Gräu­el der Ge­gen­wart ‑8/11-

(← 7/11)

Ein er­ster Zwei­fel be­schlich mich wäh­rend der Lek­tü­re an ei­ner Stel­le, wo es die Au­torin für aus­ge­macht nimmt, daß neue Tech­no­lo­gien Ar­beits­plät­ze ver­nich­ten. Könn­te es nicht sein, daß sie alt­her­ge­brach­te, oft schwe­re oder lang­wei­li­ge, geist­tö­ten­de Tä­tig­kei­ten über­flüs­sig ma­chen oder Ma­schi­nen über­ant­wor­ten, wäh­rend sie un­ter Um­stän­den an­de­re, neue, an­ge­neh­me­re Ar­beits­mög­lich­kei­ten schaf­fen? Man­che Ar­beits­so­zio­lo­gen kom­men zu die­sem Schluß, doch ob die neu­en Mög­lich­kei­ten für die ge­sam­te Ge­sell­schaft aus­rei­chend sein wer­den, dar­über ge­hen die Mei­nun­gen aus­ein­an­der (»Ma­schi­nen schaf­fen mehr Jobs als sie ver­nich­ten«, ti­tel­te die Süd­deut­sche Zei­tung un­längst). Ge­wiß, ein al­tes, nie zur vol­len Zu­frie­den­heit ein­ge­lö­stes Ver­spre­chen; im­mer­hin gibt es zahl­rei­che Bei­spie­le da­für, daß es ver­wirk­licht wer­den kann, denn schließ­lich stel­len Su­per­vi­si­on und Ent­wick­lung von Ma­schi­nen ei­ne neue Art von Ar­beit dar, die vor­erst nur von Men­schen ge­lei­stet wer­den kann.

Nach lan­gen, ge­wun­de­nen We­gen, auf de­nen For­re­ster das Ver­schwin­den der Ar­beit und des Ar­bei­ters be­klagt und gei­ßelt, aber auch be­grüßt und ein Um­den­ken for­dert, ei­ne po­li­ti­sche Ethik, de­ren Fun­da­ment eben kein Ar­beits­ethos wä­re, son­dern… (so­bald sie zur Fra­ge nach Al­ter­na­ti­ven kommt, wird ihr Dis­kurs dünn), stößt sie ein­mal auch auf die Fi­gur des Kon­su­men­ten. Der Kun­de ist Kö­nig; die schein­bar über­flüs­sig ge­wor­de­nen Men­schen ha­ben doch noch ei­ne Rol­le zu spie­len. »Kon­su­mie­ren, un­ser letz­ter Aus­weg« – ei­ne iro­ni­sche Flos­kel, not­re der­nier re­cours, mit der For­re­ster rasch zur Hand ist, oh­ne zu be­den­ken, daß der stei­gen­de Kon­sum eben auch neue Ar­beits­plät­ze schaf­fen könn­te. Sie stellt so­gar die Fra­ge, wie Ver­ar­mung und Kon­su­mis­mus denn zu­sam­men­pas­sen, geht ihr aber nicht wei­ter nach. Der Kon­su­ment ver­schwin­det als­bald wie­der aus dem Buch; sein Auf­tritt war kurz ge­we­sen (wäh­rend er in der Wirk­lich­keit der rei­chen Län­der und so­gar von et­was we­ni­ger rei­chen wie zum Bei­spiel Me­xi­ko ziem­lich dau­er­haft und all­täg­lich ist). Die sich be­reits über Jahr­zehn­te hin­zie­hen­de, nie ge­lö­ste Fra­ge, ob es bes­ser sei, den Gür­tel en­ger zu schnal­len und die Wirt­schaft zu sa­nie­ren oder die Ein­kom­men zu er­hö­hen, um den Kon­sum an­zu­kur­beln und so die Pro­duk­ti­on zu stär­ken und am En­de neue Ar­beits­plät­ze zu schaf­fen, kommt bei For­re­ster gar nicht vor. Die im­mer er­neu­ten Ant­wort­ver­su­che der Po­li­ti­ker und Öko­no­men glei­chen dem Spiel ei­ner Waa­ge, das ein end­lo­ses Aus­ta­rie­ren, ei­ne nie ganz er­folg­rei­che Su­che nach dem Gleich­ge­wicht dar­stellt. Ein ein­zi­ger Blick in die rea­len Ein­kaufs­zen­tren und die Kun­den­fo­ren des In­ter­nets sagt uns, daß ein er­heb­li­cher Teil der Leu­te im­mer noch über ziem­lich viel Geld ver­fügt und die­se vir­tu­el­len oder re­el­len Plät­ze als Er­satz für die im glo­ba­len We­sten leer ge­wor­de­nen oder ganz ver­schwun­de­nen Kult­stät­ten fun­gie­ren. Da­mit könn­te man ja auch zu­frie­den sein, oder? Je­der strebt nach sei­nem ei­ge­nen Glück, wie es das ver­nunft­ge­mä­ße Grund­ge­setz for­dert.

Wei­ter­le­sen ...

Gräu­el der Ge­gen­wart ‑5/11-

(← 4/11)

Tho­mas Pi­ket­ty hat neu­er­dings ei­ne Men­ge De­tails zur Ana­ly­se und Kri­tik des heu­ti­gen Ka­pi­ta­lis­mus bei­getra­gen und so die em­pi­ri­sche Grund­la­ge für Über­le­gun­gen ge­stärkt, die For­re­ster oft ein we­nig oben­hin an­stell­te.1 Mit Zu­stim­mung le­se ich bei For­re­ster die Kenn­zeich­nung des Neo­li­be­ra­lis­mus als Denk­form, oder bes­ser ge­sagt: als tro­ja­ni­sches Pferd, das sich un­merk­lich über die Jah­re hin­weg in die Ge­hir­ne, die Ge­wohn­hei­ten, die Wer­te (und den Ver­zicht auf Wer­te), das zwi­schen­mensch­li­che Ver­hal­ten ein­ge­schli­chen hat. Erst auf­grund die­ser jah­re­lan­gen, mehr oder min­der sanf­ten, ideo­lo­gie­frei­en In­dok­tri­nie­rung wur­de es mög­lich, daß Ge­stal­ten wie der Im­mo­bi­li­en­hai Do­nald Trump oder der Me­di­en­mo­gul Sil­vio Ber­lus­co­ni ans Ru­der der Staats­macht ka­men. Sie ver­kör­pern je­nes neo­li­be­ra­le Per­sön­lich­keits­mo­dell, das wei­te Tei­le der Be­völ­ke­rung hoch­ach­ten und dem sie nach­stre­ben. Die nicht de­kla­rier­te Ge­walt der neo­li­be­ra­len Ideo­lo­gie war »so ef­fi­zi­ent, daß sich die po­li­ti­sche und wirt­schaft­li­che Land­schaft vor den Au­gen al­ler, doch oh­ne ihr Wis­sen, tief­grei­fend än­der­te, oh­ne daß da­durch ih­re Auf­merk­sam­keit oder gar Sor­ge ge­weckt wor­den wä­re.« Die Re­de ist von den acht­zi­ger und frü­hen neun­zi­ger Jah­ren des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts. »Das neue pla­ne­ta­ri­sche Sche­ma«, fährt For­re­ster fort, »setz­te sich un­be­merkt durch und konn­te so un­ser Le­ben be­herr­schen, oh­ne daß dies ir­gend­je­man­dem auf­fiel, au­ßer na­tür­lich den öko­no­mi­schen Kräf­ten, die es lan­ciert hat­ten.«

Wei­ter­le­sen ...


  1. "Die Frage der Verteilung der Reichtümer ist zu wichtig, um allein den Ökonomen, Soziologen, Historikern und anderen Denkern überlassen zu werden", schreibt Piketty in der Einleitung zu Das Kapital im 21. Jahrhundert. "Sie interessiert jedermann, und das ist gut so." Diese Frage werde immer eine eminent subjektive und psychologische, politische, konfliktuelle Dimension haben, "die keine vorgeblich wissenschaftliche Analyse ruhigstellen kann. Zum Glück wird die Demokratie niemals durch die Expertenrepublik ersetzt werden." 

Se­ba­sti­an Win­kels: Tal­king Mo­ney

Mr. Gocha aus Ge­or­gi­en möch­te noch ei­nen neu­en Kre­dit. Ei­ne Fa­mi­lie aus Nea­pel ver­han­delt über ei­ne Rück­zah­lung ei­nes ver­schul­de­ten Erb­las­sers. Ein an­de­rer Mann hat Pro­ble­me beim Ein­lö­sen ei­nes Bar­schecks. Schließ­lich ver­lässt er mit ei­nem Bün­del Geld die Bank, um da­mit sei­ne Ar­bei­ter zu be­zah­len. In Co­to­nou, Ben­in, möch­te Mon­sieur As­s­ank­pon ei­nen Kre­dit mit sei­ner Fest­geld­an­la­ge ver­rech­nen und soll 8% für 6 Mo­na­te be­zah­len. In Ka­ra­chi wer­den 30 Mil­lio­nen Ru­pi­en für zwei neue Fir­men­grün­dun­gen nach­ge­fragt. Ei­ne Schwei­ze­rin er­kun­digt sich nach An­la­ge­mög­lich­kei­ten, die so­zia­les und öko­lo­gi­sches En­ga­ge­ment un­ter­stüt­zen. Ei­ne Zi­tro­nen­händ­le­rin aus Bo­li­vi­en be­nö­tigt ei­nen Fi­nan­zie­rungs­kre­dit. Ein Hei­zungs­bau­er aus Pots­dam er­kun­digt sich nach ei­ner neu­en Be­rufs­un­fä­hig­keits­ver­si­che­rung. Ei­ne Toch­ter und ihr 91jähriger Va­ter sind in Chi­ca­go mit ei­ner Erb­schafts­an­ge­le­gen­heit be­schäf­tigt.

All die­se Per­so­nen (und noch ei­ni­ge mehr) sit­zen ih­rem Bank­be­ra­ter, ih­rer Bank­be­ra­te­rin, ge­gen­über. »Tal­king Mo­ney« heisst der Film von Se­ba­sti­an Win­kels und der leicht schel­mi­sche Un­ter­ti­tel lau­tet »Ren­dez­vous bei der Bank«. Die Sze­ne­rien be­gin­nen oh­ne je­de Ein­füh­rung und en­den zu­meist oh­ne Auf­lö­sung. Die Ka­me­ra bleibt auf den je­wei­li­gen Kun­den ge­rich­tet. Die Bank­an­ge­stell­ten sind fast nie im Bild; höch­stens ein un­deut­li­ches Pro­fil oder ei­ne Hand, die über den Tisch huscht oder ein Com­pu­ter wird be­dient. Meist geht es um ei­nen Kre­dit. Die Ton­la­ge in den Ge­sprä­chen va­ri­iert häu­fig zwi­schen Beicht­stuhl, Ab­fer­ti­gungs­schal­ter und Po­li­zei­ver­hör. Selbst die an­la­ge­su­chen­den Schwei­zer Kun­den wir­ken wie Bitt­stel­ler.

We­ni­ge Pau­sen zwi­schen den Sit­zun­gen rund um die Welt. Dar­in wort­los ei­ne Frau, die ku­gel­schrei­ber­krei­send te­le­fo­niert. Ei­ne an­de­re schlägt mit der Hand­flä­che auf ei­nen Pa­gi­nier­stem­pel. Auf­zug mit Mo­zart­mu­sik. Ei­ne Kaf­fee- oder Tee­kü­che. Au­to­ma­ten wer­den mit Geld be­stückt. Ein Si­cher­heits­mann.

Wei­ter­le­sen ...

Sahra Wa­gen­knecht: Frei­heit statt Ka­pi­ta­lis­mus

Ist es nicht merk­wür­dig, dass bis heu­te ei­ni­ge der schlimm­sten Dik­ta­tu­ren ein »de­mo­kra­tisch« in ih­ren Staa­ten­be­zeich­nun­gen füh­ren? Und/oder als »Volks­republik« so et­was wie Plu­ra­lis­mus sug­ge­rie­ren? War­um wer­den so häu­fig be­stimm­te Ter­mi­ni aus­ge­rech­net dann ver­wen­det, wenn sie ex­akt das Ge­gen­teil des­sen be­deuten, was man ge­mein­hin da­mit ver­bin­det? Und was hat das dau­er­haft für Aus­wir­kun­gen auf das ...

Wei­ter­le­sen ...