Gräu­el der Ge­gen­wart ‑6/11-

(← 5/11)

Der sprin­gen­de Punkt in For­re­sters Dar­stel­lung ist das Spär­lich­wer­den der Ar­beit und der Un­wil­le der mit dem The­ma be­faß­ten In­sti­tu­tio­nen, Mas­sen­me­di­en und Po­li­ti­ker, die­se Tat­sa­che an­zu­er­ken­nen und ihr Rech­nung zu tra­gen. Lie­ber tut man so, als sei die Ar­beits­lo­sig­keit ein vor­über­ge­hen­des Pro­blem, das man mit her­kömm­li­chen Me­tho­den lö­sen kön­ne. Un­ter­des­sen su­chen die Leu­te ver­zwei­felt nach Ar­beit oder se­hen sich ge­nö­tigt, so zu tun, als such­ten sie da­nach, oder sie er­fin­den auf ih­rem an­ge­stamm­ten Po­sten ei­gent­lich un­nö­ti­ge Ar­beits­auf­ga­ben, so daß sich der Streß, ob­wohl er ab­ge­baut wer­den könn­te, noch er­höht. Doch es wird For­re­ster zu­fol­ge auch in Zu­kunft viel zu we­nig Ar­beit und im­mer we­ni­ger da­von ge­ben. We­nig Ar­beit je­den­falls im her­kömm­li­chen, auf die Zei­ten der in­du­stri­el­len Re­vo­lu­ti­on zu­rück­ge­hen­den Sinn. Auch wohl­mei­nen­de Po­li­ti­ker, de­nen das Schick­sal der über­flüs­sig Ge­wor­de­nen ein An­lie­gen ist, hal­ten an der Idee der Ar­beit fest. Ur­sa­chen die­ser Si­tua­ti­on gibt es meh­re­re. For­re­ster nennt vor al­lem die Au­to­ma­ti­sie­rung, Ro­bo­ter­i­sie­rung und Di­gi­ta­li­sie­rung – heu­te wä­ren Künst­li­che In­tel­li­genz, deep lear­ning und Re­pro­duk­ti­on in­tel­li­gen­ter Ma­schi­nen hin­zu­zu­fü­gen –, de­ren ge­sell­schaft­li­che Fol­gen man seit der Nach­kriegs­zeit hät­te vor­her­se­hen kön­nen, hät­te man die da­mals er­schie­ne­nen Schrif­ten des Ky­ber­ne­ti­kers Nor­bert Wie­ner ernst­ge­nom­men. Trotz­dem be­klagt For­re­ster das Ver­schwin­den der Ar­beit nicht grund­sätz­lich. Im Ge­gen­teil, man kön­ne und sol­le dies als Be­frei­ung vom bi­bli­schen Joch – »im Schwei­ße dei­nes An­ge­sichts« etc. – be­grü­ßen; als Chan­ce, end­lich ei­ne freie Ge­sell­schaft zu er­rich­ten.

Schon Marx und En­gels hat­ten die Ver­kür­zung des Ar­beits­tags als Vor­aus­set­zung für ech­te De­mo­kra­tie ge­nannt; erst dann hät­ten die Ar­bei­ter ge­nü­gend freie Zeit, sich um die An­ge­le­gen­hei­ten der Po­lis zu küm­mern. Denkt man For­re­sters Aus­füh­run­gen wei­ter, liegt das Heil, wenn es denn ei­nes gibt, nicht so sehr in Ar­beits­zeit­ver­kür­zun­gen, wie sie in ei­ni­gen eu­ro­päi­schen Län­dern ge­gen En­de des 20. Jahr­hun­derts tat­säch­lich durch­ge­führt wur­den (in­zwi­schen hat sich die Ten­denz frei­lich wie­der um­ge­kehrt), son­dern im be­din­gungs­lo­sen Grund­ein­kom­men für al­le, das es den Men­schen er­mög­li­chen soll, ih­re Grund­be­dürf­nis­se zu be­frie­di­gen. Es ist zwei­fel­los ei­ne Iro­nie der Ge­schich­te, daß nicht je­ne Län­der, die im 20. Jahr­hun­dert den Kom­mu­nis­mus zu ver­wirk­li­chen ver­such­ten und ihn da­bei des­avou­ier­ten, die­ser Lö­sung nä­her­ka­men, son­dern der fort­ge­schrit­te­ne, tech­no­lo­gisch hoch­ent­wickel­te Ka­pi­ta­lis­mus. »Je­der nach sei­nen Fä­hig­kei­ten, je­dem nach sei­nen Be­dürf­nis­sen.« Wer krea­tiv sein will, kann das gern tun, und wenn er Geld da­mit ver­dient, auch recht. Ein aus­rei­chend do­tier­tes Grund­ein­kom­men für al­le wür­de die Vi­si­on von Marx und En­gels in die Pra­xis um­set­zen. Wei­ter­le­sen

Ijo­ma Man­gold: Der in­ne­re Stamm­tisch

Ijoma Mangold: Der innere Stammtisch

Ijo­ma Man­gold:
Der in­ne­re Stamm­tisch

Ijo­ma Man­gold wird im näch­sten Jahr 50, ist Feuil­le­to­nist (seit ei­ni­gen Jah­ren in meh­re­ren Funk­tio­nen bei der »Zeit« be­schäf­tigt) und Li­te­ra­tur­kri­ti­ker und man muss ihm da­her ei­nen ho­hen Sen­si­bi­li­täts­grad für Spra­che un­ter­stel­len. So ist der Ti­tel sei­nes neu­en Bu­ches wohl be­wusst as­so­zia­tiv: »Der in­ne­re Stamm­tisch« er­in­nert an die längst dä­mo­ni­sier­te Vo­ka­bel vom »in­ne­ren Reichs­par­tei­tag«, die im Jahr 2010 ei­ner deut­schen Sport­re­por­te­rin fast zum Ver­häng­nis ge­wor­den wä­re.

Da­bei schreibt er ei­gent­lich nur Ta­ge­buch, und zwar vom 19. Sep­tem­ber 2019 bis zum 13. April 2020. Be­ginn und En­de schei­nen je­weils oh­ne be­son­de­ren An­lass zu sein. Am An­fang wird das Ta­ge­buch zu ei­ner Art in­ne­ren Mo­no­log er­klärt (was es ja per se im­mer ist). Aber hier geht es fast im­mer um po­li­ti­sche Stel­lung­nah­men und – Ach­tung: der Au­tor mag das Wort nicht – Re­fle­xio­nen über ge­sell­schaft­li­che und po­li­ti­sche Ent­wick­lun­gen. Pri­va­tes bleibt weit­ge­hend aus­ge­spart; das in­tim­ste Er­leb­nis ist die Ent­täu­schung, als er mit ei­nem Oh­ren­stäb­chen nicht den er­hoff­ten Schmutz aus sei­nem Ge­hör­gang her­auspuh­len kann.

Es be­ginnt so­fort mit Fri­day-for-Fu­ture. In ei­ner Ki­ta be­rei­tet man sich, wie er hört, auf ei­ne FFF-De­mo ge­naue­stens vor und kauft vor­her noch grü­ne Kla­mot­ten für die Kin­der, da­mit al­les stil­echt ist. Man­gold sel­ber outet sich als »äs­the­ti­scher Gre­ta-Fan« (»ihr Ge­sicht ist schön wie das ei­ner from­men Jung­frau«) und es ist ihm gleich, dass ihm dies als Zy­nis­mus aus­ge­legt wer­den kann. Ir­gend­wann wird er noch deut­li­cher und macht sich zum »öko­tau­ben, miso­gy­nen, al­ten, wei­ßen Gre­ta-Ha­ter«. Ge­schenkt, ich ha­be ver­stan­den.

Na­tür­lich zwei­felt Man­gold den Kli­ma­wan­del und die Not­wen­dig­keit von Maß­nah­men, die­sem ent­ge­gen­zu­wir­ken, nicht an. Aber er kul­ti­viert eben auch bei die­sem The­ma, was er als ei­ne Art Le­bens­ma­xi­me (oder, wenn man es ne­ga­tiv sieht, als Krank­heit) de­fi­niert: sei­nen Trotz. So­bald in ei­nem Raum Ei­nig­keit be­steht, ist er es, der spon­tan mit ei­ner Ge­gen­mei­nung ein­greift. So auch hier, denn »der selbst­ge­rech­te Ge­wiss­heits­ton, zu dem das The­ma ein­lädt, trig­gert« ihn ähn­lich wie die Bi­got­te­rie der ver­meint­li­chen Öko-Mu­ster­schü­ler (was zu lau­ni­gen Aus­füh­run­gen über die Kir­chen-Heu­che­lei­en der Ver­gan­gen­heit führt).

Was die No­ta­te in­ter­es­sant macht: Es we­der ein Da­ge­gen­sein, um da­ge­gen zu sein – aber auch nicht das Ge­gen­teil. Man­gold wägt tat­säch­lich ab – nicht im­mer un­be­dingt mit der not­wen­di­gen Kon­se­quenz, aber das macht ge­ra­de die Mi­schung aus Leich­tig­keit, Hoch­mut und Klug­heit (ich hät­te fast ge­schrie­ben: Charme – aber man soll nicht über­trei­ben) vie­ler Ein­tra­gun­gen aus. Wei­ter­le­sen

Ein Schat­ten

                      Ein Schat­ten
                      nach Loui­se Glück

Als sie sich küss­ten mit­ten
            auf der Land­stra­ße, war da et­was.
                       Ein Vo­gel­flug.

Sich von ein­an­der lö­send,
           blick­ten sie rasch auf:
                              ein Fal­ke flog

mit sei­nem Fang da­von,
           und die­se Flug­ge­stalt
                    warf über Lehm­grund ei­nen Schat­ten.

Als der ab­rupt dann im Ge­län­de
           ver­schwand, ging es ihr
                                durch den Kopf:

»Ein Schat­ten, wie der ei­ne
                    den wir mach­ten,
                                    er mich hal­tend«.

[Ei­ne bis­her un­ver­öf­fent­lich­te, Jah­re zu­rück­lie­gen­de, An­eig­nung von Hawk’s Shadow. – S. O.]

© San­der Ort

Der ein­ar­mi­ge Ban­di­ti

»Ich sah dich fah­ren, Jo­seph Roth.
Im Zug, im car, in gro­ßer Not.
Von Frank­reich ging es über Prag
An Or­te, die man nicht nen­nen mag.
Du warst ein Träu­mer, Jo­seph Roth.
Du warst ein Mensch, nun bist du tot.
Ein Dich­ter, Trin­ker und Sol­dat.
Du nahmst ge­las­sen, was uns naht –
«

»Was uns naht«, wie­der­hol­te der Ver­le­ger mit rat­lo­sem Blick auf das Smart­phone, das Ban­di­ti ihm in die Hand ge­drückt hat­te. »Was soll das hei­ßen? Was ist das?«
»Mein er­stes Ge­dicht«, sag­te Ban­di­ti. »Für den neu­en Ge­dicht­band.«
»Ah, ver­ste­he.« Der Ver­le­ger reich­te Ban­di­ti sein Te­le­fon zu­rück, und die­ser glotz­te ver­liebt auf das Dis­play, ließ per Dau­men den Text auf und ab wan­dern.
»Du, es gibt noch ei­ne Hoff­nung«, fing der Ver­le­ger an.
Ban­di­ti sah auf. »Ist gut, gell?«
»Was?«
»Na, das Ge­dicht!«
»Das ist, ja – das ist sehr gut. Aber pass auf, ich hab hier ei­ne An­fra­ge be­kom­men …« Der Ver­le­ger ra­schel­te mit ei­nem hand­ge­schrie­be­nen Brief, der die gan­ze Zeit vor ihm auf dem Schreib­tisch ge­le­gen hat­te. »Der Suhr­kamp Ver­lag hat mir ein Schrei­ben wei­ter­ge­lei­tet. Pe­ter Hand­ke will dich über­set­zen.«
Ban­di­ti sah auf. »What the fuck!«, rief er. »Was soll das hei­ßen, mich über­set­zen? In wel­che Spra­che?«
Ban­di­ti konn­te die Ant­wort zu­nächst nicht ver­ste­hen, weil der Ver­le­ger so nu­schel­te.
»Was sagst du?«
Der Ver­le­ger wie­der­hol­te: »Ins Deut­sche!«
Da war Ban­di­ti baff! »Er will mich INS DEUTSCHE über­set­zen? Ist die­ser Mensch denn to­tal gei­stes­krank? Das ist doch so ein Schrift­stel­ler, oder?«
»Er ist ei­ner der be­sten Schrift­stel­ler der Welt.«
»Das bin ich auch.«
»Aber er ist auch ei­ner der er­folg­reich­sten«, sag­te der Ver­le­ger, und dar­auf fiel Ban­di­ti nun wahr­lich kei­ne Re­plik ein. Er wand­te sich lie­ber wie­der sei­nem Jo­seph-Roth-Po­em zu.
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Gräu­el der Ge­gen­wart ‑5/11-

(← 4/11)

Tho­mas Pi­ket­ty hat neu­er­dings ei­ne Men­ge De­tails zur Ana­ly­se und Kri­tik des heu­ti­gen Ka­pi­ta­lis­mus bei­getra­gen und so die em­pi­ri­sche Grund­la­ge für Über­le­gun­gen ge­stärkt, die For­re­ster oft ein we­nig oben­hin an­stell­te.1 Mit Zu­stim­mung le­se ich bei For­re­ster die Kenn­zeich­nung des Neo­li­be­ra­lis­mus als Denk­form, oder bes­ser ge­sagt: als tro­ja­ni­sches Pferd, das sich un­merk­lich über die Jah­re hin­weg in die Ge­hir­ne, die Ge­wohn­hei­ten, die Wer­te (und den Ver­zicht auf Wer­te), das zwi­schen­mensch­li­che Ver­hal­ten ein­ge­schli­chen hat. Erst auf­grund die­ser jah­re­lan­gen, mehr oder min­der sanf­ten, ideo­lo­gie­frei­en In­dok­tri­nie­rung wur­de es mög­lich, daß Ge­stal­ten wie der Im­mo­bi­li­en­hai Do­nald Trump oder der Me­di­en­mo­gul Sil­vio Ber­lus­co­ni ans Ru­der der Staats­macht ka­men. Sie ver­kör­pern je­nes neo­li­be­ra­le Per­sön­lich­keits­mo­dell, das wei­te Tei­le der Be­völ­ke­rung hoch­ach­ten und dem sie nach­stre­ben. Die nicht de­kla­rier­te Ge­walt der neo­li­be­ra­len Ideo­lo­gie war »so ef­fi­zi­ent, daß sich die po­li­ti­sche und wirt­schaft­li­che Land­schaft vor den Au­gen al­ler, doch oh­ne ihr Wis­sen, tief­grei­fend än­der­te, oh­ne daß da­durch ih­re Auf­merk­sam­keit oder gar Sor­ge ge­weckt wor­den wä­re.« Die Re­de ist von den acht­zi­ger und frü­hen neun­zi­ger Jah­ren des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts. »Das neue pla­ne­ta­ri­sche Sche­ma«, fährt For­re­ster fort, »setz­te sich un­be­merkt durch und konn­te so un­ser Le­ben be­herr­schen, oh­ne daß dies ir­gend­je­man­dem auf­fiel, au­ßer na­tür­lich den öko­no­mi­schen Kräf­ten, die es lan­ciert hat­ten.« Wei­ter­le­sen


  1. "Die Frage der Verteilung der Reichtümer ist zu wichtig, um allein den Ökonomen, Soziologen, Historikern und anderen Denkern überlassen zu werden", schreibt Piketty in der Einleitung zu Das Kapital im 21. Jahrhundert. "Sie interessiert jedermann, und das ist gut so." Diese Frage werde immer eine eminent subjektive und psychologische, politische, konfliktuelle Dimension haben, "die keine vorgeblich wissenschaftliche Analyse ruhigstellen kann. Zum Glück wird die Demokratie niemals durch die Expertenrepublik ersetzt werden." 

»Ich ist ein an­de­rer, der ein an­de­rer ist«

Leopold Federmair: Wer war Emilio Renzi?

Leo­pold Fe­der­mair:
Wer war Emi­lio Ren­zi?

»Wer war Emi­lio Ren­zi?« fragt Leo­pold Fe­der­mair in sei­ner »Spu­ren­su­che mit Ri­car­do Pi­glia«, ei­nem Es­say von statt­li­chen 245 Sei­ten, auf­ge­teilt in 24 Ka­pi­tel. Nur we­ni­gen dürf­te im deutsch­spra­chi­gen Raum Ri­car­do Pi­glia oder auch Emi­lio Ren­zi ein Be­griff sein. Sol­len die­se Men­schen die­ses Buch le­sen? Be­reits nach we­ni­gen Sei­ten ist für mich der Fall klar: Ja. Un­be­dingt, so­fern man an Li­te­ra­tur in­ter­es­siert ist. War­um, das soll die­ses Be­gleit­schrei­ben klä­ren.

Be­reits der Un­ter­ti­tel ist trick­reich, wird doch ei­ne Spu­ren­su­che »mit« Ri­car­do Pi­glia an­ge­spro­chen, so als wür­de die­ser wie ein De­tek­tiv ne­ben Fe­der­mair sit­zen und prak­tisch dem Werk sei­ner, Pi­gli­as, fik­ti­ven Fi­gur Emi­lio Ren­zi nach­for­schen. Ri­car­do Pi­glia war ein ar­gen­ti­ni­scher Schrift­stel­ler und leb­te von 1941 bis 2017. Der Ger­ma­nist und Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Leo­pold Fe­der­mair lern­te Pi­glia wäh­rend sei­nes Auf­ent­halts in Ar­gen­ti­ni­en ken­nen. Sein um­fang­rei­cher Es­say ist Pro­dukt jahr­zehn­te­lan­ger Aus­ein­an­der­set­zung, Lei­den­schaft und, dar­an be­steht kein Zwei­fel, Be­wun­de­rung für Pi­gli­as Werk.

Zwei Bü­cher hat Fe­der­mair von Pi­glia aus dem Spa­ni­schen über­setzt: 2001 »Bren­nen­der Za­ster« (»Pla­ta que­ma­da«, 1997) und 2010 »Der letz­te Le­ser« (»El úl­ti­mo lec­tor«, 2005). Zu­vor hat­te er zu­sam­men mit Ale­jan­dra Ro­gel 1994 »Die ab­we­sen­de Stadt« (»La ci­u­dad aus­en­te«, 1992) ins Deut­sche über­tra­gen. Ne­ben dem Ro­man »Künst­li­che At­mung« (1980 »Re­spi­ra­ción ar­ti­fi­ci­al«, 2002 über­setzt) spie­len »Bren­nen­der Za­ster« und »Die ab­we­sen­de Stadt« in Fe­der­mairs Es­say ei­ne pro­mi­nen­te Rol­le, zu­mal er auch selbst­kri­tisch sei­ne Über­tra­gun­gen be­fragt. Ins­ge­samt wer­den 17 Wer­ke Pi­gli­as für den Es­say her­an­ge­zo­gen, was zwar ei­nen gro­ßen Teil des Œu­vres des Ar­gen­ti­ni­ers ent­spricht, aber nicht sein gan­zes Werk dar­stellt (was al­ler­dings, wie Fe­der­mair an­merkt, in An­be­tracht ei­ner fast fünf­zig­jäh­ri­gen Pu­bli­ka­ti­ons­ge­schich­te Pi­gli­as nicht be­son­ders um­fang­reich ist)

Den gan­zen Bei­trag hier bei Glanz und Elend wei­ter­le­sen

Gräu­el der Ge­gen­wart ‑4/11-

(← 3/11)

Der Neo­li­be­ra­lis­mus übt im 21. Jahr­hun­dert ei­ne He­ge­mo­nie aus, die er sich nicht ein­mal er­strei­ten muß­te, weil sei­ne Po­stu­la­te auf frucht­ba­ren Bo­den fie­len, ge­ra­de so, als wä­ren nicht So­li­da­ri­tät und Ge­mein­schafts­sinn, son­dern Pro­fit­gier und Ei­gen­sinn das We­sen des Men­schen, so daß die Re­de von des­sen »Ver­mensch­li­chung« im­mer schon wi­der­sin­nig ge­we­sen wä­re. Die wirt­schaft­li­che Exi­stenz­form des Neo­li­be­ra­lis­mus hat sich mehr und mehr in glo­ba­li­sier­te vir­tu­el­le Be­rei­che ver­la­gert, die vom Le­ben der üb­ri­gen Men­schen völ­lig ab­ge­ho­ben und die­sen un­zu­gäng­lich sind. Geld »macht« man nicht mehr in er­ster Li­nie mit der Pro­duk­ti­on von Gü­tern (die in är­me­re Län­der aus­ge­la­gert wur­de), son­dern an der Bör­se im Spiel mit dem Geld, das man un­ter Um­stän­den gar nicht hat, son­dern aus­leiht, und die­ses Ma­chen voll­zieht sich in di­gi­ta­li­sier­ter Echt­zeit, man setzt an ei­nem Ort ein, zockt an ei­nem an­de­ren ab (oder ver­liert), al­les in Win­des­ei­le, »à la vi­tes­se de l’immédiat«, schwin­del­erre­gend für je­den Au­ßen­ste­hen­den.

Schon im Jahr 2000 ver­glich der In­for­ma­ti­ker Jo­seph Wei­zen­baum den Fi­nanz­ka­pi­ta­lis­mus mit ei­nem ein­zi­gen rie­si­gen Spiel­ka­si­no, wo durch Spe­ku­la­ti­on Geld­wer­te in ei­nem Um­fang an­ge­häuft wer­den, wel­che die Bud­gets der Staa­ten weit über­stei­gen: »Wir müs­sen uns ver­ge­gen­wär­ti­gen, daß die Re­gie­run­gen und Ban­ken der gro­ßen Na­tio­nen heu­te zu­sam­men we­ni­ger Geld zur Ver­fü­gung ha­ben als die in­ter­na­tio­nal ope­rie­ren­den Spe­ku­lan­ten­krei­se.« Hin­zu­zu­fü­gen wä­re, daß das Bör­sen­spiel die Ak­teu­re süch­tig macht, so daß zwangs­läu­fig im­mer grö­ße­re Ver­mö­gen an­ge­häuft wer­den und das Sy­stem sich im­mer mehr ver­fe­stigt. Es gibt kein Ent­kom­men! Gier ist kei­ne ethi­sche Ka­te­go­rie, son­dern ein we­sent­li­ches Merk­mal des Neo­li­be­ra­lis­mus, sei­ne con­di­tio si­ne qua non. Die Re­gie­run­gen, so Wei­zen­baum wei­ter, hät­ten auf die­ses Ge­sche­hen im­mer we­ni­ger Ein­fluß, die wirt­schaft­li­che Sta­bi­li­tät ein­zel­ner Län­der und, da sie al­le ver­netzt sind, der gan­zen Welt kön­ne da­her schnell ein­mal ins Tru­deln ge­ra­ten. Ge­nau das ist 2008 ge­sche­hen. Wir sind mit ei­nem blau­en Au­ge da­von­ge­kom­men, aber dem Fi­nanz­ka­pi­ta­lis­mus wirk­lich Gren­zen zu set­zen und ihn zu re­gu­lie­ren, da­vor sind die neo­li­be­ral den­ken­den Re­gie­run­gen, wel­chen po­li­ti­schen La­gers auch im­mer, zu­rück­ge­schreckt.

Wei­ter­le­sen

De­niz Oh­de: Streu­licht

Deniz Ohde: Streulicht

De­niz Oh­de: Streu­licht

Ei­ne »fei­ne Säu­re« ist da in der Luft. Und ein »Lei­ses Brum­men«. Un­auf­hör­lich. Es reg­net »In­du­strie­schnee«. Re­gel­mä­ßig gibt es Pro­be­alarm. Nein, nicht ir­gend­wo im Ruhr­ge­biet – es ist Frank­furt, der »In­du­strie­park«; ein Che­mie­park. Dort wohnt ei­ne (na­he­zu) na­men­los blei­ben­de Ich-Er­zäh­le­rin, von der man nur den er­sten Buch­sta­ben des »K‑Namens« er­fährt (»Frau A—«) und ver­nimmt, dass das »I« in ih­rem Vor­na­men lan­ge ge­spro­chen wird. Ge­bo­ren ist sie nach al­lem, was man sich zu­sam­men­le­sen kann, En­de der 1980er Jah­re. Die Mut­ter ist Tür­kin, die sich ir­gend­wann aus ei­nem »Fünf­hun­dert-See­len-Dorf an der Schwarz­meer­kü­ste« auf­ge­macht hat. Der Va­ter Deut­scher. Er hat 40 Jah­re 40 Stun­den die Wo­che Alu­mi­ni­um­ble­che in Lau­gen ge­taucht. Die Toch­ter kommt zu Be­ginn des Ro­mans zu Be­such, man ist in der un­mit­tel­ba­ren Ge­gen­wart. Sie wird fast er­schla­gen vom Rauch, der in den Räu­men steht. Ei­ne »ängst­li­che Teil­nahms­lo­sig­keit« macht sich in ihr breit. Die Mut­ter ist »ge­gan­gen«, aber das er­fährt man erst viel spä­ter. So­phia und Pik­ka, die Freun­de seit der Schul­zeit, hei­ra­ten. Das ist der Rah­men für De­nis Oh­des Erst­ling.

»Streu­licht« ist ein Bil­dungs­ro­man in dop­pel­ter Be­deu­tung: Ein Ro­man über das Bil­dungs­we­sen in Deutsch­land (ge­nau­er: in Hes­sen) und da­mit eben auch über Vor­ur­tei­le und Dis­kri­mi­nie­run­gen, die sub­ku­tan prä­sent sind und bis­wei­len mit er­schrecken­der Ehr­lich­keit aus­ge­spro­chen wer­den. Denn die Ich-Er­zäh­le­rin ist zwar for­mal Deut­sche. Für vie­le und eben auch für Leh­rer (und auch Leh­re­rin­nen) ist sie je­doch ei­ne Tür­kin, die es ge­schafft hat (oder, spä­ter dann, eben auch nicht). Und es ist auch ein na­he­zu klas­si­scher Bil­dungs­ro­man über die For­mung ei­nes Men­schen durch und mit Bil­dung und über die Schwie­rig­keit ei­nes Auf­stiegs­ver­spre­chens, aber das ist nicht nur die Schuld der an­de­ren, son­dern auch ein we­nig die der Er­zäh­le­rin.

Es wird rück­blickend weit­ge­hend chro­no­lo­gisch er­zählt; nur manch­mal gibt es Zeit­sprün­ge, die al­ler­dings mü­he­los zu be­wäl­ti­gen sind. Der Ton ist me­lan­cho­lisch, nie sen­ti­men­tal, bis­wei­len an­kla­gend und auch schon ein­mal selbst­an­kla­gend. Die Er­zäh­le­rin be­wegt sich in ei­nem en­gen, fast her­me­ti­schen Kos­mos. Über­mä­ssig vie­le So­zi­al­kon­tak­te hat sie nicht. Bis auf flüch­ti­ge Be­kannt­schaf­ten blei­ben nur So­phia und Pik­ka als Freun­de.

Ei­ne Ab­rech­nungs- oder gar Wut­pro­sa ist »Streu­licht« nicht. Das läuft sub­ti­ler, mit in­ten­si­ven, bis­wei­len sur­rea­len Stim­mungs­bil­dern, die die Tri­stesse (wenn der Ort Prot­ago­nist ist) oder die Ver­zweif­lung (bei Men­schen) nicht ver­ber­gen, son­dern, pa­ra­dox ge­nug, er­strah­len las­sen. Spä­ter, als sie zum Stu­di­um in ei­ner frem­den Stadt wohnt, ver­misst sie all die Un­zu­läng­lich­kei­ten ih­res Hei­mat­or­tes und dann kommt ei­nem die Ge­nüg­sam­keit des Va­ters in den Sinn, dass man »hier« doch »al­les« ha­be. Wei­ter­le­sen