Gräu­el der Ge­gen­wart ‑5/11-

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Tho­mas Pi­ket­ty hat neu­er­dings ei­ne Men­ge De­tails zur Ana­ly­se und Kri­tik des heu­ti­gen Ka­pi­ta­lis­mus bei­getra­gen und so die em­pi­ri­sche Grund­la­ge für Über­le­gun­gen ge­stärkt, die For­re­ster oft ein we­nig oben­hin an­stell­te.1 Mit Zu­stim­mung le­se ich bei For­re­ster die Kenn­zeich­nung des Neo­li­be­ra­lis­mus als Denk­form, oder bes­ser ge­sagt: als tro­ja­ni­sches Pferd, das sich un­merk­lich über die Jah­re hin­weg in die Ge­hir­ne, die Ge­wohn­hei­ten, die Wer­te (und den Ver­zicht auf Wer­te), das zwi­schen­mensch­li­che Ver­hal­ten ein­ge­schli­chen hat. Erst auf­grund die­ser jah­re­lan­gen, mehr oder min­der sanf­ten, ideo­lo­gie­frei­en In­dok­tri­nie­rung wur­de es mög­lich, daß Ge­stal­ten wie der Im­mo­bi­li­en­hai Do­nald Trump oder der Me­di­en­mo­gul Sil­vio Ber­lus­co­ni ans Ru­der der Staats­macht ka­men. Sie ver­kör­pern je­nes neo­li­be­ra­le Per­sön­lich­keits­mo­dell, das wei­te Tei­le der Be­völ­ke­rung hoch­ach­ten und dem sie nach­stre­ben. Die nicht de­kla­rier­te Ge­walt der neo­li­be­ra­len Ideo­lo­gie war »so ef­fi­zi­ent, daß sich die po­li­ti­sche und wirt­schaft­li­che Land­schaft vor den Au­gen al­ler, doch oh­ne ihr Wis­sen, tief­grei­fend än­der­te, oh­ne daß da­durch ih­re Auf­merk­sam­keit oder gar Sor­ge ge­weckt wor­den wä­re.« Die Re­de ist von den acht­zi­ger und frü­hen neun­zi­ger Jah­ren des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts. »Das neue pla­ne­ta­ri­sche Sche­ma«, fährt For­re­ster fort, »setz­te sich un­be­merkt durch und konn­te so un­ser Le­ben be­herr­schen, oh­ne daß dies ir­gend­je­man­dem auf­fiel, au­ßer na­tür­lich den öko­no­mi­schen Kräf­ten, die es lan­ciert hat­ten.«

Wäh­rend der Lek­tü­re ha­be ich mich dar­an er­in­nert, daß ich ähn­li­ches schon an­ders­wo ge­le­sen hat­te, rhe­to­risch ge­bün­del­te For­meln die­ser Art. Und bei wem? Da brauch­te ich nicht lan­ge zu schür­fen: bei Theo­dor W. Ador­no na­tür­lich. In sei­ner dü­ste­ren Dia­lek­tik der Auf­klä­rung, de­ren ra­di­ka­ler Pes­si­mis­mus ge­prägt ist durch die Er­fah­run­gen von Welt­krieg und Ju­den­ver­nich­tung, die er und sein Freund Hork­hei­mer mit der in­stru­men­tel­len, tech­nik­ori­en­tier­ten Ver­nunft kurz­schlos­sen, wie sie sie in den USA vor­fan­den. Der un­aus­ge­spro­che­ne, aber um­so wirk­sa­me­re, al­les durch­drin­gen­de »Pri­mat der Öko­no­mie« übe sei­nen struk­tu­rel­len Zwang auf das Le­ben der In­di­vi­du­en aus, heißt es in den Mi­ni­ma Mo­ra­lia, Ador­nos »Re­fle­xio­nen aus dem be­schä­dig­ten Le­ben« (so der Un­ter­ti­tel). Die Welt, schrieb Ador­no da­mals, sei »das Sy­stem des Grau­ens« – er mein­te of­fen­sicht­lich nicht ei­nes von zwei oder drei Sy­ste­men (Ka­pi­ta­lis­mus, Kom­mu­nis­mus, Fa­schis­mus), son­dern je­de Art von Ver­ge­sell­schaf­tung, ge­gen die sich nur die In­di­vi­du­en, die Ein­zel­nen, er­he­ben kön­nen; aber auch sie kön­nen es nun nicht mehr, weil sie dem ins Netz ge­hen, was Ador­no zu­nächst als Kul­tur­in­du­strie de­fi­nier­te und spä­ter­hin auch be­schrei­ben und ana­ly­sie­ren soll­te. Die Öko­no­mie ist ins Gei­sti­ge vor­ge­drun­gen und af­fi­ziert es, so daß es »un­we­sent­lich«, kon­tin­gent, blo­ßer Schein wird. Noch ei­ne Wei­le spä­ter, nach Ador­nos Tod, wird die­se Diagnose/Prognose durch je­ne Spaß­in­du­strie und ver­all­ge­mei­ner­te Iro­nie zur Voll­endung ge­bracht wer­den, an der sich die mei­sten In­tel­lek­tu­el­len mit Freu­den be­tei­ligt ha­ben. Die Lü­ge wird zum Platz­hal­ter der Wahr­heit: Ador­no di­xit.

»Halt!« ru­fe ich bei so viel rhe­to­ri­schem Schwung und ge­bie­te auch mir selbst Ein­halt. Hat nicht schon Karl Marx das Pri­mat der Ma­te­rie über das Be­wußt­sein, der Öko­no­mie über die Kul­tur dia­gno­sti­ziert, oft so­gar mit ei­ner Art Zu­stim­mung, wo nicht Freu­de, schließ­lich war die Öko­no­mie jah­re­lang sein For­schungs­ge­biet. Ei­ne ge­wis­se Eman­zi­pie­rung zeich­ne­te sich auch in­ner­halb des Marx­schen Den­kens nur in ei­ner sehr weit ge­zo­ge­nen Per­spek­ti­ve des uto­pi­schen Kom­mu­nis­mus ab: »Je­der nach sei­nen Fä­hig­kei­ten, je­dem nach sei­nen Be­dürf­nis­sen!« lau­tet das schö­ne Kin­der­mär­chen. Al­so ge­mach, ge­mach… Mag sein, daß die Wirt­schaft be­stimmt, was wir den­ken, aber wir kön­nen uns Frei­räu­me be­wah­ren und die­se Be­zie­hung, viel­leicht so­gar die Wirt­schaft selbst, ak­tiv ge­stal­ten, be­ein­flus­sen, am En­de so­gar: den Spieß um­dre­hen. Das Er­geb­nis wä­re ei­ne Po­li­tik, die sich dem Neo­li­be­ra­lis­mus nicht un­ter­wirft, son­dern ihm Gren­zen setzt. Ich re­de hier nicht von Re­vo­lu­ti­on; bei­de Sei­ten, hier die Kul­tur, dort die Wirt­schaft, wä­ren selb­stän­dig und könn­ten ko­exi­stie­ren.

Da­von sind wir aber weit ent­fernt, die Ent­wick­lung ist seit 1996 in die Ge­gen­rich­tung ver­lau­fen. Die Zwän­ge der Öko­no­mie sind seit der letz­ten Jahr­hun­dert­wen­de noch viel stär­ker ge­wor­den, die Frei­räu­me en­ger, ob­wohl es mehr Mög­lich­kei­ten als frü­her gä­be, sie zu er­wei­tern. Die rhe­to­risch vor­ge­tra­ge­nen Pro­gno­sen For­re­sters ha­ben sich er­füllt wie in der Nach­kriegs­zeit Ador­nos Pro­gno­sen zur Kul­tur­in­du­strie, und die­se bei­den Ent­wick­lungs­strän­ge hän­gen eng zu­sam­men, im Grun­de ge­nom­men sind es zwei Sei­ten ei­ner Me­dail­le, zu­sam­men er­zäh­len sie den Ro­man des Spät­ka­pi­ta­lis­mus. Erst die In­du­stria­li­sie­rung und Kom­mer­zia­li­sie­rung der Kul­tur hat es dem ka­pi­ta­li­sti­schen Sy­stem er­mög­licht, den Zu­griff auf die Ein­zel­nen so lücken­los zu prak­ti­zie­ren, wie es heu­te der Fall ist, und das All­tags­le­ben zu ei­nem Mix aus sanf­ter Kon­trol­le und schran­ken­lo­ser Un­ter­hal­tung zu ma­chen. La vi­ta è bel­la!

© Leo­pold Fe­der­mair

→ Teil 6/11


  1. "Die Frage der Verteilung der Reichtümer ist zu wichtig, um allein den Ökonomen, Soziologen, Historikern und anderen Denkern überlassen zu werden", schreibt Piketty in der Einleitung zu Das Kapital im 21. Jahrhundert. "Sie interessiert jedermann, und das ist gut so." Diese Frage werde immer eine eminent subjektive und psychologische, politische, konfliktuelle Dimension haben, "die keine vorgeblich wissenschaftliche Analyse ruhigstellen kann. Zum Glück wird die Demokratie niemals durch die Expertenrepublik ersetzt werden." 

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  1. La vi­ta è bel­la!, mein­te auch Ro­ber­to Be­gnini, mit ei­nem er­staun­li­chen Sinn für Tra­gik. Viel­leicht hat das ver­spon­ne­ne Wort von An­ge­la Mer­kel ja doch Ge­wicht: Es gibt kei­ne Al­ter­na­ti­ve! Wenn das nicht mal die Be­kräf­ti­gung ei­nes de­fä­ti­sti­schen Hel­den­tums ist...

    Ehr­lich ge­sagt, bin ich bei der äs­thet-hi­sto­ri­schen Deu­tung un­se­rer Le­bens­um­stän­de über­fragt: Vie­les deu­tet auf Tra­gik hin, vie­les auf die Far­ce (die Spaß­ge­sell­schaft oh­ne Am­bi­tio­nen). Die Iro­nie wä­re die Ge­ste des Phi­lo­so­phen, und das Schau­er­mär­chen das Er­zie­hungs­mit­tel der Gou­ver­nan­te. Je­der kann nach äu­ßer­li­chen Maß­stä­ben er­ken­nen, wer die Leu­te sind, die pro­fi­tie­ren, aber ei­ne wir­kungs­vol­le Kri­tik der Öko­no­mie ist noch nie­man­den ge­lun­gen. Pi­ket­ty kämpft er­kenn­bar ge­gen den fal­schen Schein... Gibt es denn auch ei­nen wah­ren Schein, wür­de Co­lo­nel Na­than R. Jes­sup (ali­as Jack Ni­chol­son) zy­nisch ent­geg­nen?!
    Die Kul­tur wird er­kenn­bar zum Wi­der­sa­cher der Öko­no­mie, aber sie be­fin­det sich zu­gleich auch in per­ma­nen­ter Ab­hän­gig­keit von der Po­li­tik. Je­den­falls grob ge­spro­chen. Tat­säch­lich gibt es aber ein »Tal der Frei­heit« zwi­schen den bei­den Ge­birgs­mas­si­ven, wo wir die ge­lun­ge­nen Le­bens­wei­sen fin­den. Das hat et­was Epi­sches, wür­de ich sa­gen...

  2. Theo­dor W. Ador­no, Leo­pold Fe­der­mair, hat ei­ner­seits die wuch­ti­ge, ge­ra­de­zu alt­te­sta­men­ta­ri­sche Ver­häng­nis­re­de ge­pflegt, aber – an­de­rer­seits muss­te er die Zu­hö­rer und Le­se­rin­nen le­ben und lie­ben und hof­fen und heu­cheln las­sen – und ja auch für sich den Weg in die Wahl­ka­bi­ne z. B. of­fen­hal­ten, wo er lt. Dr. Ha­ber­mas (ganz be­schei­den, werf’ ich ein) sein Kreuz­lein – - – wer hät­te das ge­dacht? – - – bei der SPD mach­te.
    Al­so: Die Welt ist das Sy­stem des Grau­ens, das ist das al­te Te­sta­ment – und dann kommt der so­zu­sa­gen je­su­a­nisch ge­tön­te Nach­satz, den Sie nicht hättn weg­las­sen sulln, ned­wo­ah, dass man ihr aber gleich­wohl zu viel Eh­re an­tä­te, wenn man sie »ganz als Sy­stem« wür­de den­ken wol­len. – - –

    – - – Wenn Du glaubst, es geht nicht mehr (= Sy­stem des Grau­ens, die Kul­tur­in­du­strie, der »Ne­ger­jazz« (Ador­no) etc.) – kommt ir­gend­wo ein Licht­lein her (die Welt ist gar nicht ganz (oder: völ­lig) grau­en­voll. – Wür­de ich leh­rend noch »te­tisch« sein, so wür­de ich – im Som­mer­se­me­ster, mit den wie­der­kom­men­den Am­seln, Dros­seln, Fin­ken udn Sta­ren be­gin­nend, ein Se­mi­nar an­bie­ten: Ador­nos Ab­grün­de und Rühm­korfs »Volks­ver­mö­gen« (Kin­der­ver­se, Ab­zähl­rei­me etc.) – die Welt zwi­schen hof­fen und ban­gen.

  3. he­he So­phie – Gedankenübertragungs-»Synchroninicity« (- Die Stachel-Polizei,hehe) Du­ett – nett.

  4. Na­ja, ich möch­te es noch ein­mal schrei­ben: Das, was hier als »Neo­li­be­ra­lis­mus« be­zeich­net wird, ist es eben nicht. Neo­li­be­ra­lis­mus ist die Schu­le von Wal­ter Eucken, die man auch »Or­do­li­be­ra­lis­mus« nen­nen könn­te. Grob aus­ge­drückt han­delt es sich um ei­ne markt­wirt­schaft­li­che Aus­rich­tung der Öko­no­mie un­ter stren­ger Ein­hal­tung so­zi­al­po­li­ti­scher Rah­men­be­din­gun­gen. Nach dem Zu­sam­men­bruch des Kom­mu­nis­mus wur­de das ka­pi­ta­li­sti­sche Mo­dell prak­tisch welt­weit zum Wirt­schafts­sy­stem. Man kann jetzt von Kin­der­mär­chen re­den und die Zei­ten des re­al exi­stie­ren­den So­zia­lis­mus ver­mis­sen, aber die Leu­te hat­ten ir­gend­wie kei­ne gro­ße Lust mehr dar­auf.

    In den 1990er Jah­ren stell­te sich her­aus, dass der Ka­pi­ta­lis­mus nicht mehr ge­nug Ar­beit hat bzw. nur Ar­beit an­bie­tet, von der nicht al­le le­ben kön­nen. Die Ver­hei­ßung be­stand nun dar­in, die als Hemm­nis­se emp­fun­de­nen so­zi­al­po­li­ti­schen Er­run­gen­schaf­ten aus Zei­ten der Voll­be­schäf­ti­gung zu lockern. Das führ­te zu De­re­gu­lie­rungs­maß­nah­men im gro­ßem und zum Teil ab­sur­den Stil. Die Po­li­tik hält im üb­ri­gen im­mer noch dar­an fest: es wä­re ein leich­tes für die EU, die Steu­er­sät­ze für Un­ter­neh­men zu ver­än­dern und durch­zu­set­zen. Man macht es nicht, aus Furcht vor der Ka­pi­tal- und Un­ter­neh­mens­flucht.

    Die wirt­schafts­li­be­ra­len De­re­gu­lie­run­gen kann man nur in mul­ti­la­te­ra­len Ver­ein­ba­run­gen zu­rück­neh­men bzw. ver­än­dern. We­der Frank­reich noch Deutsch­land sind dau­er­haft in der La­ge, sich ge­gen den ka­pi­ta­li­sti­schen Strom zu stel­len. Ver­mut­lich weiß das Frau For­re­ster auch, aber es ist in Frank­reich ja ziem­lich po­pu­lär, sich als In­sel zu lo­ka­li­sie­ren.

  5. Neo­li­be­ra­lis­mus, ak­tu­el­le Les­art = we­nig Staat; Do­mi­nanz des Fi­nanz­ka­pi­tals; In­ter­na­tio­na­lis­mus.

    Al­te Les­art: Neo­li­be­ra­lis­mus = Ordoliberalismus/ – dem­nach ist der Neo­li­be­ra­lis­mus nach Wal­ter Eucken und an­de­ren Frei­bur­gern die mo­der­ne­re (!) Form des Li­be­ra­lis­mus, al­so die mit so­zi­al- und rechts­staat­li­chem (!) spwie wirt­schafts­wis­sen­schaft­li­chem Know-how an­ge­rei­cher­te Form (Al­fred Mül­ler-Arm­ack).

    Das wird et­was kom­pli­ziert, weil aus­ge­rech­net Fried­rich Au­gust Hay­ek in aus­ge­rech­net Frei­burg den Be­griff dann wie­der hat fal­len­las­sen und ein­fach ein gu­ter al­ter Li­be­ra­ler sein woll­te.
    (cf.  The Road to Serf­dom / FA Hay­ek cf. // The Road to So­me­whe­re, Da­vid Good­hart).

    Oft ist – so bei Vi­vi­en­ne Fo­re­ster, – Neo­li­be­ra­lis­mus der Aus­druck für ei­nen kalt­schnäu­zi­gen Mo­der­ni­sie­rungs­pro­zess nach dem Mot­to je we­ni­ger Staat, auch je we­ni­ger So­zi­al­staat, de­sto bes­ser.  

    Ei­ne zwei­te Kom­pli­ka­ti­on tritt ein, weil Mi­chel Fou­cault sich im Grun­de der als kalt­schnäu­zig oft nur de­nun­zier­ten Be­we­gung an­ge­schlos­sen hat, die (mit z. B. Mar­ga­ret That­cher) die Re­duk­ti­on des kor­po­ra­ti­sti­schen Staa­tes gut­hieß und heu­te auch aus­drück­lich vom Neo­li­be­ra­lis­mus ver­ein­nahmt wird. Wie ich fin­de nicht zu ganz zu un­recht. Fou­cault hat ge­se­hen, dass der So­zi­al­staat Ge­fahr läuft, nur noch zu för­dern und nicht mehr zu for­dern, was ihm als Dy­na­mi­ker über­haupt nicht pass­te. – Ei­gent­lich hät­ten die Schrö­der-SPD und der nach­re­vo­lu­tio­nä­re (und nach­mao­isti­sche), aus­drück­lich so­zi­al-li­be­ral (an Hay­ek nicht zu­letzt) ori­en­tier­te Fou­cault gut zu­sam­men­ge­passt.

    Aber das will heu­te im LG­QBT-Tau­mel kei­ner mehr so ge­nau wis­sen. Da ist der schwu­le sa­do-ma­so Fou­cault die at­trak­ti­ve­re Mar­ke. Dass man da­für den spä­ten Fou­cault der Hay­ek-Be­gei­ste­rung über Bord ge­hen las­sen muss spielt kei­ne Rol­le, weil das so ge­nau eben kei­ne wis­sen will – und weil das so ge­nau auch kaum mehr ir­gend­wo ge­sagt wird. Gro­ße Aus­nah­me – wie so oft: Die  NZZ, wo der­lei un­ter der Fuch­tel von Re­né Scheu in ex­ten­so ver­han­delt wird. Auch ein we­nig der Schwei­zer Mo­nat, wenn ich recht er­in­ne­re.
    Z. B. hier:

     https://www.nzz.ch/feuilleton/foucault-verteidigte-die-wahrheit-gegen-fake-news-interview-francois-ewald-ld.1376658

    Der ak­tu­el­le Fou­cault Her­aus­ge­ber Fran­cois Ewald ist (u. a.) – Ver­mö­gens­ver­wal­ter – und Be­ra­ter der fran­zö­si­schen Nu­kle­ar­in­du­strie usw. (wie Fou­cault (und Fi­schers ehe­ma­li­ger Staats­se­kre­tär Schmie­rer und MP Kret­sch­mann) ein ehe­ma­li­ger Mao­ist).

    Ja, der Schwei­zer Mo­nat – Phili­pe Sa­ra­sin spricht mit – Fran­cois Ewald – - 

    - – https://www.nzz.ch/feuilleton/foucault-verteidigte-die-wahrheit-gegen-fake-news-interview-francois-ewald-ld.1376658

    Ganz in­for­ma­tiv auch der Wi­ki­pe­dia Ein­trag über Neo­li­be­ra­lis­mus, der Fou­cault im­mer­hin auch dis­ku­tiert. Die so­zi­al­ethi­schen (ins­be­son­de­re: ka­tho­li­schen) Fra­ge­stel­lun­gen und die sy­ste­ma­tisch be­deut­sa­men staats- und so­zi­al­recht­li­chen Aspek­te kom­men – I: you cain’t al­ways git / what you wa-ant :I – I: zu kurz :I.   

  6. Dan­ke für die noch­ma­li­ge Klar­stel­lung. Ich fin­de je­doch die Ein­stu­fun­gen »neue Les­art« und »al­te Les­art« schwie­rig. Es er­in­nert mich an den Eu­phe­mis­mus »So­zia­lis­mus« für Kom­mu­nis­mus. Nur an­ders her­um.

    Ich glau­be, ich ha­be das auch schon ein­mal ge­schrie­ben: Ich hat­te län­ge­re Zeit ei­ne Kol­le­gin aus GB (Eng­land). Als sie Kind war, in den 1970er Jah­ren, ar­bei­te­ten so­wohl ihr Va­ter als auch ih­re Mut­ter. Es gab noch ei­nen Bru­der. Zeit­wei­se hat­te der Va­ter so­gar zwei Jobs. Ih­re Nach­barn be­zo­gen So­zi­al­hil­fen; nie­mand ar­bei­te­te dort, we­nig­stens nicht of­fi­zi­ell. Jetzt kann man mal ra­ten, wer als er­ster die neue­sten elek­tro­ni­schen Ge­rä­te hat­te. Rich­tig, die So­zi­al­hil­fe­emp­fän­ger. Es war da­her kein Wun­der, dass die Ar­bei­ter da­mals zum Teil That­cher wähl­ten. Das That­cher das Kind mit dem Ba­de aus­schüt­te­te – ge­schenkt.

    Der Hin­weis auf Schrö­der ist in­ter­es­sant. Er ge­hör­te ja mit Blair zu­sam­men zu ei­ner so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Strö­mung, die die De­re­gu­lie­rung vor­an­trieb, wäh­rend bei­spiels­wei­se Kohl in al­ten Pfa­den ging. Die Agen­da-Po­li­tik schaff­te dann tat­säch­lich Er­ho­lung für den »kran­ken Mann Eu­ro­pas« (so nicht nur die Ein­schät­zung zu Deutsch­land von »neo­li­be­ra­len« Kräf­ten). Das Pro­blem war, dass ir­gend­wann das Pen­del in die ent­ge­gen­ge­setz­te Rich­tung aus­schlug und man nicht dar­auf re­agier­te. Zeit­ver­trä­ge kön­nen bei­spiels­wei­se ei­ne gu­te Mög­lich­keit für Un­ter­neh­men sein, Auf­trags­spit­zen ab­zu­ar­bei­ten. Wer­den sie als Re­gel ein­ge­setzt, ist das ei­ne Per­ver­si­on des ur­sprüng­li­chen Ge­dan­kens.

    Am Ran­de er­in­ne­re ich noch an den Auf­schrei bis weit ins links-grü­ne Mi­lieu hin­ein, als es kurz ein­mal hieß, die Mi­ni-Jobs (da­mals ir­gend­was mit 620 Mark) ab­zu­schaf­fen bzw. sie so­zi­al­ver­si­che­rungs­pflich­tig zu ma­chen. Man ist ein­ge­knickt vor der In­du­strie. Aus der Dienst­lei­stungs­ge­sell­schaft ist in­zwi­schen längst ei­ne Hilfs­ar­bei­ter­ge­sell­schaft ge­wor­den. Der Satz liegt in­zwi­schen bei 450 Eu­ro. Das Bömbchen der Al­ters­ar­mut tickt.

  7. @ So­phie, Die­ter, Gre­gor

    Er­ste­ren möch­te ich fra­gen, wie er das meint, Kul­tur als Wi­der­sa­cher der Öko­no­mie. Ich se­he vor al­lem die Öko­no­mi­sie­rung der Kul­tur (Kul­tur­in­du­strie). Die heh­re Kunst sah Ador­no frei­lich als Wi­der­sa­cher.

    Ich glau­be, daß Die­ter mit den zwei Les­ar­ten tat­säch­lich die Ent­wick­lung der De­bat­te be­nennt. Wör­ter, auch Be­grif­fe, än­dern – oder nu­an­cie­ren zu­min­dest – ih­re Be­deu­tun­gen mit der Zeit durch den Ge­brauch.

    Teil­wei­se emp­fin­de ich aber auch die Ein­wän­de Gre­gors als tref­fend. In der der­zei­ti­gen welt­wei­ten Ent­wick­lung ha­ben wir ei­ne Wie­der­kehr von Pro­tek­tio­nis­men, al­ler­dings nur in na­tio­na­len (na­tio­na­li­sti­schem?) Sinn, als Schutz des ei­ge­nen Lan­des bzw. eben der Na­ti­on. In­ner­halb wird die De­re­gu­lie­rung, die ich mit dem Be­griff Neo­li­be­ra­lis­mus ver­bin­de, fort­ge­setzt, mit­un­ter ver­schärft.

    Ich glau­be nicht, daß die Fra­ge nach Al­ter­na­ti­ven sich aus­schließ­lich auf »Ka­pi­ta­lis­mus vs. So­zia­lis­mus« be­zieht. Es gab ein­mal meh­re­re We­ge. Drit­te We­ge, Kom­pro­mis­se, Kom­bi­na­tio­nen. Ver­mis­sen wir die so­zia­le Markt­wirt­schaft gar nicht?

  8. @ Gre­gor Keu­sch­nig

    Die Ge­schich­te Ih­rer That­cher Wäh­ler aus der Grup­pe der Be­schäf­tig­ten fin­det sich, mei­ne ich, ge­spie­gelt, wo in San Fran­zis­ko je­de schwan­ge­re al­lein­er­zie­hen­de Frau tau­send Dol­lar /Monat zu­sätz­li­cher Un­ter­stüt­zung be­kommt – vor­aus­ge­setzt, sie ist schwarz.

    Die Trump-Wäh­ler­schaft re­agiert auf der­lei und – stammt mehr­heit­lich aus der Mit­tel­schicht und der un­te­ren Mit­tel­schicht. Die De­mo­kra­ten wer­den von den Sup­per­rei­chen ge­wählt (die­ses ei­ne Pro­zent hat den höch­sten An­teil an De­mo­kra­ten-Wäh­le­rin­nen über­haupt). Da­zu stammt die De­mo­kra­ten-Wäh­ler­schaft mehr­heit­lich aus der obe­ren Mit­tel­schicht und – aus der Un­ter­schicht der Trans­fer­geld­be­zü­ger (wo Schwar­ze stark über­re­prä­sen­tiert sind).

    Noch ei­ne Klei­nig­keit. Trump hat den höch­sten schwar­zen Wäh­ler­an­teil al­ler Re­pu­bli­ka­ni­schen Kan­di­da­ten seit Ge­ne­ra­tio­nen – nicht zu­letzt von den­je­ni­gen Schwar­zen, die, wie jetzt in New York ge­sche­hen, die BLM-Pa­ro­len, die Po­li­zei nicht wei­ter zu fi­nan­zie­ren und da­für So­zi­al­ar­bei­ter ein­zu­stel­len – zu­rück­wei­sen; u. a. we­gen des hor­rend ho­hen An­teils Schwar­zer an Ge­walt­ver­bre­chen in den USA. Vie­le der schwar­zen Be­schäf­tig­ten, La­den­be­sit­zer und Ge­schäfts­leu­te sind auf der Sei­te Trumps und zie­hen ge­gen BLM, An­ti­fa und die Ko­ali­ti­on der LGBQT-Rand­grup­pen zu Fel­de, die Joe Bi­den auf den Schild hebt.

    https://www.unz.com/anepigone/top-and-bottom-vs-middle-election-edition/

    @ Leo­pold

    Der So­zi­al­staat nach Nen­ning und Glotz, sag’ ich mal, funk­tio­niert, wenn er ge­hegt und ge­pflegt wird.
    Der pro­duk­ti­ve Streit soll­te sich dar­um dre­hen, wie man die­se He­ge und Pfle­ge be­werk­stel­ligt. Um es hier mal su­per­kurz zu ma­chen: Mar­gret That­cher kann man in die­sem Kon­text auch (auch!) als Pfle­ge­rin vert­sehen. Ich den­ke, man soll­te so­gar.

    Wenn Öster­rei­chi­sche Ei­sen­bah­nerin­nen mit fünf­zig pum­perlgs­und in die Pen­si­on ge­hen, soll­te man das nicht als so­zi­al­staat­li­che Er­run­gen­schaft deu­ten, son­dern als Hy­per­thro­phie. – Für Pe­ter Glotz hieß so­was: Grup­pen­ego­is­mus. – Der hat der­lei tat­säch­lich the­ma­ti­siert – und kam da­mit bei sei­nen (oft mur­ren­den) Ge­nos­sin­nen und Ge­nos­sen dann aber doch durch.

    Es hängt ei­ni­ges da­von ab, dass man ver­steht, dass der So­zi­al­staat sel­ber nicht nach dem Mo­dell des li­nea­ren Fort­schritts kon­stru­iert wer­den soll.

    Und dass ihm – das ist die al­te so­zi­al­part­ner­schaft­li­che Idee Er­hards und Schmidts und Krei­skys usw. (Hay­eks, Mül­ler-Arm­acks, Wal­ter Euckens – ak­tu­ell: Hans-Wer­ner Sinns und Thi­lo Sar­ra­zins und Gun­nar Hein­sohns, Nils He­ister­ha­gens, Klaus Pe­ter Willschs, Ro­land Tichys und, der Wahr­heit die Eh­re – Ali­ce Wei­dels und Jörg Meu­thens), die eben auch ei­ne Pro­duk­ti­vi­täts­ori­en­tie­rung hat und des­halb die welt­wirt­schaft­li­che Kon­kur­renz als wich­ti­gen Fak­tor an­er­kennt und ins Kal­kül zieht (nicht: Sich dem un­ter­wirft).

  9. Die Kul­tur als Wi­der­sa­cher der Öko­no­mie: Ador­no und die heh­re Kunst... Ja, aber noch ein biss­chen mehr... Ich ge­he von ei­nem in­ter­sub­jek­ti­ven Kul­tur-Be­griff aus, und mei­ne die In­ter­de­penz von Schöp­fern und Pu­bli­kum. So­gar »Bil­dung« als Vor­hal­tung von Re­zep­ti­ons­fä­hig­kei­ten. Das öko­no­mi­sche Op­fer, al­so die Ver­schwen­dung nach Ba­tail­le, gibt es näm­lich auf bei­den Sei­ten. Das wird durch die Pop-In­du­strie auf ei­ne bar­ba­ri­sche Art und Wei­se auf den Kopf ge­stellt: al­le pro­fi­tie­ren (»Hat­test Du Spaß?!«), al­le kön­nen als Künst­ler re­üs­sie­ren, und al­le kön­nen par­ti­zi­pie­ren, weil die Teil­nah­me-Schwel­le knapp über dem Ga­ga-Rau­schen liegt. Ich mag den Be­griff Hoch-Kul­tur über­haupt nicht, möch­te aber ei­nen Kul­tur-Be­griff vor­schla­gen, der die markt-un­taug­li­chen Ver­wand­lungs-Wün­sche und Selbst­wer­dungs-Ex­pe­ri­men­te be­zeich­net.

  10. @die_kalte_Sophie

    So sehr ich sym­pa­thi­sie­ren möch­te »mit ei­nem Kul­tur-Be­griff [], der die markt-un­taug­li­chen Ver­wand­lungs-Wün­sche und Selbst­wer­dungs-Ex­pe­ri­men­te be­zeich­net«, al­lein mir fehlt der Glau­be.

    Ei­ni­ge der Ver­un­mög­li­chun­gen kann ich frei nach Ador­no pflücken, so weit sie hier noch nicht be­zeich­net wa­ren:
    1. Die An­ni­hi­la­ti­on des Pri­va­ten. Ein wich­ti­ger Aspekt der Öko­no­mi­sie­rung war nach Ador­no vor Al­lem, die Ur­sur­pie­rung des Pri­va­ten, des Teils al­so, wo die Selbst­wer­dung und Bil­dung hät­te statt­fin­den kön­nen, durch die Un­ter­hal­tungs­in­du­strie, al­so An­ge­bo­te, die so auf un­ser Hirn zu­ge­schnit­ten sind, dass wir sie un­mög­lich ab­leh­nen kön­nen und nun dank Smart­phones je­der­zeit ver­füg­bar mit uns her­um­ge­tra­gen wer­den.
    2. Be­schrei­ten auch die Ge­gen­stän­de der Kunst ei­nen Pro­zess der Ver­ding­li­chung, d.h. sie er­star­ren, wer­den zu Ver­sinn­bild­li­chun­gen, Iko­nen: Mar­ken. Dies ist der Na­tio­nal­dich­ter, des­sen Ge­burts­haus man be­sich­ti­gen kann, in­klu­si­ve De­vo­tio­na­li­en­han­del, dort der Buch­aus­stand des No­bel­preis­trä­gers. Zum Teil ist dies fast un­ver­meid­lich, weil un­ser Geist fast not­wen­dig mit die­sen Ver­dich­ti­gun­gen, Raf­fun­gen, Sym­bo­li­fi­zie­run­gen (ani­mal sym­bo­li­cum!) ar­bei­tet, zum an­de­ren aber ver­stellt es na­tür­lich den Blick auf die Kunst selbst, weil so schon im­mer Sym­bol­wer­tun­gen an­de­rer mit­schwin­gen, das Werk un­ver­stellt und roh gar nicht re­ze­piert wer­den kann. – Die Re­zep­ti­on ge­lingt nur dann, wenn das Werk in un­se­rem Kop­fe wie­der pla­sti­sche, le­ben­di­ge Ge­stalt wird, wenn wir in ein of­fe­nes Spiel mit ihm tre­ten kön­nen: Die Öko­no­mie ist hier je­doch viel­leicht das ge­ring­ste Hin­der­nis, son­dern viel­mehr die eig­nen, in­ne­ren Vor­be­hal­te, Ver­här­tun­gen, Vor­ur­tei­le.
    3. Ist »der Markt« ei­ne so ab­strak­te, wahr­schein­lich ein­fach ir­rele­van­te Me­ta­pher. Ich wür­de lie­ber evo­lu­tio­nä­re Be­grif­fe wie »Ni­schen« oder »Bio­to­pe« ins Fel­de füh­ren, weil sich mit die­sen die Phä­no­me­ne mehr er­hel­len. »Markt« sug­ge­riert, dass sich das durch­set­ze, was bes­ser, ef­fi­zi­en­ter, bil­li­ger sei – kurz­um was der Kun­de kauft. Das scheint mir für die so­zio­kul­tu­rel­len Phä­no­me­ne der Kunst, Wis­sen­schaft und selbst des Kon­sums zu kurz ge­grif­fen. Die Mar­ke »Goe­the« ist nicht das Re­sul­tat sei­ner über­le­ge­nen Ver­kaufs­zah­len, son­dern von jahr­hun­der­te­lan­ger Re­zep­ti­on durch Men­schen, die die­ses Image hat rei­fen las­sen.
    Ähn­lich soll­ten wir uns z.B. den neu­en Platt­for­men zu­wen­den von Twit­ter, Twitch, You­Tube, In­sta­gram etc. – Per­sön­lich fin­de ich es ja ge­ra­de­zu gru­se­lig, wie die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­for­men und »Wer­ke« je­des Bio­tops kon­ver­gie­ren, so ha­ben z.B. You­tuber oft ei­ne sehr ähn­li­che Schnitt­tech­nik und ul­tra­schnel­le, über­hitz­te Re­de­wei­se. Aber der Hin­weis dar­auf, dass die Be­trei­ber kom­mer­zi­el­ler Na­tur sei­en und al­les durch Schleich­wer­bung ver­sifft sei, kann mei­nes Er­ach­tens nicht rei­chen, um schon zu be­grün­den, dass in die­sem »fal­schen«, di­gi­ta­len Le­ben kein künst­le­ri­cher oder per­sön­li­cher Aus­druck mög­lich sei. Zwei­fel­los se­he ich un­ser »Ich« in die­sen di­gi­ta­len Zei­ten noch ge­fähr­de­ter, la­bi­ler, frag­wür­di­ger – aber ich se­he eben auch kei­nen Weg mehr zu­rück in die bür­ger­li­che, gut­si­tu­ier­te Kunst ei­nes Ador­nos. Soll man sich tat­säch­lich in sei­nen El­fen­bein­turm zu­rück­zie­hen, ist das ver­rück­te Le­ben da drau­ßen nicht bun­ter, ir­ri­tie­ren­der,.. so­lan­ge es noch brennt?

  11. @ Phor­k­yas, So­phie
    Ich er­in­ne­re mich an die Zei­ten, wo ge­gen die Hoch­kul­tur an­ge­kämpft wur­de. Die Di­cho­to­mie zwi­schen Tri­via­lem und war ei­ne Schan­de und nie­der­zu­rei­ßen, Tri­vi­al­li­te­ra­tur wur­de ein be­lieb­tes Dis­ser­ta­ti­ons­the­ma. Seit ge­rau­mer Zeit scheint mir, daß die Kul­tur­in­du­strie die­ses Nie­der­rei­ßen be­sorgt hat. Mar­ken wie Leo­nar­do Beet­ho­ven Goe­the wer­den ge­nau­so ver­mark­tet wie War­hols Ba­na­ne oder La­dy Ga­ga bzw. das Image von ihr. Al­so zu­rück zur Di­cho­to­mie, oder? Gren­zen, Ska­len, Hier­ar­chien wie­der auf­bau­en? Ich wä­re da­bei. Nur fürch­te ich wie Phor­k­yas, daß das un­ter heu­ti­gen Be­din­gun­gen nicht funk­tio­niert. Al­so blei­ben uns, den hap­py few, d. h. den Me­lan­cho­li­kern, doch nur die Ni­schen. El­fen­bein­tür­me? Lei­der nein, die Mi­no­ri­tät ist in die Kryp­ta ge­drängt, Über­blick hat so­wie­so nie­mand mehr. Eli­te? Der Be­griff setzt ein Mi­ni­mum an all­ge­mei­ner An­er­ken­nung vor­aus, aber auch die­se Brücke ist ge­bro­chen. Durch­set­zen tut sich im pop­kul­tu­rel­len Dschun­gel, den man auch als Wü­ste zeich­nen kann, m. E. das, wo­für am mei­sten und schlaue­sten ge­wor­ben wird; al­so im we­sent­li­chen das, wo­für am mei­sten Geld auf­ge­wandt wird. Das ist doch der Hol­ly­wood­me­cha­nis­mus, die sog. Block­bu­ster sind zum ge­win­nen ver­dammt, und das zu­ge­hö­ri­ge Ge­trie­be läuft sich von Mal zu Mal hei­ßer. Bis wann das geht? Kei­ne Ah­nung. Die­sel­be Sor­ge in al­len Be­rei­chen, Wirt­schaft, Tech­nik, Sport (auch da!), Selbst­op­ti­mie­rung, Le­bens­ver­län­ge­rung... Die letz­te Fra­ge von Phor­k­yas ist gut, ei­ne Ant­wort weiß ich na­tür­lich nicht. Viel­leicht funk­tio­niert der al­te Trick noch: Bei­des tun? Ich für mei­nen Teil fin­de, daß nicht ein­mal die Pop­kul­tur ganz ver­sifft ist, auch Hol­ly­wood nicht.

  12. Das Pro­blem ist, dass das Usur­pie­ren der Hoch­kul­tur durch den Kom­merz, al­so das, was man Ba­na­li­sie­rung nen­nen könn­te, als die letz­te Mög­lich­keit ge­se­hen wird, die­se über­haupt im Ge­dächt­nis min­de­stens noch ru­di­men­tär zu er­hal­ten. Und sei es als »ver­al­tet« oder »eli­tär«. Letz­te­res ist das Schimpf­wort – so­wohl von rechts wie auch von links – für das, was man einst »Hoch­kul­tur« nann­te. Neu­lich be­haup­te­te je­mand ernst­haft auf Twit­ter, dass Li­te­ra­tur im­mer eli­tär ge­we­sen wä­re und dass sich Men­schen, die hun­gern wür­den (!), nicht da­für in­ter­es­sie­ren könn­ten – sei es aus fi­nan­zi­el­len als auch aus schlicht­weg exi­sten­ti­el­len Grün­den. Das ist na­tür­lich Blöd­sinn zum Qua­drat, weil in je­der Stadt­bi­blio­thek so vie­le Klas­si­ker les­bar sind, wie ich gar nicht in der La­ge bin, je­mals aus­zu­le­sen. (Und in D braucht wirk­lich nie­mand zu hun­gern.)

    Die Um­ar­mung der Hoch­kul­tur durch den »Markt« ist kei­ne Lie­bes­be­zeu­gung son­dern äh­nelt den An­nä­he­run­gen ei­ner Wür­ge­schlan­ge, die ihr Op­fer dann ir­gend­wann lang­sam aber nach­hal­tig zu To­de bringt.

    Die An­ni­hi­la­ti­on des Pri­va­ten ist kein Na­tur­ge­setz. Im­mer mehr wird die In­di­vi­dua­li­sie­rung des Ein­zel­nen be­tont. Aber die­se In­di­vi­dua­li­sie­rung macht auch ein­sam. Was ge­sucht wird sind al­so Iden­ti­fi­ka­tio­nen. Die­se fin­den sich in der um­fang­rei­chen Frei­zeit­in­du­strie en mas­se. Das Buch ist nur ei­ne Mög­lich­keit un­ter hun­der­ten. Das war vor 50 Jah­ren noch an­ders. Aber da hat man auch noch Wert auf Bil­dung ge­legt. Heu­te ge­nügt ma­xi­mal Wis­sen. Wenn über­haupt. Aber da­für ist die Ab­itur­quo­te so hoch wie nie.

    Zu den di­gi­ta­len Me­di­en: Ich glau­be, die pau­scha­le Ver­teu­fe­lung der »so­zia­len Me­di­en« bringt nicht nur gar nichts, sie ist auch falsch. Wo­bei ich mich im­mer noch an mei­ne Oma er­in­ne­re, die »das Buch« schon für den Ur­sprung al­len sitt­li­chen Ver­falls hielt. Ich glau­be, dass man kul­tu­rel­le The­men ge­ra­de in Blogs oder von mir aus auch auf You­tube ver­mit­teln kann. Was man dann al­ler­dings ver­ges­sen muss, sind die »Er­fol­ge«. Es wer­den da­mit we­der gro­ße Reich­wei­ten er­zielt wer­den, noch in aus­rei­chen­dem Maß Geld ver­dient wer­den kön­nen. Das hal­te ich im üb­ri­gen auch nicht für schlimm. Schrift­stel­ler ha­ben fast im­mer mit öko­no­mi­schen Pro­ble­men zu kämp­fen ge­habt. Ge­ra­de in ei­ner Zeit, in der Tau­sen­de Neu­erschei­nun­gen je­des Jahr er­schei­nen, ist es nur na­tür­lich, dass nicht je­der von sei­nen Wer­ken wird le­ben kön­nen.

  13. Schö­ne Kom­men­ta­re. Ich fin­de auch, man soll sich vom Pri­mat der Öko­no­mie nicht ein­schüch­tern las­sen. An­nih­li­la­ti­on des Pri­va­ten?! Ty­pi­sche Dra­ma­ti­sie­rung, die man heu­te eher am »Au­then­ti­schen« fest­ma­chen wür­de.
    Kom­mu­ni­ka­ti­on ist m.M.n. der Schlüs­sel zum Kul­tur-Kon­zept. Wir kön­nen es am Gam­mel-Jour­na­lis­mus, den Macht­spra­chen und den Ich-Ex­pe­ri­men­ten in den Soz-Meds als Ne­ga­tiv er­ken­nen. Das Nied­rig­ste und das Höch­ste Seit’ an Seit. Des­halb weiß man auch nicht, wo­hin die Rei­se geht... Ich darf be­haup­ten, ich ha­be auf You­tube ein paar der in­ter­es­san­te­sten Men­schen un­se­rer Zeit aus­ge­macht. Und die Al­go­rith­men sind mir noch nicht ein­mal in die Que­re ge­kom­men. Im Ge­gen­teil, manch­mal gab es so­gar ei­nen »Zu­falls­tref­fer«.
    Im Ver­gleich da­zu ha­be ich in mei­ner Ju­gend (oje!) die in­ter­es­san­te­sten Men­schen im­mer nur in Bü­chern ge­fun­den. Na­tür­lich quer durch die Zeit, und To­te mehr als Le­ben­de. Die bei­den Er­fah­run­gen er­gän­zen sich na­tür­lich präch­tig. Ich kann mich nicht be­schwe­ren.
    Zu den All­stars möch­te ich noch sa­gen: die Aus­sor­tie­rung nach hin­ten ist gna­den­los; tat­säch­lich blei­ben ne­ben Shake­speare und Goe­the nur we­ni­ge üb­rig. Und die Klas­sik ist ja auch nur die Ah­nung ei­nes hö­he­ren Men­schen, die von der Kraft der Ein­zel­nen lebt.
    Was mich wie­der auf den ver­que­ren In­di­vi­dua­li­täts-Be­griff bringt, bzw. das schwan­ken­de Ich von @Phorkyas. Da scheint mir der Hund be­gra­ben, denn man muss ja in­zwi­schen wie­der pa­ra­do­xe Bot­schaf­ten ver­sen­den: Wer­de, der du be­sten­falls bist, und pass’ auf, dass Dir nicht die fal­schen Leu­te da­bei hel­fen...