Auf ver­lo­re­nem Po­sten

Die Neu­gier des Jour­na­li­sten und die Gren­zen des Wis­sens

Seit der er­sten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts wird un­ser so­ge­nann­tes Welt­wis­sen im­mer mehr von den Mas­sen­me­di­en be­stimmt, die ei­ne ra­san­te, noch lan­ge nicht ab­ge­schlos­se­ne Ent­wick­lung durch­ge­macht ha­ben. Die Le­ben der mei­sten Men­schen in der west­li­chen Welt sind ver­hält­nis­mä­ßig arm an un­mit­tel­ba­ren, per­sön­li­chen Er­fah­run­gen. Si­cher­heits­den­ken, Vor­sor­ge, Schutz­maß­nah­men al­ler Art ver­stär­ken die­se Ten­denz noch. Gleich­zei­tig wer­den wir durch die Mas­sen­me­di­en, vor al­lem die Bild­me­di­en, tag­täg­lich mit oft haar­sträu­ben­den oder er­schüt­tern­den Er­eig­nis­sen kon­fron­tiert, und die mei­sten Kon­su­men­ten set­zen sich die­ser In­for­ma­ti­on, die­ser Be­ein­flus­sung ge­wohn­heits­mä­ßig und gern aus. Die Kluft zwi­schen per­sön­li­cher Er­fah­rung und Welt­wis­sen ist tief ge­wor­den. PR-Stra­te­gien di­ver­ser An­bie­ter der Frei­zeit­in­du­strie – Rei­se, Sport, Well­ness, Es­sen & Trin­ken, Part­ner­su­che – be­schwö­ren Aben­teu­er­lich­keit und Ge­nuß­freu­de, Lei­den­schaf­ten und Er­leb­nis­se um­so ein­dring­li­cher, je mehr die rea­len Grund­la­gen da­für schwin­den. Es gibt Er­leb­nis­braue­rei­en und Er­leb­nis­du­schen, Er­leb­nis­tickets und Er­leb­nis­gut­schei­ne, Er­leb­nis­ta­ge und Er­leb­nis­näch­te, und na­tür­lich gibt es auch ei­nen Markt­füh­rer für die Ver­mitt­lung von Er­leb­nis­sen. Was den Kon­su­men­ten von die­sen Fir­men ver­kauft wird, ist Er­satz. Je lang­wei­li­ger das Le­ben der Kun­den, de­sto mehr Sen­sa­ti­on, Schock und Em­pö­rung brau­chen sie. Viel­leicht ist das seit je­her ei­ne Ei­gen­tüm­lich­keit der Men­schen. Ei­ner, der es ei­gent­lich wis­sen muß­te, der Jour­na­list und Schrift­stel­ler Ryszard Ka­pu­scin­ski, schrieb: »Un­se­re Phan­ta­sie lechzt näm­lich nach der klein­sten Sen­sa­ti­on, dem ge­ring­sten Si­gnal ei­ner Be­dro­hung, dem schwäch­sten Pul­ver­ge­ruch, saugt al­les gie­rig auf, um es dann un­ver­züg­lich zu mon­strö­sen, über­wäl­ti­gen­den Aus­ma­ßen auf­zu­bla­sen.«

Sol­chen Ein­sich­ten zum Trotz ha­ben sich ha­ben sich in den de­mo­kra­ti­schen Län­dern im Be­reich der Print­me­di­en Re­geln und Stan­dards her­aus­ge­bil­det, die heu­te – auch beim Fern­se­hen, zu­min­dest theo­re­tisch – für Jour­na­li­sten als ver­bind­lich gel­ten. Ein Ar­ti­kel über gleich wel­ches The­ma soll mög­lichst ob­jek­tiv und aus­ge­wo­gen sein, der Ver­fas­ser soll Quel­len an­ge­ben und über­prü­fen, Fak­ten checken und ge­gen­checken, un­ter­schied­li­che Sicht­wei­sen und Mei­nun­gen zu Ge­hör brin­gen. Ich ge­brau­che das Ad­verb »mög­lichst«, weil auf der Hand liegt, daß es nicht im­mer ein­fach ist, die­sen An­for­de­run­gen ge­recht zu wer­den; An­for­de­run­gen, die im üb­ri­gen durch das Über­hand­neh­men des Un­ter­hal­tungs­fak­tors und dem Buh­len um blo­ße Auf­merk­sam­keit – Ein­schalt- und Click­quo­ten – aus­ge­dünnt, wo nicht über­flüs­sig ge­macht wer­den. Man kann sich so­gar, oh­ne ins De­tail zu ge­hen oder Bei­spie­le zu er­ör­tern, die Fra­ge stel­len, ob et­was wie »Ob­jek­ti­vi­tät« über­haupt mög­lich ist. Als Norm oder Wunsch be­ruht sie auf ei­nem Ana­lo­gie­mo­dell, dem­zu­fol­ge Tex­te und Bil­der ei­ne Wirk­lich­keit ab­bil­den, ihr zu­min­dest »ent­spre­chen«. Auf die Wirk­lich­keit ak­tiv Ein­fluß zu neh­men oder sie gar zu »kon­stru­ie­ren«, um ei­nen Mo­de­be­griff aka­de­mi­scher Kul­tur­wis­sen­schaft­ler zu ge­brau­chen, ist nach die­sen Prin­zi­pi­en nicht die Auf­ga­be ei­nes Jour­na­li­sten. Jo­r­is Luy­en­di­jk, jah­re­lang Aus­lands­kor­re­spon­dent im Na­hen Osten, zeigt in ei­nem Buch, das sei­ne dies­be­züg­li­chen Er­fah­run­gen auf­ar­bei­tet, wie groß der Ab­stand zwi­schen den heh­ren Prin­zi­pi­en und der jour­na­li­sti­schen Pra­xis ist. Sei­ner Dar­stel­lung zu­fol­ge ist es so gut wie un­mög­lich, sich in ei­ner Dik­ta­tur oder in be­setz­ten Ge­bie­ten ein – »ad­äqua­tes« – Bild von den tat­säch­li­chen Vor­gän­gen im Land zu ma­chen, weil die In­for­ma­ti­on auf­be­rei­tet, ge­fil­tert und/oder ganz un­ter­drückt wird und die Men­schen in Angst le­ben, so daß sie ih­re Mei­nun­gen und Er­fah­run­gen nicht frei äu­ßern kön­nen (und selbst wenn sie es tun, muß sich der ver­ant­wor­tungs­vol­le Jour­na­list fra­gen, ob er durch die Ver­öf­fent­li­chung den Aus­kunft­ge­ber nicht in Ge­fahr bringt). Das­sel­be gilt für Si­tua­tio­nen, in de­nen ein Me­di­en­krieg ent­fes­selt wur­de, wo­bei auf west­li­cher, »de­mo­kra­ti­scher« Sei­te zu­neh­mend PR-Be­ra­tungs­agen­tu­ren die Art der In­for­ma­ti­ons­wei­ter­ga­be und letzt­lich der Be­richt­erstat­tung be­ein­flus­sen. Die Fra­ge liegt na­he, ob die­se Ab­hän­gig­keit von Wer­bung und Mar­ke­ting mitt­ler­wei­le nicht auch den In­lands­jour­na­lis­mus be­trifft, so daß Jour­na­li­sten im­mer häu­fi­ger das wie­der­ge­ben, was ih­nen Be­hör­den, Par­tei­en, Fir­men, Lob­bys usw. un­ter­stützt von PR-Agen­tu­ren vor­ge­kaut ha­ben.

Frei­lich, ein ein­zel­ner Jour­na­list ist im­mer noch – ab­ge­se­hen von Ro­bo­tern, die im Sport­jour­na­lis­mus ein­ge­setzt wer­den – ein Mensch, kämp­fe­risch oder ängst­lich, ei­gen­sin­nig oder an­pas­sungs­be­reit, in­te­ger oder be­stech­lich, er wird – oder kann je­den­falls – ver­su­chen, sich auf ei­ge­nen We­gen ein Bild zu ma­chen, das zu den prä­pa­rier­ten Bil­dern dann mög­li­cher­wei­se quer­steht. Das ist ei­ner der Grün­de, wes­halb mir die pau­scha­lie­ren­de Re­de von der »Lü­gen­pres­se« im­mer wie­der sau­er auf­stößt. Was die Leu­te wol­len, die die­se Re­de meist ge­nüß­lich und selbst­ge­fäl­lig füh­ren, ist kei­ne ech­te Aus­ge­wo­gen­heit und auch nicht »die Wahr­heit«, son­dern le­dig­lich ei­ne an­de­re Par­tei­lich­keit, ei­ne mög­lichst un­kon­trol­lier­te und in­trans­pa­ren­te Pro­pa­gan­da, für die die so­ge­nann­ten so­zia­len Me­di­en je­der­mann die tech­ni­schen Mit­tel zur Ver­fü­gung stel­len. Luy­en­di­jks Be­richt über die Nö­te und Gren­zen der Be­richt­erstat­tung folgt man, ich je­den­falls, mit größ­tem In­ter­es­se, sei­ne Er­zäh­lung von der Un­mög­lich­keit, über be­stimm­te Er­eig­nis­se stich­hal­ti­ge Aus­sa­gen zu lie­fern, ist so span­nend wie die klei­nen Er­zäh­lun­gen von Un­ter­drückung und Krieg, mit de­nen sein Buch trotz­dem über die Bil­der und Lü­gen in Zei­ten des Krie­ges ge­spickt ist.

»Trotz­dem«, ge­nau! Hin und wie­der hat­te ich bei der Lek­tü­re den Ein­druck, daß er sich in der Un­mög­lich­keit des Wis­sens ge­ra­de­zu suhlt. Ei­ne auf der Stra­ße oder in der Knei­pe ein­ge­fan­ge­ne Mei­nung ei­nes, sa­gen wir, ein­fa­chen Ägyp­ters, ist sie denn auch »re­prä­sen­ta­tiv«? In dik­ta­to­ri­schen Sy­ste­men gibt es, so Luy­en­di­jk, kei­ne oder je­den­falls kei­ne ver­läß­li­chen Sta­ti­sti­ken, kei­ne Mei­nungs­um­fra­gen, kein rech­ne­risch aus­wert­ba­res Ma­te­ri­al. Aber ist das denn so wich­tig? Ist es un­ab­ding­bar? Oder an­ders­rum: Ver­zerrt und ver­stellt uns der Sta­ti­stik­wahn, der die al­go­rith­mi­sier­ten Ge­sell­schaf­ten er­faßt hat, nicht eher die Wahr­neh­mung? Um zu be­ur­tei­len, was die Stel­lung­nah­me ei­nes ein­zel­nen Bür­gers, ei­nes Mit­men­schen, wert ist, soll­te man – auch wenn man Jour­na­list ist – doch eher auf die ei­ge­ne Er­fah­rung und Men­schen­kennt­nis, auf den Sinn für Kon­tex­te und Zu­sam­men­hän­ge zu­rück­grei­fen. Der­lei Ein­schät­zun­gen sind oft nicht rech­ne­risch ob­jek­ti­vier­bar, aber sie ver­mit­teln wo­mög­lich ein bes­se­res, ge­naue­res Bild von dem, was, teils im Ver­bor­ge­nen, vor sich geht. Mit­tels Denk- und Ur­teils­kraft wer­den vie­le Phä­no­me­ne bes­ser ver­ständ­lich als durch sta­ti­sti­sche Da­ten und die Kor­re­la­tio­nen zwi­schen ih­nen.

Luy­en­di­jk und viel­leicht je­der an­de­re Jour­na­list wür­de so­fort ein­wen­den: Aber für Nach­denk­lich­keit ist in un­se­rem Job we­der Platz noch Zeit, im Me­di­en­ge­schäft muß al­les ruck-zuck ge­hen. Es ist be­zeich­nend für die ge­fes­sel­te Exi­stenz­form des Jour­na­li­sten, daß Luy­en­di­jk im­mer wie­der in die La­ge kommt, Hin­ter­grund­ar­ti­kel Nach­rich­ten oder Kurz­kom­men­ta­ren vor­zu­zie­hen, und daß ihm das pre­sti­ge­be­la­de­ne Fern­se­hen von den Me­di­en, de­ren er sich be­dient, am we­nig­sten zu­sagt (am En­de des Buchs sprengt er die Fes­seln). Geht es um ein – »mög­lichst«! – ge­treu­es Ab­bild der Wirk­lich­keit, stellt sich zu­erst ein­mal die Fra­ge der Aus­wahl des­sen, was be­rich­tens­wert ist, so­wie um den Stand­ort und folg­lich die Per­spek­ti­ve. Bild­be­rich­te sind in stär­ke­rem Maß als Tex­te zum Weg­las­sen und Schnei­den ge­zwun­gen, das Fern­se­hen kann sich ein Zö­gern, ein Hin und Her und Zu­rück, nicht er­lau­ben. Hin­zu kommt, daß das Er­eig­nis meist schon vor­bei ist, wenn die Ka­me­ras her­bei­ge­eilt kom­men (ech­tes »live« ist sel­ten), die Bil­der aber im Au­gen­blicks­rhyth­mus ent­ste­hen, was dann da­zu führt, daß die Er­eig­nis­se nach­ge­stellt wer­den; die zu­ge­hö­ri­gen Ge­fühls­aus­brü­che der Be­trof­fe­nen, der Auf­ge­nom­me­nen und Ge­zeig­ten, sind im­mer auch Schau­spie­le­rei. Und man­che Er­eig­nis­se, De­mon­stra­tio­nen, Ak­tio­nen wer­den von vorn­her­ein so in­sze­niert, daß sie in die Nach­rich­ten pas­sen. Die Wirk­lich­keit ist me­dia­li­siert, noch ehe sie statt­fin­det.

Wir sto­ßen hier auf ei­ne Op­po­si­ti­on, ei­ne Spal­tung, die sich gleich­falls zu ver­tie­fen scheint und durch die di­gi­ta­len Me­di­en, wo Bil­der Tex­te aus­ste­chen, be­schleu­nigt wird: die Spal­tung in ei­nen bild­fi­xier­ten, ten­den­zi­ell il­li­te­ra­ten Be­völ­ke­rungs­teil und ei­ne li­te­ra­te Min­der­heit, die von der Mehr­heit als »Eli­te« ver­schrien wird (das Wort ist in­zwi­schen zum Schimpf­wort ver­kom­men). Die ei­nen re­agie­ren auf ober­fläch­li­che Rei­ze und wol­len ih­re Sicht­wei­sen im­mer aufs neue be­stä­tigt ha­ben; die an­de­ren set­zen sich gern mit Hin­ter­grün­den aus­ein­an­der, ver­su­chen an­de­re Stand­punk­te zu ver­ste­hen, ak­zep­tie­ren Kom­ple­xi­tät und trach­ten sie zu durch­blicken. Bil­der schlie­ßen Tex­te nicht aus, im Ide­al­fall kön­nen sie zu­sam­men­spie­len und sich wech­sel­sei­tig er­hel­len. Die ge­gen­wär­ti­ge Ten­denz geht aber da­hin, daß je­ne die­se ver­drän­gen. Wenn schon Text, dann so kurz wie mög­lich. Durch­ge­setzt hat sich der Twit­ter­stil.

Im Ver­lauf sei­ner jour­na­li­sti­schen Ar­beit im Na­hen Osten wur­de Luy­en­di­jk nach und nach be­wußt, wie un­si­cher das Wis­sen war, das er er­ar­bei­ten konn­te – und wie­viel Wis­sens­wer­tes ihm ver­schlos­sen war. Das galt be­son­ders in der Ge­gend, die er man­gels un­par­tei­ischer Be­zeich­nun­gen mit iro­ni­schem Un­ter­ton das »Hei­li­ge Land« nennt; dort grub sich die schier un­ver­söhn­li­che Dua­li­tät der Stand­punk­te im­mer tie­fer in sein Be­wußt­sein. Beim Le­sen sei­nes Buchs hat man zu­neh­mend das Ge­fühl, er schwan­ke zwi­schen der Rou­ti­ne des Per­spek­tiv­wech­sels – mal der is­rae­li­sche, mal der pa­lä­sti­nen­si­sche, mal der west­li­che, mal der ori­en­ta­li­sche Stand­punkt, bei­de mit gu­ten und schlech­ten Grün­den – und ei­ner Art Über­druß, da die Su­che – nein, nicht nach Wahr­heit, son­dern nach be­schei­de­nen, le­bens­prak­ti­schen Aus­we­gen aus Sack­gas­sen, müh­se­lig und zum Schei­tern ver­ur­teilt war. Ju­den oder Pa­lä­sti­nen­ser, Abend- oder Mor­gen­land, De­mo­kra­tie oder Dik­ta­tur, pro­fes­sio­nel­le PR oder toll­pat­schi­ge Brand­re­den – am En­de ist es al­les eins, die Pro­ble­me auf ewig un­lös­bar, die Ver­su­che, der Wirk­lich­keit »ge­recht« zu wer­den, schmut­zi­ge Si­sy­phos­ar­beit. Wie das Wis­sen ver­mit­telt wird und der (gro­ße) Rest un­ter den Tep­pich ge­kehrt wird, be­stimmt in den ent­schei­den­den Mo­men­ten die Macht, was im Na­hen Osten oft heißt: das Mi­li­tär.

Nach­dem er das von Angst und Ge­walt ge­präg­te täg­li­che Le­ben in ei­ner klei­nen Er­zäh­lung be­schrie­ben hat, be­merkt Luy­en­di­jk, sein be­stes Ma­te­ri­al – Er­fah­run­gen, Er­in­ne­run­gen, Ge­sprä­che – sei nur au­ßer­halb der jour­na­li­sti­schen Gen­res dar­stell­bar. Im Fern­se­hen so­wie­so nicht, aber auch die Text­gen­res mit ih­rem Zwang zur Zu­spit­zung sper­ren sich da­ge­gen. Luy­en­di­jk be­wegt sich hier im Grenz­be­reich zur Li­te­ra­tur, die Sub­jek­ti­vi­tät nicht nur zu­läßt, son­dern in die­ser ei­ne ei­ge­ne Wahr­heits­quel­le fin­det. Fast möch­te ich hier auf die von ab­ge­klär­ten Zy­ni­kern gern lä­cher­lich ge­mach­te For­mel der »sub­jek­ti­ven Au­then­ti­zi­tät« (Chri­sta Wolf) zu­rück­kom­men. Wenn es stimmt, daß ein sol­ches Schrei­ben nicht in den herr­schen­den mas­sen­me­dia­len Kon­text paßt, wird man sich da­mit ab­fin­den müs­sen, daß Re­por­ta­gen wie die von Luy­en­di­jk hin und wie­der in die Zei­tung ge­schmug­gel­ten oder die von Ryszard Ka­pu­scin­ski in sei­nen Bü­chern ver­sam­mel­ten das sind, was im coo­len Sprach­ge­brauch der Mas­sen­me­di­en als »Min­der­hei­ten­pro­gramm« be­zeich­net wird. Afri­ka­ni­sches Fie­ber ist zu­sam­men mit der Zei­le Er­fah­run­gen aus vier­zig Jah­ren ein in die­sem Sinn pas­sen­der, schö­ner, fast pro­gram­ma­ti­scher Ti­tel: ein Jour­na­list, der ge­gen Ei­le und Flüch­tig­keit an­schreibt. Ka­pu­sci­ni­ski er­laubt sich Ab­schwei­fun­gen nicht nur räum­li­cher Art – Afri­ka ist per de­fi­ni­tio­nem ein wei­tes Feld -, son­dern auch in die Ge­schich­te. Ein ein­zel­nes Phä­no­men zu ver­ste­hen, be­deu­tet, sei­nen Kon­text ab­zu­ta­sten, und der ist oft­mals so weit wie der afri­ka­ni­sche Kon­ti­nent. Das aber ver­bie­tet, oder er­schwert zu­min­dest, der Ta­ges­rhyth­mus jour­na­li­sti­schen Schrei­bens. Mehr denn je ist Wahr­heit nichts für die gro­ße Mas­se. Tech­no­lo­gisch hoch­ge­rü­stet, sind wir da­bei, ins Mit­tel­al­ter zu­rück­zu­fal­len: hier die vie­len Bil­der, dort die we­ni­gen bzw. kur­zen Tex­te; hier die Wis­sen­den, dort die tum­be Mas­se, die in der De­mo­kra­tie letzt­lich das Sa­gen hat – falls sie sich nicht ma­ni­pu­lie­ren läßt. Aber viel­leicht kön­nen Leu­te wie Luy­en­di­jk und Ka­pu­scin­ski ja mit ih­ren ei­gen­sin­ni­gen Ver­su­chen die Eli­te der Wis­sen­wol­len­den stär­ken oder so­gar aus­deh­nen, so daß sich die Ver­hält­nis­se un­merk­lich ver­schie­ben könn­ten. Viel­leicht. Eher nicht.

Luy­en­di­jk weist auf die Schwie­rig­kei­ten hin, mit de­nen der Be­richt­erstat­ter kon­fron­tiert ist, und for­dert von sich und sei­nen Kol­le­gen, die­se re­gel­mä­ßig zu be­nen­nen. Er gibt aber auch zu, daß er selbst es in sei­ner jour­na­li­sti­schen Pra­xis sel­ten schafft, die­ser For­de­rung nach­zu­kom­men. Der Zwang zur Ei­le, zum So-tun-als-ob, zum Mit­ma­chen in ei­nem Spiel, das oft zum Krieg aus­ar­tet, ist über­mäch­tig. Im Ver­lauf sei­ner Er­fah­run­gen hat sich die Ge­wiß­heit ver­fe­stigt, daß er nichts – oder je­den­falls nicht viel, nicht aus­rei­chend – wis­sen kann. Der Ta­ges­schrei­ber – vul­go »Jour­na­list« – als So­kra­ti­ker im von (Selbst)zweifeln nur sel­ten be­schli­che­nen (Des)informationszeitalter, wo die Mäch­ti­gen ih­re Pro­pa­gan­da (»Wer­bung«) trei­ben. Die Hoff­nung ist nach wie vor, daß die Welt bes­ser wird, je mehr wir sie ver­ste­hen. Das aber heißt letz­ten En­des, bes­ser zu ver­ste­hen, was wir al­les nicht wis­sen und wel­che Kräf­te dem Ver­ste­hen ent­ge­gen­wir­ken. Die­sem Zweck dient es auch, die Me­cha­nis­men und Hin­ter­grün­de, dunk­len Win­kel und wei­ßen Flecken der Me­di­en­in­du­strie zu durch­leuch­ten.

© Leo­pold Fe­der­mair

10 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Mitt­ler­wei­le ha­be ich das Luy­en­di­jk-Buch dann auch ge­le­sen und war, ob sei­ner Her­an­ge­hens­wei­se ganz an­ge­tan. Das Rin­gen um das Ver­ste­hen, der Ver­such auf­rich­tig zu blei­ben, das Auf­bäu­men ge­gen den Zy­nis­mus, das ist al­les spür­bar. Da­zu be­darf es aber ei­ner Prä­mis­se: Der Wahr­haf­tig­keit, die Mo­ti­va­ti­on über­haupt ob­jek­tiv be­rich­ten zu wol­len, so­dass sich der Leser/Hörer mit den In­for­ma­tio­nen selbst ei­ne Mei­nung bil­den kann. Mein Glau­be an die­sen Jour­na­lis­mus ist in den letz­ten zwan­zig Jah­ren ero­diert. Da­zu Be­darf es gar nicht mal der of­fen­sicht­li­chen Ma­ni­pu­la­tio­nen, es reicht das man spürt, dass der Jour­na­list ei­ne Agen­da ver­folgt, ei­ner Sei­te ver­pflich­tet ist.

    Ich hat­te vor ein paar Jah­ren das viel ge­schmäh­te Buch Ge­kauf­te Jour­na­li­sten. von Udo Ulfkot­te in die Hän­de be­kom­men, mit aus­ge­streck­ten Ar­men ge­le­sen und dann vor al­lem die Be­richt­erstat­tung ver­folgt. Das Buch ist of­fen­sicht­lich mit zwei Fe­dern ge­schrie­ben, ein­mal Ulfkot­tes und dann der des »Lek­tors« des Kopp-Ver­la­ges, der mit bra­chia­ler Ge­walt den Text an­ge­schärft hat­te. Vie­les ist haar­sträu­bend, aber an­de­res schien mir nicht ge­lo­gen oder zu­min­dest nur über­trie­ben. Z.B. wie der Pro­fes­sor den viel­ver­spre­chen­den Stu­den­ten an­spricht, um für den BND an­zu­wer­ben. Ja die Fäl­le gibt es. Oder noch deut­li­cher die Um­wand­lung der jun­gen Eli­te in Em­bedded-Jour­na­li­sten via At­lan­tik­brücke etc.pp. bei Ta­gun­gen in teu­ren Schwei­zer Ho­tels, wo sich der an­ge­hen­de Schrei­ber wich­tig und be­deu­tend fühlt. Ge­gen die­se Ge­wäch­se ist Luy­en­di­jk ein Herz­chen, das nicht mal die er­ste Stu­fe der Kar­rie­re­lei­ter neh­men wird. Aber ge­nau die sind es, die das Mei­nungs­bild be­stim­men, auch mit ei­nem Luy­en­di­jk-Hin­ter­grund­ar­ti­kel auf Sei­te 12. In Deutsch­land sind die Spin­nen im Netz, die die Fä­den zie­hen z.B. Ernst Elitz, Jo­sef Jof­fe oder Ma­thi­as Döpf­ner. Sie ha­ben al­le in ih­rem Phi­lo­so­phie­stu­di­um o.ä. mal ge­lernt was Wahr­haf­tig­keit be­deu­tet.

    Um zu be­ur­tei­len, was die Stel­lung­nah­me ei­nes ein­zel­nen Bür­gers, ei­nes Mit­men­schen, wert ist, soll­te man – auch wenn man Jour­na­list ist – doch eher auf die ei­ge­ne Er­fah­rung und Men­schen­kennt­nis, auf den Sinn für Kon­tex­te und Zu­sam­men­hän­ge zu­rück­grei­fen.

    Ich be­fürch­te, die Men­schen­kennt­nis hört da auf, wo man sich in ei­nem Kul­tur­kreis be­wegt, in dem ei­nem das Ver­hal­ten der an­de­ren Men­schen fremd ist, in dem man nicht weiß, wie man die­ses Lä­cheln jetzt deu­ten muss. Ich neh­me an, Sie ha­ben die­se Er­fah­run­gen in Ja­pan oft ge­nug ge­macht (Es wür­de mich durch­aus in­ter­es­sie­ren, wie Sie da­mit um­ge­hen. Das wä­re ei­nen Bei­trag wert). Der Jour­na­list ist da auf Fremd­mei­nung an­ge­wie­sen und da­mit wie­der auf Ver­trau­en. Ver­trau­en, dass viel zu sel­ten als die Wäh­rung von Ge­sell­schaf­ten ge­se­hen wird. Oh­ne das Ver­trau­en, dass der an­de­re mir nicht, wenn ich mich um­dre­he den Schä­del ein­schlägt (oder halt nur be­trügt), sind mo­der­ne west­li­che Ge­sell­schaf­ten gar nicht denk­bar. Luy­en­di­jk zeigt sehr schön wie Ge­sell­schaf­ten aus­se­hen, wo dies nicht so ist. Es ist das höch­ste Gut, dass wir über Jahr­hun­der­te ent­wickelt ha­ben und für mich auch die Ba­sis des Mi­gra­ti­ons­pro­blems.

    Wei­ter hat mich ir­ri­tiert, dass Luy­en­di­jk beim Guar­di­an plötz­lich Ban­ken-Ex­per­te mit Hin­ter­grund­wis­sen war. Ich-le­se-mich-ein-paar-Mo­na­te-in-ein-The­ma-ein-und-schrei­be-dann-ein-Buch-dar­über funk­tio­niert heu­te nur bei sehr ein­fa­chen The­men­fel­dern. Nor­ma­ler­wei­se ist ab­so­lu­tes Ex­per­ten­wis­sen nö­tig, um ein The­ma zu durch­drin­gen. Das hat Frank Schirr­ma­cher nie ver­stan­den und Bü­cher ab­ge­lie­fert, die zwar den deut­schen Dis­kurs häu­fig zu­min­dest mit­be­stimmt hat­ten, aber das Pa­pier nicht wert wa­ren.

  2. Ei­ne klei­ne War­nung noch: Der Link ver­weist auf ei­nen sehr schmie­ri­gen You­Tube-Chan­nel, ha­be das Vi­deo aber sonst nicht ge­fun­den. Ei­ne Re­la­ti­vie­rung der Bil­der gibt z.B. die taz, was ich aber für nicht glaub­wür­dig hal­te.

  3. Die Ver­si­on von Luy­en­di­jks Buch, die ich ha­be, en­det ja mit dem Ein­marsch der USA-Trup­pen in den Irak 2003. 2015 hat der Ver­lag dann noch ein­mal ei­ne »ak­tua­li­sier­te« Aus­ga­be un­ter ei­nem an­de­ren Ti­tel ver­öf­fent­licht, die ich nicht ken­ne.

    Luy­en­di­jks Be­ob­ach­tun­gen ba­sie­ren vor al­lem Er­fah­run­gen vor dem Hype der In­ter­net-Netz­wer­ke. Nicht, dass es 2003 nicht Face­book oder Twit­ter gab, aber die Aus­wir­kun­gen die­ser Netz­wer­ke wa­ren da­mals noch nicht der­art stark wie heut­zu­ta­ge. In­so­fern er­schei­nen ei­ni­ge sei­ner Ein­sich­ten heut­zu­ta­ge fast harm­los. Auch sein Rin­gen um Wahr­heit und das Ein­ge­ständ­nis, dass man so et­was in ei­ner Be­richt­erstat­tung wo­mög­lich gar nicht ver­mit­teln kann, müss­te man viel­leicht re­la­ti­vie­ren. Gleich­zei­tig ist aber der Ein­druck sehr stark und we­sent­li­che Punk­te sei­ner Kri­tik ha­ben sich ver­schärft (Zeit­druck; Kon­for­mi­täts­druck; PR).

    Der Rei­gen der se­lek­ti­ven Be­richt­erstat­tun­gen bei­spiels­wei­se seit den 1990er Jah­ren ist lang (Na­her Osten [Irak­krie­ge], Ju­go­sla­wi­en, Ge­or­gi­en, Ukrai­ne – um nur au­ßen­po­li­ti­sche Kri­sen­her­de zu nen­nen). Ob das von @Joseph Bran­co ge­po­ste­te Vi­deo da­zu­ge­hört, ist fast gleich­gül­tig. Tat­säch­lich er­schaf­fen Me­di­en häu­fig ge­nug die Er­eig­nis­se, über die sie dann be­rich­ten.

    Die Ur­sa­chen für den Ver­fall der jour­na­li­sti­schen An­sprü­che liegt vor al­lem dar­in, dem po­ten­ti­el­len Pu­bli­kum in Kurz­fas­sun­gen Er­läu­te­run­gen zu ge­ben, die sie ei­gent­lich sel­ber aus »rich­ti­gen« Be­rich­ten her­aus­de­stil­lie­ren soll­ten. Statt den Re­zi­pi­en­ten zu in­for­mie­ren da­mit die­ser dann sel­ber sein Ur­teil fäl­len kann, wird er mit vor­ge­kau­ten Häpp­chen in die ein oder an­de­re Rich­tung ge­schleust. Dies ge­schieht so ge­schickt, dass es nicht auf­fällt. In­zwi­schen ist es fast ein Ge­setz, dass Jour­na­li­sten »Hal­tung« zu zei­gen ha­ben. Der Jour­na­list de­fi­niert al­so, was als »gut« oder »bö­se«, als rich­tig oder falsch zu se­hen ist. Schon in der Bil­der­aus­wahl bei Po­li­ti­kern kann sich die »Mei­nung« der je­wei­li­gen Re­dak­ti­on über die­se Per­son zei­gen.

    Wer sich mit dem Pa­ter­na­lis­mus des Main­streams ar­ran­giert, hat es ein­fach. Wer zwei­felt, stösst am En­de häu­fig auf du­bio­se Web­sei­ten oder Pu­bli­ka­tio­nen. Schließ­lich glaubt man ent­we­der al­les oder gar nichts mehr.

  4. @Joseph Bran­co

    Rin­gen um das Ver­ste­hen, ich den­ke, ge­nau das ist es. Und es exi­stiert nach wie vor, und leicht war es nie, es durch­zu­hal­ten und zu Er­geb­nis­sen zu kom­men. Luy­en­di­jk ver­kör­pert es, er hat ver­sucht, die­se Wahr­haf­tig­keit zu le­ben, das geht aus sei­nem Buch her­vor, es hat die ent­spre­chen­de Au­then­ti­zi­tät.

    Es gibt ei­nen Film, den ich ziem­lich blöd fin­de, ob­wohl ihn al­le ge­lobt ha­ben, als er er­schien, und wahr­schein­lich in al­le Ewig­keit lo­ben wer­den: Lost in Trans­la­ti­on. Die­se Be­quem­lich­keit, mit der man die bis zum Über­druß ein­ge­schlif­fe­nen west­lich-ro­man­ti­schen oder ‑ko­mi­schen Lie­bes­ge­schich­ten wie­der­holt und ne­ben­bei Wit­ze macht über ei­ne frem­de Um­ge­bung, die man an­geb­lich nicht ver­ste­hen kann. Na­tür­lich kann man! Die Protag­nis­ten sind halt zu be­quem da­zu. Die­se Leu­te be­zah­len Über­set­zer, die die »trans­la­ti­on« für sie er­le­di­gen, aber ge­nau das wird ver­schwie­gen. Und eben­so sind Jour­na­li­sten tä­tig, die mit­un­ter ih­re Exi­stenz in die Waag­scha­le wer­fen, um et­was her­aus­zu­be­kom­men und schrei­ben zu kön­nen.

    Ich ha­be ei­ni­ge Kul­tu­ren und Spra­chen ken­nen­ge­lernt, kei­ne scheint mir so fremd wie die ja­pa­ni­sche, die­ses Kli­schee trifft die Ge­ge­ben­hei­ten. Aber ge­nau das ist doch für ei­nen Jour­na­li­sten, Schrei­ber, For­scher, Über­set­zer..., der die­sen Na­men ver­dient, die Her­aus­for­de­rung, die er braucht. Und wenn sie da ist und an­ge­nom­men wor­den ist, äu­ßert sich das in den jour­na­li­sti­schen oder li­te­ra­ri­schen Tex­ten als je­ne spe­zi­fi­sche Span­nung, die auch bei Luy­en­di­jk spür­bar ist. Üb­ri­gens auch in sei­nem Ban­ken-Buch, fin­de ich. Er war da zwei Jah­re dran, glau­be ich, und hat sich tief in die­ses Mi­lieu hin­ein­ge­bohrt, fast ver­bohrt. Daß die Er­geb­nis­se am En­de dann doch wie­der ent­täu­schen, liegt viel­leicht eher am Mi­lieu als am Jour­na­li­sten. Zum Bei­spiel be­tont L. mehr­fach, Gier sei nicht das, was die Ban­ker in Lon­don in er­ster Li­nie aus­zeich­net, aber wenn man zu den Schluß­fol­ge­run­gen kommt, ist die Gier dann doch wie­der ein Fak­tor, der mit zur Kri­se von 2008 bei­getra­gen hat.

    Ich stim­me auch zu, daß un­se­re auf­ge­klär­ten und (mehr oder min­der) frei­en Ge­sell­schaf­ten, da­mit sie funk­tio­nie­ren kön­nen, die Pra­xis des wech­sel­sei­ti­gen Ver­trau­ens brau­chen. Schon mög­lich, daß es in den ge­gen­wär­ti­gen Trans­for­ma­tio­nen da­bei ist, ver­lo­ren zu ge­hen. Was soll un­ser­eins dann? Zu­schau­en, kom­men­tie­ren, im­mer noch ver­ste­hen ver­su­chen, auch wenn es sinn­los wird, weil es kei­ne Adres­sa­ten mehr gibt.

    In Ja­pan – das letz­te The­ma, mit dem ich mich aus­ein­an­der­ge­setzt ha­be: die Wi­der­sprü­che ei­ner schein­bar ein­heit­li­chen und de fac­to in vie­ler Hin­sicht wirk­lich ein­heit­li­chen Ge­sell­schaft, in der ge­wis­se Ge­gen­kräf­te und Dif­fe­ren­zen wirk­sam sind, aber auf heim­li­che Wei­se. Die Ge­schich­te der ko­rea­ni­schen Zu­wan­de­rung und wie sie heu­te fort­wirkt. Da ich kein In­ve­sti­ga­ti­ons­jour­na­list bin, zeh­re ich bei sol­chen Ar­bei­ten eher von oft ganz zu­fäl­lig ge­mach­ten Er­fah­run­gen, die sich über Jah­re hin­weg er­strecken und Ver­ste­hens­zu­sam­men­hän­ge er­ge­ben. Man braucht frei­lich die ent­spre­chen­de Auf­merk­sam­keit, Neu­gier, Aus­dau­er – un­ser täg­li­ches Brot.

    Und noch ein letz­ter Ver­such, kurz: Lost in trans­la­ti­on sind wir im­mer, über­all, ge­gen­über un­se­ren Näch­sten, die uns seit je­her »ver­traut« sind, eben­so wie ge­gen­über dem Ja­pa­ner oder (bei Luy­en­di­jk) Ara­ber, der in völ­lig an­de­ren Ver­hält­nis­sen auf­ge­wach­sen ist. Wir kom­men nie drum her­um, Fremd­heit zu kon­sta­tie­ren und Über­brückungs­ver­su­che zu ma­chen. Die wo­mög­lich im­mer schei­tern.

  5. Zu Gre­gor K. noch: Zu­min­dest theo­re­tisch gilt im frei­en Jour­na­lis­mus ja im­mer noch die Tren­nung von In­for­ma­ti­on und Mei­nung, Be­richt und Kom­men­tar. Es wür­de ge­nü­gen, die­se im­mer wie­der ein­zu­for­dern. In be­stimm­ten Fäl­len fin­de ich es gar nicht schlimm, manch­mal un­ver­meid­lich, daß das ei­ne ins an­de­re über­geht, aber grund­sätz­lich soll­te die­se Tren­nung gel­ten. Das kann sich in ei­nem kon­kre­ten Ar­ti­kel auch so ge­stal­ten, daß der Jour­na­list die Vor­aus­set­zun­gen (Wis­sen und Wer­tun­gen) kennt­lich macht, oh­ne die er u. U. gar nicht zu Er­kennt­nis­sen kom­men kann. Nie­mand kann sich an ei­nen ar­chi­me­di­schen Punkt be­ge­ben. Nie­mand kann voll­kom­men wert­frei agie­ren.

    Im üb­ri­gen fin­de ich, daß der Ver­fall der Le­se­kul­tur un­ter­schla­gen wird. All die­se so leicht zu em­pö­ren­den Nutzer/Konsumenten schla­gen ge­nüß­lich auf »Lü­gen­pres­se« und ih­re Jour­na­li­sten hin, aber daß sie viel­leicht durch ih­re ei­ge­ne Ver­blö­dung zur Ver­sump­fung der Me­di­en­land­schaft bei­tra­gen könn­ten, auf die­se Idee kom­men sie na­tür­lich nie. Der Kun­de ist Kö­nig, über je­den Ver­dacht er­ha­ben.

  6. Na­tür­lich ist ein Jour­na­list fast nie vor­aus­set­zungs­frei und hat sei­ne Mei­nung, die dann ir­gend­wie auch im­mer in ei­nen Be­richt ein­fliesst. Aber in­zwi­schen wer­den die ka­te­go­ri­schen Mei­nungs­be­für­wor­ter im­mer lau­ter (s. hier bei ei­ner mehr­fach aus­ge­zeich­ne­ten Jour­na­li­stin oder auch hier bei ei­nem »Spiegel«-Kolumnisten [der in ge­wis­sen Krei­sen ei­nen ho­hen Sta­tus ge­nießt]). Dies geht zu­meist ein­her mit der Sa­kra­li­sie­rung des Jour­na­lis­mus als »vier­te Ge­walt«, die, wenn man die Kri­te­ri­en an­legt, als ein­zi­ge gänz­lich oh­ne Re­gu­lie­rung aus­zu­kom­men ha­be (Stich­wort: Mei­nungs­frei­heit). Da­mit soll na­tür­lich die ver­lo­re­nen ge­hen­de Au­to­ri­tät als »Gate­kee­per« ir­gend­wie kom­pen­siert bzw. wie­der neu auf­ge­baut wer­den. Wie einst mei­ne Groß­mutter das Buch ver­teu­fel­te, so ist es heu­te »das In­ter­net«.

    Es ist die­se Form der Ab­ge­ho­ben­heit, der Selbst­er­mäch­ti­gung, die die Re­zi­pi­en­ten ab­stösst. Sie stösst ab, weil man zu oft mit­be­kom­men hat, wie Fak­ten ver­bo­gen, ge­fil­tert oder ein­fach nur weg­ge­las­sen wer­den. Die­se Maß­nah­men fal­len heu­te – im Ge­gen­satz zu frü­her – auf.

    Die Schuld beim Pu­bli­kum ab­zu­la­den, ist mir zu ein­fach. Der Zu­sam­men­hang zwi­schen feh­ler­haf­ter und/oder ten­den­ziö­ser Be­richt­erstat­tung und ei­ner »Ver­sump­fung der Me­di­en­land­schaft« mag mir nicht ein­leuch­ten. Der »nor­ma­le« Le­ser, Zu­schau­er, Zu­hö­rer hat schlicht­weg kei­ne Zeit zwei, drei dif­fe­rie­ren­de Me­di­en zu kon­sul­tie­ren, um sich ei­nen Über­blick zu ver­schaf­fen.

    Neu­lich ist mir ein Text in die Hän­de ge­fal­len, von dem ich schon häu­fi­ger ge­hört hat­te. Er ist von Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger, da­tiert aus 1957 (und wur­de 1997 noch­mals ab­ge­druckt). Er be­schäf­tigt sich mit der Spra­che des deut­schen Nach­rich­ten­ma­ga­zins »Der Spie­gel«»Das Ma­ga­zin hat die Macht, ei­nen kor­rup­ten Be­am­ten aus sei­nem Amt zu ent­fer­nen, ei­nen Mi­ni­ster öf­fent­lich an­zu­grei­fen, of­fi­zi­el­le Zweck­lü­gen dem all­ge­mei­nen Ge­läch­ter preis­zu­ge­ben; es hat aber auch die Macht, die Mei­nun­gen von Mil­lio­nen zu kor­rum­pie­ren. So­lan­ge es von die­ser Mög­lich­keit Ge­brauch macht, stellt es da­mit sei­ne Le­gi­ti­ma­ti­on, je­ne zu er­grei­fen, selbst in Fra­ge.«

    Ein Jour­na­list, der es ernst meint, wä­re dem­nach je­mand, der Mei­nung nicht zur »Kor­rup­ti­on« ein­setzt. Hier­für be­darf es ei­ner Be­richt­erstat­tung, die dem Re­zi­pi­en­ten al­le Mög­lich­kei­ten lässt.

  7. @Leopold Fe­der­mair

    Die Fi­gur, die Bill Mur­ray in Lost in Trans­la­ti­on spielt, fand ich auch sehr un­an­ge­nehm, wie ein Ko­lo­ni­al­herr, der sich über al­les lu­stig macht, was er nicht kennt. Mit Na­tür­lich kann man! set­zen Sie das an­de­re Ex­trem. Ist das wirk­lich so? Und wie lan­ge dau­ert das? Die üb­li­che Sta­ti­on ei­nes Jour­na­li­sten dau­ert zwei, drei oder max. fünf Jah­re. Kann man in der Zeit das gan­ze Spin­nen­netz der ge­sell­schaft­li­chen Ver­flech­tun­gen über­se­hen? Ich ha­be ei­ne Be­kann­te, die als Schü­le­rin ein Jahr in Ja­pan war und bis zum Schluss größ­te Pro­ble­me hat­te, nur die Stim­mungs­la­ge des Ge­gen­übers zu er­fas­sen. Von den Mo­ti­va­tio­nen der Men­schen ganz zu schwei­gen.

    Ich fin­de es im­mer sehr in­ter­es­sant, wenn aus­län­di­sche Re­por­ter sich ei­ne ei­ge­ne Mei­nung über das deut­sche Po­lit­ge­sche­hen lei­sten und nicht nur bei den deut­schen Kol­le­gen ab­schrei­ben. Meist kommt da­bei nur Un­sinn her­aus und sagt mehr über den Jour­na­li­sten bzw. sein Hei­mat­land aus, als über die La­ge in Deutsch­land. Ich neh­me an, dass dies um­ge­kehrt ge­nau­so ist. Lei­der be­herr­sche ich nur die eng­li­sche Spra­che so gut, dass ich ei­ner qua­li­fi­zier­ten Be­richt­erstat­tung fol­gen kann, ver­su­che aber trotz­dem ei­nen Über­blick über die Be­find­lich­kei­ten in an­de­ren Län­dern zu be­kom­men. Das ist vor al­lem dann in­ter­es­sant, wenn die glei­chen Pro­blem­stel­lun­gen völ­lig un­ter­schied­lich be­ant­wor­tet wer­den, aber die Re­gie­run­gen gleich­zei­tig dem TI­NA-Prin­zip fol­gen.

    P.S. Das The­ma der we­gen Über­al­te­rung lang­sam for­cier­ten Zu­wan­de­rung nach Ja­pan geht hier ge­ra­de durch die Pres­se (Abé ver­ab­scheut Aus­län­der).

  8. ad Gre­gor K.: Zum Jour­na­lis­mus als Kon­troll­in­stanz, kri­ti­sches Ge­wis­sen etc. se­he ich kei­ne Al­ter­na­ti­ve. Daß bei wei­tem nicht al­le me­dia­len Or­ga­ne und ein­zel­nen Jour­na­li­sten ent­spre­chend agie­ren, steht auf ei­nem an­de­ren Blatt, das muß man na­tür­lich kri­ti­sie­ren (wie einst Karl Kraus die Me­di­en sei­ner Zeit kri­ti­sier­te). Daß sich die Tech­no­lo­gie und Struk­tur der Mas­sen­me­di­en än­dert, ist wie­der et­was an­de­res. Jour­na­lis­mus in dem Sinn, den ich hier mei­ne, fin­det auch im In­ter­net statt, un­ter ge­än­der­ten Vor­aus­set­zun­gen, die Print­me­di­en ha­ben das ja durch­aus er­kannt und ver­su­chen zu re­agie­ren. Der Di­gi­ta­li­sie­rung wohnt aber wie­der­um ei­ne ei­ge­ne Pro­ble­ma­tik und Dy­na­mik in­ne. Ob der Schritt von der Pres­se­kon­fe­renz, wo Jour­na­li­sten – kom­pe­tent oder nicht – das Ge­sag­te sie­ben, zum stän­di­gen, un­ge­fil­ter­ten Twit­tern ein Fort­schritt ist?

    Der Ver­fall der Le­se­kul­tur – ich mei­ne jetzt nicht Li­te­ra­tur, son­dern al­le Ar­ten von Tex­ten und Kon­tex­ten – scheint mir doch auf der Hand zu lie­gen. Die Ten­denz zur Vi­sua­li­sie­rung der Kom­mu­ni­ka­ti­on und Re­du­zie­rung des Schrift­li­chen (Twit­ter­stil, qua­si-münd­li­che Emails...). Für die Li­te­ra­tur ha­be ich kon­sta­tiert: Im­mer mehr wol­len Bü­cher ver­öf­fent­li­chen, im­mer we­ni­ger wol­len Bü­cher le­sen. An »Au­toren« gibt es kei­nen Man­gel, die Kunst des Le­sens, al­so des Ver­ste­hens, wird im­mer mehr zum »Min­der­hei­ten­pro­gramm« – um auch ein­mal ei­ne die­ser me­dia­len Flos­keln zu ge­brau­chen.

    ad Jo­seph Bran­co: In Ja­pan ha­be ich u. a. ge­lernt zu ak­zep­tie­ren, daß wir ein­an­der nicht ver­ste­hen kön­nen. Ist auch nicht not­wen­dig. Für die al­ler­mei­sten Ja­pa­ner kommt es dar­auf an, ei­nen Ort im Sy­stem zu ha­ben und dar­in funk­tio­nie­ren zu kön­nen. Re­geln, an die man sich hal­ten kann. For­men und For­meln, die man be­nutzt. Ich glau­be al­len Ern­stes, daß die­ser Ty­pus von In­di­vi­du­um für die Il­lu­si­on wech­sel­sei­ti­ger Durch­drin­gung nicht so an­fäl­lig ist.

    Gleich­zei­tig blei­be ich da­bei, daß wir Ver­ste­hens­pro­zes­se be­gin­nen kön­nen und müs­sen, je­der­zeit und über­all. Wir müs­sen halt die ent­spre­chen­de Ar­beit auf uns neh­men. Den­ken (und al­so Ver­ste­hen) ist vor al­lem Mut. Und es er­for­dert ei­ne Art von Fleiß.

  9. Das Pro­blem be­steht m. E. dar­in, dass Jour­na­li­sten von der »die­nen­den Funk­ti­on« (der Über­mitt­lung, Be­richt­erstat­tung) zur »ge­stal­ten­den Funk­ti­on« ge­wech­selt sind. Be­richt und Kom­men­tar wer­den nicht mehr ge­trennt – und das durch­aus be­wusst. Die von mir vor­ge­brach­ten Bei­spie­le sind mit­nich­ten Ein­zel­fäl­le. In an­de­ren Kom­men­ta­ren er­wähn­te ich die durch­gän­gig ten­den­ziö­se Be­richt­erstat­tung bspw. wäh­rend der Ju­go­sla­wi­en-Krie­ge aber auch im Fall von Ukrai­ne, Li­by­en, usw. Jour­na­li­sten nei­gen da­zu, sich zu Her­den zu­sam­men zu schlie­ßen. Die Er­geb­nis­se sind dann be­kannt.

    Das Pro­blem ist der­art, dass nicht ein­fach das Ge­gen­teil des Main­streams rich­tig ist. Und ein Karl Kraus wür­de mit sei­ner Ein­sei­tig­keit und Po­le­mik heut­zu­ta­ge ganz schnell ge­sperrt wer­den.

    Der Ver­fall der Le­se­kul­tur hat na­tür­lich auch mit dem Ver­fall jour­na­li­sti­scher Stan­dards zu tun. In Re­dak­tio­nen sit­zen Leu­te, die dem Pu­bli­kum nichts mehr zu­mu­ten möch­ten. Kom­ple­xe In­hal­te wer­den re­du­ziert. So oft ich po­li­ti­sche Talk­shows se­he (was nicht oft pas­siert) wird der­je­ni­ge, der Hin­ter­grün­de be­leuch­ten möch­te mit dem üb­li­chen »Das geht jetzt zu sehr ins De­tail« ab­ge­bü­gelt. In der Ge­sell­schaft ist es nicht mehr »schick« zu le­sen. Und ich hö­re von Ger­ma­ni­stik-Stu­den­ten, dass sie kei­ne gan­zen Ro­ma­ne mehr le­sen »müs­sen« – nur noch Aus­schnit­te wer­den ih­nen »zu­ge­mu­tet«. Das Twit­ter-For­mat ist zu­dem kei­ne Er­fin­dung von Trump.

  10. @Gregor K.
    Die Kat­ze beißt sich in den Schwanz. Oder ex­pli­ka­tiv: Die Hen­ne war (nicht) vor dem Ei.