn­heit, Or­ga­ni­sa­ti­on vs. Plan zu tun.
    Und doch liegt @jumid rich­tig. Es kann als der Ver­such be­trach­tet wer­den, ein Un­be­ha­gen zu be­sei­ti­gen. Der po­li­ti­sche Wil­le geht be­kannt­lich vom Vol­ke aus. Ei­ne Kol­lek­tiv-Sin­gu­lar-In­stanz. Die Wil­lens­bil­dung und die Le­gi­ti­ma­ti­on ver­lau­fen da­bei par­al­lel, bei al­ler Di­ver­si­tät und In­ter­ak­ti­on. Feed­back und Wi­der­stand ge­hö­ren zum Ge­schäft. Was nicht mehr ins De­mo­kra­tie-Mo­dell passt, ist ein Plu­ral von Kol­lek­ti­ven (die 28) mit zwei Re­gie­run­gen (aus do­me­sti­scher Sicht, Na­ti­on und EU), wo­bei die ei­ne sou­ve­rän er­klärt ist, und die an­de­re in­te­gra­tiv le­gi­ti­miert ist. Die in­te­gra­ti­ve Le­gi­ti­ma­ti­on ist ei­gent­lich su­per-de­mo­kra­tisch, sie stellt ei­ne Qua­dra­tur des Prin­zips dar.
    Ha­ber­mas er­klärt ja so schön die neue zwei­te Bür­ger­lich­keit, die uns zu­ge­wach­sen ist, als de­mo­kra­ti­sche Teil­neh­mer in­ner­halb der EU. Er über­sieht, dass wir da­mit auch zwei Ge­setz­ge­ber zu be­grü­ßen ha­ben, bzw. zwei wil­lens­bil­den­de Ver­samm­lun­gen as­so­zi­ie­ren müs­sen. Sehr rich­tig: das EU-Par­la­ment und der EU-Rat strei­ten dar­über, wer das Volk sein darf. Aber das ist ein Streit dar­über, wer das »Su­per-Volk« sein darf. Das De­mo­kra­tie-Mo­dell fliegt uns um die Oh­ren.

  37. @#31 Ki­danes »kom­plett tie­fen­ent­spannt« in der taz ver­stand ich so, dass Ma­nes­se, sor­ry: Men­as­se kei­ner­lei En­ga­ge­ment aus­drück­te, sei­ne Zi­ta­te nach­zu­wei­sen ge­gen­über Sprin­ger. Aber mag mich täu­schen. #Iro­ny­Is­O­ver

  38. @Sophie

    Op­fer und Tausch, ich fürch­te, die Be­grif­fe pas­sen hier nicht. Der (bür­ger­li­che) Staat muß ver­schwin­den, so die Marx­sche Leh­re, er muß, weil es die Ge­schich­te so will, und die Ge­schich­te ist das höch­ste We­sen, ihm die­nen wir, wenn wir den­ken. Ich glau­be, hier liegt die Wur­zel von Men­as­ses Theo­rien. Er ist sehr theo­rie­ver­liebt, auch wenn er das nicht im­mer gleich er­ken­nen läßt. Und na­tür­lich sind wir – nach die­ser Leh­re – oh­ne Staat frei, wir ha­ben nicht et­was ge­op­fert, son­dern ge­won­nen: freie Ver­ge­sell­schaf­tung, auch per­sön­li­che Frei­heit, die Mög­lich­keit, uns un­ge­hin­dert zu ent­fal­ten (ach, EU-Bü­ro­kra­tie!).

    Das sind Uto­pien, eher halt­lo­se, und die Schwie­rig­kei­ten Men­as­ses ha­ben da­mit zu tun, daß sie sich mit kon­kre­ten Kon­struk­tio­nen oder gar mit Fak­ten, mit dem Funk­tio­nie­ren oder Nicht­funk­tio­nie­ren von In­sti­tu­tio­nen, schwer un­ter ei­nen Hut brin­gen las­sen.

    Es ist viel Was­ser den Fluß die­ser De­bat­te run­ter­ge­flos­sen; ich möch­te das Pferd trotz­dem noch ein­mal auf­zäu­men, und zwar an­ders. Daß mich die De­bat­te, die Un­ter­stel­lun­gen, der Haß, der da wie­der ein­mal ein Ven­til ge­fun­den hat, auf­ge­bracht hat, lang an­fangs dar­an, daß mir die Über­trei­bun­gen (»Ge­schichts­fäl­schung« – kann man über­haupt noch, oh­ne Angst zu krie­gen, An­füh­rungs­zei­chen ge­brau­chen?) in den Kon­text der an al­len Fron­ten re­flex­haft ge­for­der­ten Kor­rekt­heit, der Red­lich­keit von Au­torsch­haft ge­hö­ren zu schien. Ich den­ke das im­mer noch. Und ich den­ke und sa­ge, mich in die Brennes­seln set­zend, daß die­ser Über­ei­fer par­al­lel geht mit der Ver­tei­di­gung des Co­py­rights, die in der Kul­tur­in­du­strie (oder Neo­li­be­ra­lis­mus – Keu­sch­nig mag das Wort nicht) ei­ne so zen­tra­le Rol­le spielt. Was mir ge­hört, darfst du nur ko­pie­ren, wenn die Ko­pie dem Ori­gi­nal hun­dert­pro­zen­tig ent­spricht, und in der Re­gel mußt du fürs Ko­pie­ren zah­len oder wirst be­straft, wenn ich es dir nicht aus­drück­lich er­lau­be. Von den Es­says Ador­nos bis Mas­kott­chen und an­de­rem, pro­fit­träch­ti­gem kom­mer­zi­el­lem Krims­krams muß al­les gei­sti­ge Ei­gen­tum ge­schützt und ver­nützt wer­den.

    Po­li­ti­kern, oft kei­ne gro­ßen in­tel­lek­tu­el­len Leuch­ten, kön­nen Me­di­en­leu­te sehr leicht am Zeug flicken, in­dem sie de­ren aka­de­mi­sche Di­plom­ar­bei­ten aus dem Ar­chiv ho­len und durch­checken. (Wer hat schon das, was er schreibt, wirk­lich selbst ge­macht? Je­der Ge­dan­ke fußt auf ei­ner, auf vie­len Über­lie­fe­run­gen.) Es gibt Leu­te, die ha­ben sich das Checken zum Be­ruf ge­macht, Big Da­ta läßt grü­ßen. Leu­te wie Men­as­se sind ge­wief­ter und ge­bil­det, Men­as­se hat die Jour­na­li­sten jah­re­lang ge­blen­det, aber jetzt sind doch noch wel­che fün­dig ge­wor­den und be­wei­sen, daß ein paar Sät­ze nicht kor­rekt ko­piert sind.

    In mei­nem Bü­cher­re­gal steht an ei­ner Leer­stel­le ein Kärt­chen, auf das ich ge­schrie­ben ha­be: »Oui, je su­is un vo­leur de pen­sées.« Mit An­füh­rungs­zei­chen, kühn und kor­rekt.

  39. Nach ei­ni­gen Tur­bu­len­zen kann ich nun wie­der auf mei­nen Blog zu­grei­fen.

    @die_kalte_Sophie
    Die Er­klä­rungs­ver­su­che sind in­ter­es­sant, aber ich glau­be, es geht bei Men­as­se sehr viel ein­fa­cher zu. Ei­ne groß­ar­ti­ge »Vi­si­on« hat er nur da­hin­ge­hend, dass er ein uto­pi­sches (bzw. uto­pisch an­mu­ten­des) Ziel for­mu­liert. Er gleicht ei­nem Sport­ler, der, sa­gen wir ein­mal, for­mu­liert, dass er die 100 m in 11,5 Se­kun­den lau­fen möch­te. Er sagt dies im­mer und im­mer wie­der, aber er sagt nicht, wie er die­ses Ziel er­rei­chen will. Statt­des­sen kauft er sich hüb­sche Trai­nings­ge­rä­te und be­trügt sich mit fal­schen Re­sul­ta­ten sei­ner Lei­stun­gen.

    Das Bei­spiel hinkt viel­leicht ein biss­chen, aber will sa­gen, dass Men­as­se den Weg der In­ter­el­lek­tu­el­len in das, was man halb ge­ring­schät­zig, halb an­stren­gend als »Re­al­po­li­tik« be­zeich­net, scheut. Er lehnt ein­fach das ab, was er vor­fin­det und for­mu­liert sehr schwam­mig, wor­in das Ziel lie­gen müss­te. Da­zwi­schen hält er sich be­deckt. (Dar­in un­ter­schei­det er sich üb­ri­gens von je­man­dem wie Grass.)

    Um sein An­sin­nen mit Re­le­vanz und Au­to­ri­tät aus­zu­stat­ten ver­wen­det er Zi­ta­te bzw. biegt sie nach sei­nem Den­ken um. Ich hal­te es, lie­ber @Leopold Fe­der­mair, für ab­we­gig, das Co­py­right mit dem Zi­tie­ren in ei­nen di­rek­ten Zu­sam­men­hang zu set­zen. Es geht eben nicht dar­um, dass die Er­ben von Hall­stein fi­nan­zi­el­ler Ent­schä­di­gung möch­ten, son­dern es geht um ei­ne po­li­ti­sche Idee, wel­ches mit Er­fun­de­nem und, ei­ni­ge sa­gen es, Ent­stell­tem un­ter­füt­tert wer­den soll.

    Mit »Big Da­ta« hat das al­les nichts zu tun. Und dass Jour­na­li­sten oder Pu­bli­zi­sten ver­pflich­tet sein sol­len, Zi­ta­te im Vor­feld zu über­prü­fen, hal­te ich für ab­we­gig. Es muss schon so et­was wie Ver­trau­en vor­herr­schen.

    Von mir aus ver­ges­sen wir den gan­zen aka­de­mi­schen Quatsch und je­der schreibt dann über an­de­re der­art, wie er oder sie es für rich­tig hält. Ich für mei­nen Teil wer­de ver­su­chen, die­sem Trend, der dann auch noch mit dem üb­li­chen »Au­gen­zwin­kern« kom­men­tiert wer­den könn­te, nicht nach­zu­ge­ben.

    (Ich ha­be üb­ri­gens nie ei­ne Uni­ver­si­tät von in­nen ge­se­hen. Dass ein »Idi­ot« wie ich plötz­lich dar­auf re­kur­riert, ein biss­chen in­tel­lek­tu­el­le Red­lich­keit ein­zu­hal­ten, ist wirk­lich put­zig.)

  40. Er­gän­zung zu mei­nem Kom­men­tar (ei­ne Klein­lich­keit oder Klei­nig­keit): Ich ha­be doch schon ein­mal ei­ne Uni­ver­si­tät von in­nen ge­se­hen. Das war im Ok­to­ber 2017 in Kla­gen­furt, als ich ei­nen Vor­trag über »Pe­ter Hand­ke und das In­ter­net« hielt.

  41. Wer­ter Gre­gor Keu­sch­nig – wenn man dem emi­nen­ten ka­na­di­schen Psy­cho­lo­gen Jor­dan B. Pe­ter­son (und mir…) fol­gen will, so sind Uni­ver­si­täts­ab­schlüs­se je­den­falls nicht di­rekt mit moralisch/ethischer Su­pero­ri­tät zu ver­rech­nen.

    (Wenn ich recht se­he, sa­gen Pe­ter­son und mei­ne We­nig­keit seit ei­ni­ger Zeit öf­fent­lich da­sel­be in die­ser Sa­che. Wer mag kann für ei­nen Nach­weis für Pe­ter­sons Po­si­ti­on ins In­tellec­tu­al Dark Web ab­tau­chen, und das zwei­te Ge­spräch, das der Ko­mi­ker Joe Ro­gan mit Pe­ter­son (En­de 2018) ge­führt hat auf­ru­fen, da bringt die­ser auch kli­nisch (et­li­che tau­send mit psy­chisch Kran­ken ver­brach­te Stun­den) aus­ge­wie­se­ne Psy­cho­lo­ge bei­läu­fig die Er­fah­rung (!) zum Vor­trag, dass In­tel­lek­tu­el­le je­den­falls nicht we­ni­ger an­fäl­lig für Ra­tio­na­li­sie­run­gen (vul­go: ir­re­füh­ren­de Ideen) sei­en, als we­ni­ger for­mal hoch­trai­nier­te Leu­te. Dann sagt er noch et­was: Dass es näm­lich im Fall von In­tel­lek­tu­el­len oft schwe­rer (!) sei, ih­re (neu­ro­ti­schen) Ir­run­gen zu ent­wir­ren als im Fall von for­mal we­ni­ger Ge­bil­de­ten, nicht zu­letzt, weil die In­tel­lek­tu­el­len mehr Ma­te­ri­al zur Hand ha­ben, um ih­re Irr­tü­mer (=exi­sten­ti­el­len Fehl­deu­tun­gen) zu stüt­zen).

    (cf. die Re­dens­art vom “Bull­shit Cast­le” für die Mer­ce­des-Zen­tra­le in Stutt­gart. cf. auch den in­ter­es­san­ten Ar­ti­kel im Do­nau-Ku­rier die­ser Ta­ge über ei­nen Flie­ßen­le­ger, der nicht mehr für Ing­nieu­re von Au­di und Sie­mens zu ar­bei­ten be­reit ist, weil die­se Per­so­nen­grup­pe sich als über­wie­gend com­mon-sen­se-feind­lich – und des­halb ex­trem streit­han­se­lig er­wie­sen ha­be – im Ge­gen­satz z. B. zu Po­li­zi­sten).

    https://www.donaukurier.de/nachrichten/bayern/DKmobil-Audi-Ingenieure-unerwuenscht;art155371,4038012

    @ Me­tep­si­lo­n­e­ma: Mei­ers Be­mer­kung über die un­ter­schied­li­che Ein­ord­nung des Ver­zei­hens in der jü­di­schen bzw. christ­li­chen Ethik ist sehr in­ter­es­sant – wenn­gleich we­nig über­ra­schend. Das Ju­den­tum folgt näm­lich dem Al­ten, das Chri­sten­tum dem Neu­en Te­sta­ment... Den­noch – der Tal­mud hät­te ja auch an­ders­lau­ten­de Ge­dan­ken be­reit­hal­ten kön­nen, an die ak­tu­ell nur kei­ner ge­dacht hat. Aber nein: Es folgt of­fen­bar Ju­den – wie Chri­sten­tum haar­ge­nau der in der Bi­bel in den bei­den Te­sta­men­ten vor­ge­zeich­ne­ten Lo­gik, bis heu­te.

    Das Ju­den­tum ist tra­di­tio­na­ler, wenn auch – - – nur (?!) – - ‑ei­ner über zwei­tau­send Jah­re al­ten Ein­tei­lung zu­fol­ge... (Wenn man sich der­lei – ok: Wenn ich mir der­lei ver­ge­gen­wär­ti­ge, schwin­delt mir).

    @ Die_kalte_Sophie
    Wg.Pseudo-Opfer Men­as­ses – die­sen Ge­dan­ken könn­te man noch an­rei­chern mit der marx­schen kom­mu­ni­sti­schen Uto­pie der welt­wei­ten Herr­schafts­lo­sig­keit und – - – de­ren Haupt­feind: Näm­lich dem not­wen­di­ger­wei­se (!) ex­pan­sio­ni­sti­schen (=im­pe­ria­li­sti­schen) ka­pi­ta­li­sti­schen Na­tio­nal­staat. Men­as­ses Po­si­ti­on ist plau­si­bel, so­bald man Marx das letz­te Wort über die (»wis­sen­schaft­li­che« (Marx)) Deu­tung der Welt­ge­schich­te über­lässt.

    Folgt man statt­des­sen – - – ‑rough­ly spo­ken: Odo Mar­quart, Luh­mann, Kam­bartel***, Ha­ber­mas (!) und Ga­da­mer, ver­neint man al­so ei­nen im Marx­schen Sin­ne wis­sen­schaft­lich ab­ge­si­cher­ten = ge­setz­mä­ssi­gen Ver­lauf der Welt­ge­schich­te, so kann die Eu­ro­päi­sche Ge­schich­te auch als ein eman­zi­pa­ti­ver kol­lek­ti­ver Lern­pro­zess ge­le­sen wer­den, mit dem li­be­ra­len und so­zia­len na­tio­na­len Ver­fas­sungs­staat als ei­ne sei­ner (un­ter Schmer­zen ge­bo­re­nen, das schon!) er­heb­li­chen Er­run­gen­schaf­ten (hier ist ick­j­lo­o­be Iasiah Ber­lin der er­ste glas­kla­re Deu­ter ge­gen Marx – und wenn man sich Ber­lins So­wje­ti­sche Fa­mi­li­en­ge­schich­te an­schaut, so ge­schah das nicht ganz zu­fäl­lig).

    So ge­se­hen er­scheint Men­as­ses Idee, der zu­künf­ti­ge eu­ro­päi­sche Frie­de sei nur mög­lich, nach­dem der Na­tio­nal­staat auf dem Al­tar des »Ewi­gen Frie­dens« (Kant) ge­op­fert wor­den ist, als – - – - nun ja: Theo­re­tisch in­suf­fi­zi­ent und prak­tisch wi­der­legt.

    *** In Fried­rich Kam­bartels in Poe­tik und Her­me­neu­tik (?Bd. VI, ick­j­lo­o­be) vor­ge­tra­ge­ner Les­art ist vor al­lem die marx­sche Idee ei­nes ge­sell­schaft­li­chen Kol­lek­tiv­sub­jekts theo­re­tisch un­halt­bar. – Ich kür­ze die­sen Ein­wand ab, in­dem ich kon­sta­tie­re, dass an die Stel­le die­ser mar­xi­stisch in­spi­rier­ten Theo­re­me heut­zu­ta­ge die So­zi­al­psy­cho­lo­gie ge­tre­ten ist, als Deu­te­rin kol­lek­ti­ver Einstellungen/Präferenzen usw.

    Ich blei­be auf die­sem – zu­ge­ge­ben: er­heb­li­chen – Ab­straktins­ni­veau und kann des­halb noch un­ter­bin­gen, dass sich Durs Grün­bein in der ak­tu­el­len ZEIT (un­frei­wil­lig) als Ge­gen­auf­klä­rer outet, in­dem er den ge­sam­ten jahr­zehn­te­al­ten quan­ti­ta­ti­ven so­zi­al­psy­cho­lo­gi­schen Dis­kurs als men­schen­feind­lich (im Prin­zip neu­rechts!) meint de­nun­zie­ren zu sol­len (näm­lich al­le die­je­ni­gen, die sich an­hei­schig ma­chen, et­was über die (sta­ti­sti­schen) Dur­schnitts­ei­gen­schaf­ten von Men­schen­grup­pen aus­zu­sa­gen).

    Ei­ne Schel­me­rei von Gra­den. Wahr­schein­lich weiß er gar nicht ge­nau, was er da sagt. Aber er sagt es sehr schön, und geht des­halb als ir­gend­wie men­schen­freund­lich und tief­sin­nig durch, wäh­rend er in Tat und Wahr­heit ei­nen in­tel­lek­tu­el­len Ma­schi­nen­stür­mer dar­stellt.

    - Nun, der weit­sich­ti­ge Ror Wolf sprach be­reits von un­se­ren ir­gend­wie ver­stopf­ten Welt­ver­hält­nis­sen – er be­nann­te die Ver­stop­fung in noch dra­sti­sche­rer Ma­nier, aber ich bin nicht Ror Wolf, für mich mö­gen des­halb die­se obi­gen, wie­wohl ein we­nig – eheh- gscha­mi­gen – - An­deu­tun­gen am En­de viel­leicht auch ge­nü­gen.

  42. @ Gre­gor K.

    Schön, in den Brennes­seln... Ich den­ke, wir wer­den uns da nicht ei­ni­gen. Ih­re Er­klä­rung be­züg­lich der Fall­hö­he, die man ris­kiert, wenn man sich aufs ho­he Roß setzt, fand ich plau­si­bel. Die­se Er­klä­rung schließt je­ne an­de­re der me­di­en­hy­ste­ri­schen Über­bie­tun­gen nicht aus. Der Na­me Ro­bert Men­as­se ist mir das er­ste Mal in der Li­te­ra­tur­zeit­schrift Wes­pen­nest be­geg­net, ab­ge­druckt war dort ei­ne Se­mi­nar­ar­beit Men­as­ses über Fon­ta­ne. Ich war eben­falls ein flei­ßi­ger Stu­dent und staun­te nicht schlecht, daß die­se an­ge­se­he­ne Zeit­schrift ei­nen stu­den­ti­schen Text ver­öf­fent­licht. Men­as­ses Se­mi­nar­ar­beit war mit »nicht ge­nü­gend« be­ur­teilt wor­den, und die Ver­öf­fent­li­chung zeig­te deut­li­che Zei­chen ei­ner Trotz­re­ak­ti­on. Sie zeug­te auch von ei­nem be­trächt­li­chen Maß an Selbst­be­wußt­sein, das ihn wohl seit­dem nicht ver­las­sen hat, im Ge­gen­teil. Die aka­de­mi­sche Be­ur­tei­lung durch die Pro­fes­so­rin wird wohl mit Men­as­ses da­ma­li­gem Mar­xis­mus zu tun ge­habt ha­ben. Wie ich hör­te, war er Mit­glied ei­ner re­vo­lu­tio­nä­ren Split­ter­grup­pe.

    Was mich heu­te, vier­zig (!) Jah­re spä­ter, an Men­as­se er­staunt, ist die In­ko­hä­renz sei­ner Äu­ße­run­gen. Der Staat, den er ver­schwin­den sieht, das sind of­fen­bar die Na­tio­nal­staa­ten. Auf der an­de­ren Sei­te lobt er die Brüs­se­ler Bü­ro­kra­tie, al­so letzt­lich den EU-Staat, oder sei­ne Kei­me, über den grü­nen Klee. Jo­se­phi­nis­mus und mar­xi­sti­scher An­ar­chis­mus, das paßt nicht gut zu­sam­men.

    Sie sa­gen, lie­ber Gre­gor K., Men­as­se ha­be ver­mut­lich kei­ne gro­ßen Vi­sio­nen, die Ätio­lo­gie sei­ner Irr­tü­mer sei simp­ler. Ich glau­be schon, daß er sich von gro­ßen Theo­rien lei­ten läßt, daß er die­se – zu­min­dest frü­her ein­mal – durch­dacht hat, wür­de aber ver­mu­ten, daß ihn ge­ra­de die­ses Fest­hal­ten an Theo­rien, an de­nen man heu­te mehr als frü­her mit gu­ten Grün­den und neu­en Er­fah­run­gen zwei­feln kann, in Wi­der­sprü­che bringt.

    Die­ter Kief be­ruft sich auf Ha­ber­mas, Luh­mann etc., um hi­sto­ri­zi­sti­sches Den­ken ab­zu­wei­sen. Ich möch­te hin­zu­fü­gen: In »Die of­fe­ne Ge­sell­schaft und ih­re Fein­de« zog Karl Pop­per schon am En­de des 2. Welt­kriegs Schluß­fol­ge­run­gen aus den statt­ge­fun­de­nen Ka­ta­stro­phen, auf m. E. sehr über­zeu­gen­de Wei­se, zur glei­chen Zeit wie Horkheimer/Adorno, aber in ganz an­de­rem Stil, in ei­ne an­de­re Rich­tung wei­send. Im Prin­zi­pi­el­len, glau­be ich, kann man Pop­per im­mer noch fol­gen, auch mit Blick auf den eu­ro­päi­schen Ei­ni­gungs­pro­zess und sei­ne Rück­schlä­ge.

  43. Ich muss mich miss­ver­ständ­lich aus­ge­drückt ha­ben: Na­tür­lich lässt sich Men­as­se von gro­ßen Vi­sio­nen lei­ten, die von mir aus mar­xi­stisch oder sonst­wie um­kränzt sind. Das zweif­le ich nicht an. Aber dar­an liegt eben das Pro­blem. Po­li­ti­sche »Vi­sio­nen« ge­nü­gen nicht. Man muss nicht den Hel­mut-Schmidt-Satz im Mun­de füh­ren, der trot­zig-rup­pig ein­mal sinn­ge­mäss sag­te, dass, wer Vi­sio­nen hät­te, zum Arzt ge­hen soll. Der tie­fe Sinn in die­sem Bon- oder von mir aus Mal­mot liegt dar­in, dass po­li­ti­sche Vi­sio­nä­re bei der Aus­ar­bei­tung ih­rer Vi­sio­nen in den To­ta­li­ta­ris­mus ab­drif­te­ten und da­mit ih­re Idee zu­meist per­ver­tier­ten.

    Na­tür­lich ist ei­ne »Vi­si­on« der Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Eu­ro­pa per se nicht eh­ren­rüh­rig. Aber man soll­te dann schon ein biss­chen mehr Ideen­reich­tum in die ad­äqua­te Um­set­zung die­ses Ziels in­ve­stie­ren. Will sa­gen: Wie soll ein sol­cher Schritt re­al­po­li­tisch ge­dacht wer­den? Wie lau­tet der »Fahr­plan« Men­as­ses dort­hin? Man kann z. B. die Ideen Macrons kri­ti­sie­ren, aber im­mer­hin ent­wirft er so et­was wie ei­nen Plan zu ei­ner stär­ke­ren Ver­knüp­fung der Staa­ten (wo­bei er na­tür­lich gleich­zei­tig die ein­zig­ar­ti­ge Stel­lung Frank­reichs be­tont). Die­se Form der po­li­ti­schen »Agenda«-Bildung gibt es bei Men­as­se mei­nes Wis­sens nicht. Na­tio­nal­staa­ten ab­schaf­fen und ein biss­chen Jo­se­phi­nis­mus – das ist arg dürf­tig, wenn nicht gar kitsch­ver­däch­tig.

    In­so­fern fra­ge ich mich, was Men­as­se bei ei­ner be­stimm­ten Kli­en­tel so in­ter­es­sant macht. Es ist – pro­vo­ka­tiv ge­sagt – das de­zi­diert Un­po­lit­sche sei­nes Traum­bil­des der Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Eu­ro­pa. Es ist für vie­le der­art at­trak­tiv, dass sie dar­über ih­ren re­al­po­li­ti­schen Ver­stand ver­lo­ren ha­ben.

  44. Ich se­he bei Men­as­se nichts was links, »alt­link« oder mar­xi­stisch sein könn­te, aber viel was als links­li­be­ral, kul­tu­ra­li­stisch oder Iden­ti­täts­den­ken zu be­zeich­nen wä­re (viel­leicht war er das ein­mal). Marx hat nicht nur hi­sto­risch ar­gu­men­tiert, die Lo­gik des Gel­des wi­der­sprach für ihn im­mer der sinn­li­chen Na­tur des Men­schen, ge­nau­so wie die Wa­ren­er­zeu­gung, bzw. die Pro­duk­ti­ons­ab­läu­fe dem Men­schen die Mög­lich­keit nah­men (und neh­men) selbst in sei­nem Tun auf­zu­schei­nen (er kann ihm so­zu­sa­gen kei­ne Si­gna­tur ge­ben und ent­frem­det ihm dar­über). Die lo­gi­sche Fol­ge dar­aus war (und ist), dass der Ka­pi­ta­lis­mus ver­hin­dert, dass wir zur (vol­len) Ent­fal­tung un­se­rer selbst ge­lan­gen kön­nen (man muss al­so nicht zwangs­läu­fig hi­sto­risch ar­gu­men­tie­ren). Dar­aus müss­te ei­gent­lich ei­ne ge­wis­se Sym­pa­thie für die Si­tua­ti­on der brei­ten Be­völ­ke­rung wach­sen, trotz (viel­leicht so­gar we­gen) ih­rer gro­ben Af­fek­te, ih­rer Hä­me, usw., weil sie da­für nicht al­lei­ne Schuld tra­gen, mehr noch, weil sie – wenn wir Marx wei­ter fol­gen – das Fun­da­ment für den Wohl­stand der obe­ren Schich­ten lie­fern. Aus lin­ker Sicht si­chert die EU die vier ka­pi­ta­li­sti­schen Frei­hei­ten, das ka­pi­ta­li­sti­sche Prin­zip wird auf hö­he­rer Ebe­ne als ei­ne Art »ge­mein­sa­mes Martk­in­ter­es­se« ver­folgt. Mir geht es nicht dar­um, ob man das nun teilt oder nicht, aber Men­as­se ver­sucht dem ei­ne mo­ra­li­sche Grund­la­ge, ent­ge­gen der fak­ti­schen (hi­sto­ri­schen), zu ge­ben. Er ver­sucht das ka­pi­ta­li­sti­sche Sy­stem zu recht­fer­ti­gen, er stellt sich vor und ne­ben die Füh­rungs­eli­te, al­so die Pro­fi­teu­re. Er han­delt wie vie­le aus dem links­li­be­ra­len Spek­trum: Er ver­ach­te­te die so­ge­nann­ten klei­nen Leu­te, weiß sich (meist auf be­que­mer Po­si­ti­on im Sy­stem) auf der rich­ti­gen Sei­te und schafft durch sein mo­ra­li­sches Den­ken ei­ne Grup­pen­lo­gik (die bö­sen sind rechts, po­pu­li­stisch, na­tio­na­li­stisch). Die (mo­ra­lisch) le­gi­ti­mier­te Grup­pe hat da­mit recht, sie steht über ei­nem Den­ken, das die­se über­win­det, dem so­zia­len wür­de der Lin­ke sa­gen, für den nicht die Grup­pe, son­dern die so­zia­le Be­dürf­tig­keit ent­schei­dend war oder ist. Das spielt den Mäch­ti­gen in die Hän­de, es ist vor­mo­dern, un­kri­tisch und be­quem, das ist Men­as­se vor­zu­hal­ten. — Und wahr­schein­lich, wür­de der Lin­ke sa­gen, zeugt ein sol­ches Ver­hal­ten auch von Ent­frem­dung.

  45. @ Leo­pold Fe­der­mair und Gre­gor Keu­sch­nig

    Ich fin­de am Klar­sten drückt es En­zens­ber­ger aus: Die EU wird dys­funk­tio­nal, ge­ra­de weil es ihr an de­mo­kra­ti­scher Kon­trol­le und da­her demokratischem/kritschem Feed­back fehlt. Men­as­se ge­hört zur Grup­pe je­ner, die frü­her ge­gen das Volk wa­ren, weil es nicht re­vo­lu­tio­när war und heu­te, weil es das “Frie­dens­pro­jekt EU” nicht mehr so mag. Er sprach frü­her als Mitl­glied ei­ner so­zia­li­sti­schen Avant­gar­de und heu­te als He­rold der EU-Funk­ti­ons­eli­te ge­gen die “Leu­te” (Pe­ter Glotz*** u n d Thi­lo Sar­ra­zin).

    *** cf. Von Hei­mat zu Hei­mat ‑Er­in­ne­run­gen ei­nes Grenz­gän­gers, S. 97 f. und S. 110

    Das war­me Plätz­chen hält die Funk­ti­ons­eli­te ih­rem He­rold Men­as­se ger­ne be­reit. Und der weiß das, und – als ka­pi­talloser Klein­un­ter­neh­mer, der er ist, ge­nießt er das auch.

    Klar kann man das oben Ge­sag­te auch an­hand von Pop­per und Hay­ek (und Dah­ren­dorf und I. Ber­lin) durch­de­kli­nie­ren, Leo­pold Fe­der­mair. Hel­mut Schmidt sprach häu­fig und mit gro­ßer Be­wun­de­rung von Karl Pop­per – auch Thi­lo Sar­ra­zin tut das...

    @ Gre­gor Keu­sch­nig: An Hel­mut Schmidt er­staunt sei­ne sehr kla­re Ab­leh­nung der of­fe­nen Gren­zen und des un­re­gu­lier­ten mus­li­mi­schen Zu­zugs. Schmidt sah, dass die­ser un­re­gu­lier­te Zu­zug auf Ko­sten der hie­si­gen Ar­beit­neh­mer­schaft ge­hen wür­de, und He­bert Weh­ner mein­te gar, dass der un­re­gu­lier­te Zu­zug die SPD ei­ner »Zer­reiß­pro­be« aus­set­zen wür­de – pro­phe­ti­sche Wor­te, wie ich fin­de.

    Schmidt war in der Tat Re­al­po­li­ti­ker. Men­as­se setzt sich über der­lei re­al­po­li­ti­sche Ein­wän­de ge­gen die EU-Po­li­tik der of­fe­nen Gren­zen und des un­re­gu­lier­ten Zu­zugs locker weg. – Da mö­gen auch bio­gra­phi­sche Re­fle­xe ei­ne Rol­le spie­len.

    Aber auch die müss­ten an­ge­sichts des of­fe­nen An­ti­se­mi­tis­mus, der mit dem un­re­gu­lier­ten Zu­zug hier Ein­zug hält, längst ei­ner kri­ti­schen Prü­fung wei­chen (cf. die Ein­wän­de Eli­sa­beth Bad­in­ters und Alain Finki­le­krauts (usw.) ge­gen den wei­te­ren un­re­gu­lier­ten Zu­zug­we­gen dra­stisch stei­gen­dem (mus­li­mi­schen) An­ti­se­mi­tis­mus).

    Dass Men­as­se die­sen – ei­gent­lich völ­lig auf der Hand lie­gen­den ar­gu­men­ta­ti­ven Zug nicht macht, hat frei­lich eben­falls sei­ne Lo­gik: Ge­ra­de we­gen sei­ner jü­di­schen Her­kunft ist Men­as­se in der der­zei­ti­gen La­ge ein um­so wert­vol­le­rer Apo­lo­get des Sta­tus quo: Ge­nau dass mit dem von der Funk­ti­ons­eli­te für un­ver­zicht­bar ge­hal­te­nen wei­te­ren un­re­gu­lier­ten Zu­zug der An­ti­se­mi­tis­mus steigt, lässt auch den Markt­wert Ro­bert Men­as­ses als ei­nes un­ver­dros­se­nen Ver­tei­di­gers die­ses Zu­zugs stei­gen. Nicht zu­letzt weil er Ju­de ist. Auch das macht ihn zu ei­nem un­ver­däch­ti­gen Be­für­wor­ter in zu­neh­mend un­ge­müt­li­cher wer­den­der La­ge. Und er wird in die­ser Rol­le um­so wert­vol­ler und un­ver­zicht­ba­rer, je un­ge­müt­li­cher die La­ge wird (je mehr An­ti­se­mi­tis­mus der un­re­gu­lier­te Zu­zug nach Eu­ro­pa bringt).

    Und nein – ich sa­ge da­mit nicht, dass al­le Be­tei­lig­ten kor­rupt wä­ren. Aber ich fol­ge Thi­lo Sar­ra­zins dem­nächst auf der Ach­se des Gu­ten er­schei­nen­der Ana­ly­se auch des Ca­sus Men­as­se, dass es für die Po­li­tik und für das kla­re Ur­teil in po­li­tisch kom­ple­xen La­gen nicht för­der­lich ist, wenn man sich zu sehr auf die Mo­ral und auf das hi­sto­risch in­for­mier­te Ge­fühl stützt.

    Ich kür­ze ab: Das Drit­te Reich ist vor­beit. Wir soll­ten ver­ste­hen, dass Ge­schich­te sich nie­mals wie­der­holt (cf. – (sor­ry, aber das ist ein gran­dio­ser Auf­satz) – - – »Vom Blät­ter­teig der Zeit. Ei­ne Me­di­ta­ti­on übe den An­chro­nis­mus«, 1996, Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger, in »Zick­zack. Auf­sät­ze«. Dar­in der die ge­sam­te Pro­ble­ma­tik skiz­zie­ren­de Satz be­reits im Mot­to die­ses ful­mi­nan­ten Texts: »Nicht bloß der Wind der Zu­fäl­le be­wegt mich in sei­ner Rich­tung (...) ich be­we­ge mich noch oben­drein (...) und wer nur ge­nu auf den Aus­gangs­punkt ach­tet, der wird sich schwer­lich zwei­mal in völ­lig der­sel­ben La­ge wie­der­fin­den.«

    PS

    Man könn­te auch so sa­gen: Die Ge­schich­te wie­der­holt sich nicht. Je­den­falls nie auf völ­lig glei­che Wei­se. (Und der­zeit schon gar nicht (das ent­spricht üb­ri­gens so ca. der Art und Wei­se, in der Marx im Acht­zehn­ten Bru­mai­re über die fran­zö­si­sche Ge­schich­te ge­ur­teilt hat (nicht aus­ge­schlos­sen, dass Marx da­bei den näm­li­chen Leit­ge­dan­ken folg­te wie der nicht um­onst für sol­cher­art – - – - Witz (=Gei­stes­ge­gen­wart) – - – - sehr sehr zu Recht ge­rühm­te En­zens­ber­ger).

    PPS
    Jetzt könn­te man nach­gucken, was Isai­ah Ber­lin und Karl Pop­per von Mi­chel de Mon­tai­gne ge­hal­ten ha­ben.

  46. Es ist, glau­be ich, nicht frucht­bar, Men­as­ses jü­di­sche Her­kunft in die­sen Kon­text zu stel­len. Der »im­por­tier­te An­ti­se­mi­tis­mus« spielt hier kei­ne we­sent­li­che Rol­le.

    In­ter­es­san­ter fin­de ich die Ein­las­sun­gen @metepsilonema, in de­nen die An­hän­ger der Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Eu­ro­pa (VSE) mehr oder we­ni­ger ins Spek­trum der Ka­pi­ta­lis­mus­be­wah­rer sub­su­miert wer­den und zwi­schen »links« und »links­li­be­ral« dif­fe­ren­ziert wird.

    »Links« oder »alt­links« ist bei Men­as­se zwei­fel­los der In­ter­na­tio­na­lis­mus, der sich in die­sem Ide­al der VSE zeigt. Das war es dann aber schon. Tat­säch­lich scheint er sich über den Ka­pi­ta­lis­mus und das, was die jet­zi­ge EU dar­aus macht (Stich­wort: Han­dels­po­li­tik), we­nig bis gar kei­ne Ge­dan­ken zu ma­chen. Es gibt bei ihm kein po­li­tisch struk­tu­rier­tes Den­ken; der möch­te ein Haus bau­en und fängt mit dem Dach an. Die z. T. wü­ten­de Ab­leh­nung ist vor­pro­gram­miert und wird dem »Pro­jekt« auf der Ha­ben­sei­te no­tiert: Viel Feind, viel Ehr’. Von der EU-Adep­ten wird er da­bei wie ein Zir­kus­pferd in­sze­niert.

    In der SZ las ich in Be­zug auf die Zi­tat­ver­fäl­schun­gen, Men­as­se ha­be im Über­ei­fer »für die gu­te Sa­che« agiert. Dem­nach wä­re die Vi­si­on der VSE für den Jour­na­li­sten ei­ne gu­te Sa­che. Was im Um­kehr­schluss be­deu­tet, dass all die­je­ni­gen, die dar­an zwei­feln, ei­ner »bö­sen Sa­che« die­nen.

    Der Knacks in Deutsch­land in Be­zug auf die EU (bzw. ih­re Vor­läu­fer) kann sich an zwei Da­ten fest­ma­chen. Zum ei­nen an der Ein­füh­rung des Eu­ro 2002. Und zum an­de­ren mit Be­ginn der Grie­chen­land­kri­se 2009/10.

    Deutsch­land hat­te nach 1945 aus sehr nach­voll­zieh­ba­ren Grün­den fast voll­stän­dig auf groß­ar­ti­ge na­tio­na­le Sym­bo­lik ver­zich­tet. Der Er­satz­my­thos war die star­ke D‑Mark. 1973 schaff­te es Schmidt in Ko­ope­ra­ti­on mit Frank­reich und den Be­ne­lux-Staa­ten in ei­ner von nun an kon­zer­tier­ten Ak­ti­on den Wech­sel­kurs zum US-Dol­lar sta­bil zu hal­ten. Mit der Zeit wur­de die star­ke DM aber mehr und mehr zu Be­la­stung in Eu­ro­pa. Da­her der Deal zwi­schen Mit­ter­rand und Kohl, die Wie­der­ver­ei­ni­gung mit dem Eu­ro zu ver­quicken. Das Ver­spre­chen war: Der Eu­ro wird ge­nau­so stark wie die DM; die Kauf­kraft lei­det nicht. Aber der Eu­ro war ein po­li­ti­sches Pro­jekt, kein öko­no­mi­sches. Vor­be­hal­te wur­den weg­ge­wischt. Das ging bis 2009 ganz gut. Die Grie­chen­land­kri­se hat dann die Fra­gi­li­tät und zum Teil auch Ab­sur­di­tät die­ses Kon­strukts Eu­ro of­fen­bart.

    Bis da­hin war die Mei­nung der Deut­schen der EU ge­gen­über bis in die 2000er Jah­re hin­ein eher po­si­tiv-gleich­gül­tig. Man nahm die Vor­tei­le ger­ne an (Rei­se- und Han­dels­frei­hei­ten) und nick­te die Sonn­tags­re­den schul­ter­zuckend ab. Ei­ni­ge EU-Ver­ord­nun­gen zo­gen Spott auf sich, an­de­res (das per­ma­nen­te Um­zie­hen des EU-Par­la­ments et­wa) wur­de kopf­schüt­telnd zur Kennt­nis ge­nom­men. Erst als die EU mehr und mehr in den Ta­ges­ab­lauf ein­drang, be­gann die Skep­sis. Den Eu­ro ha­be ich schon er­wähnt. An­de­re Sa­chen ka­men hin­zu. Ich will das nicht be­deu­ten­der ma­chen als es ist, aber die­ses Glüh­bir­nen­ver­bot wur­de schon als ziem­lich be­scheu­ert emp­fun­den, zu­mal die Er­satz­lam­pen mit dem gif­ti­gen Queck­sil­ber be­füllt wa­ren (das hat­te man ja ge­ra­de aus Fie­ber­ther­mo­me­tern ver­bannt).

    Am Ar­beits­platz lern­te man die ge­ball­te EU-Kom­pe­tenz stär­ker ken­nen. Ab Ja­nu­ar 1993 wur­den die Um­satz­steu­er­iden­ti­fi­ka­ti­ons­num­mern ein­ge­führt. Je­der EU-Ge­schäfts­vor­fall muss­te nun über die­se Kenn­zif­fer ab­ge­wickelt wer­den. Den bü­ro­kra­ti­schen Auf­wand kann man gar nicht be­schrei­ben. Für die Art Han­dels­ge­schäf­te, die in den Un­ter­neh­men, in de­nen ich ar­bei­te­te, an­fie­len, er­wie­sen sie sich als un­taug­lich. Das kam ein­fach nicht vor. Bei­spiels­wei­se wenn ei­ne deut­sche Fir­ma Wa­ren in Bel­gi­en ein­la­gert und an ei­nen fran­zö­si­schen Kun­den ver­kauft. Wo fällt die Um­satz­steu­er an? Wel­che Num­mer ist zu ver­wen­den? Man frag­te drei Leu­te und be­kam drei Mei­nun­gen. Ge­löst wur­den sol­che Pro­ble­ma­ti­ken, in dem sich Fir­men sel­ber Rech­nun­gen auf ih­re un­ter­schied­li­chen Iden­ti­fi­kai­ons­num­mern ge­schrie­ben ha­ben. – Als dann in den 2010er Jah­ren die neue Che­mi­ka­li­en­ver­ord­nung der EU zu grei­fen be­gann (die letz­te Stu­fe ist im Mai 2018 in Kraft ge­tre­ten), war es klar, dass mein Ar­beits­platz à la longue weg­fal­len wird. Der fi­nan­zi­el­le Auf­wand sich an neu­en Ver­su­chen ob der Ge­fähr­lich­keit von Che­mi­ka­li­en zu be­tei­li­gen, war ein­fach zu hoch. Die Pro­du­zen­ten wa­ren dank­bar dar­um – rei­hen­wei­se pass­ten die un­ge­lieb­ten Im­por­teu­re. Mit Le­bens­mit­tel­che­mi­ka­li­en und Arz­nei­mit­teln han­del­te ich lei­der nicht – sie wa­ren näm­lich ab­sur­der­wei­se aus­ge­nom­men von der Ver­ord­nung.

    Mei­ne The­se: Die EU hat mit dem Per­so­nal und den In­sti­tu­tio­nen, die es im Mo­ment gibt, kei­ne Chan­ce, sich wei­ter­zu­ent­wickeln. Denn in der Tat be­stim­men ja die Na­tio­nal­staa­ten wei­ter­hin die Richt­li­ni­en; das EU-Par­la­ment ist ei­ne Art »Stö­ren­fried«, wenn es zu bunt wird. Den Spa­gat zwi­schen Be­wah­ren des Sta­tus quo und re­vo­lu­tio­nä­rem EU-Par­la­men­ta­ris­mus kann man auf Dau­er nicht durch­hal­ten. Jetzt rächt sich die über­eil­te Aus­deh­nung. Ich er­in­ne­re mich an Josch­ka Fi­scher, der noch kurz vor Be­ginn sei­ner Au­ßen­mi­ni­ster­tä­tig­keit Ver­tie­fung vor Aus­deh­nung an­mahn­te. Er hät­te wis­sen müs­sen, dass da der Zug längst ab­ge­fah­ren war: Die Ver­trä­ge mit den ost­eu­ro­päi­schen Staa­ten wa­ren ge­schlos­sen; die Ter­mi­ne fix.

    Hin­zu kommt, dass die EU of­fen­sicht­lich nicht so at­trak­tiv für »Re­gio­nen« wie Ka­ta­lo­ni­en oder Schott­land ist. Hier bil­den sich Se­zes­si­ons­be­we­gun­gen, die ur­plötz­lich auch von lin­ker Sei­te un­ter­stützt wer­den, was sehr merk­wür­dig ist. Wo ist da der In­ter­na­tio­na­lis­mus? Men­as­se nimmt das of­fen­sicht­lich nicht zur Kennt­nis. Im­mer­hin macht man den Feh­ler den 1990er Jah­re nicht. Da­mals hat man vor­ei­lig die Zer­schla­gung Ju­go­sla­wi­ens be­glei­tet.

  47. @ Gre­gor Keu­sch­nig

    Der im­por­tier­te An­ti­se­mi­tis­mus ist aus Ih­rer Sicht viel­leicht ge­rin­ger als aus der von Mi­cha­el Wolff­sohn oder Eli­sa­beth Bain­ter oder Alain Fin­kiel­kraut, die al­le­samt sa­gen, der spie­le ei­ne enor­me Rol­le. Al­lein die vie­len jü­di­schen Schu­len, die nicht mehr oh­ne Po­li­zei­schutz aus­kom­men – auch hier bei uns nicht, üb­ri­gens.

    Zu glau­ben, der Fall Men­as­se sei hin­rei­chend zu vert­sehen oh­ne Men­as­ses dies­be­züg­li­che Rol­le scheint mir nicht plau­si­bel.

    Al­lein aus Pa­ris, sagt Eli­sa­beth Bad­in­ter, sei­en – in er­ster Li­nie auf­grund des im­por­tier­ten is­la­mi­schen An­ti­s­mit­is­mus, in den letz­ten Jah­ren 50 000 Ju­den weg­ge­zo­gen. In mei­nen Au­gen kei­ne Klei­nig­keit.

    Das Haupt­pro­blem der EU sind nicht die Glüh­bir­nen und nicht die Gur­ken oder die Re­gu­lie­rung der Che­mie (in mei­nen Au­gen lau­ter lös­ba­re bü­ro­kra­ti­sche Stan­dard-Si­tua­tio­nen), son­dern der un­re­gu­lier­te Zu­zug und die du­bio­sen Rie­sen-Ein­grif­fe in das Fi­nanz­sy­stem (z. B. die un­glaub­li­che Geld­men­gen­aus­wei­tung via al­lem mög­li­chen).

    Das aber lässt Men­as­se al­les schön auf sich be­ru­hen und trom­melt von früh bis spat für die­se Art in­ef­fek­ti­ver und de­mo­kra­tisch un­ter­le­gi­ti­mier­ter Eli­ten­herr­schaft im Na­men der Ver­hin­de­rung der Wie­der­auf­er­ste­hung Hit­lers.

    Mir leuch­tet da­her En­zens­ber­ger mit sei­ner EU-Rück­ba-For­de­rung sehr ein.

    Der So­io­lo­ge em. Die­ter Pro­kopp setzt heu­te auf der Ach­se des Gu­ten auf ei­nen EU-Grenz­schutz, weil er meint, dass sich a) der un­ge­re­gel­te Zu­zug nicht län­ger hal­ten las­se, und b) dass sich das EU-Grenz­re­gime nicht mehr um­bau­en las­se.

    Er igno­riert Or­ban und die Po­len und Macron und Ita­ly und die Dä­nen und die Schwe­den – er igno­riert al­le, die sich in der Grenz­fra­ge der­zeit ein­fach von der Zen­tra­le ab­set­zen – – - von Nor­we­gen und Groß­bri­tan­ni­en ganz zu schwei­gen.

  48. Es ging mir bei der Schil­de­rung der EU-Bü­ro­kra­tie eben nicht um die gro­ßen theo­re­ti­schen Ab­läu­fe, son­dern um die Pra­xis, wie die EU in die Ab­läu­fe von Un­ter­neh­men ein­greift. Da­von ha­ben Sie, Die­ter Kief of­fen­sicht­lich kei­ne Ah­nung – was nicht schlimm ist, aber dann soll­te man den Mund hal­ten.

    Na­tür­lich wer­den wir mit der EZB-Po­li­tik des Herrn Draghi noch vie­le Jah­re zu tun ha­ben – En­de durch­aus of­fen. Es kann zu ei­nem »Knall« kom­men, der ja schon auf di­ver­sen Fo­ren pro­gno­sti­ziert wird – oder eben nicht. Wir wer­den se­hen.

    Und noch ein­mal: Wir dis­ku­tie­ren nicht über »im­por­tier­ten An­ti­se­mi­tis­mus«. Das ist kein Stamm­tisch hier. Dan­ke für Be­rück­sich­ti­gung.

  49. Ich mei­ne, ich kön­ne die­se EU-Ab­läu­fe in ih­rer Be­de­ung in et­wa ein­schät­zen und äu­ßer­te die­se mei­ne Ein­schät­zung, das ist al­les. Dass Sie per­sön­lich da­von in Sa­chen Che­mie in Mit­lei­den­schaft ge­zo­gen wur­den, tut mir leid.

    Die gi­gan­ti­sche Geld­men­gen­aus­wei­tung der EZB, die Haf­tungs­über­nah­me für ma­ro­die­ren­de Ban­ken, die Tar­get-Sal­den, die Fi­nan­zie­rung kon­sump­ti­ver Haus­halts­aus­ga­ben von Mi­glieds­staaa­ten wie Grie­chen­land und Ita­li­en (dem­nächst Frank­reich?) im gro­ßen Stil – das ist die ei­ne Sei­te. Und auf der an­de­ren Sei­te ha­ben wir die Be­haup­tung, es ge­he nicht oh­ne eu­ro, wäh­rend gleich­zei­tig Nor­we­gen, Schwe­den, die bri­ten, die Schwei­zer tag­täg­lich das Ge­gen­teil be­wei­sen.

    Gre­or Keu­sch­nig ich muss la­chen: Ein Stamm­tisch, bestzt mit Mi­cha­el Wolff­sohn, Eli­sa­beth Bad­in­ter, et tut­ti quan­ti (Hen­ryk M. Bro­der, Alain Fin­kiel­kraut und Pas­cal Bruck­ner...) – was um al­les in der Welt wä­re da­ge­gen zu sa­gen? ‑Au­ßer, dass da viel­leicht Din­ge ge­sagt wer­den, die Ih­nen nicht pas­sen?

    Von ei­nem be­vor­ste­hen­den Eu­ro-Crash ha­be ich nichts ge­sagt. Wer­de ich auch nichts sa­gen. In der Ru­he liegt die Kraft.