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Der springende Punkt in Forresters Darstellung ist das Spärlichwerden der Arbeit und der Unwille der mit dem Thema befaßten Institutionen, Massenmedien und Politiker, diese Tatsache anzuerkennen und ihr Rechnung zu tragen. Lieber tut man so, als sei die Arbeitslosigkeit ein vorübergehendes Problem, das man mit herkömmlichen Methoden lösen könne. Unterdessen suchen die Leute verzweifelt nach Arbeit oder sehen sich genötigt, so zu tun, als suchten sie danach, oder sie erfinden auf ihrem angestammten Posten eigentlich unnötige Arbeitsaufgaben, so daß sich der Streß, obwohl er abgebaut werden könnte, noch erhöht. Doch es wird Forrester zufolge auch in Zukunft viel zu wenig Arbeit und immer weniger davon geben. Wenig Arbeit jedenfalls im herkömmlichen, auf die Zeiten der industriellen Revolution zurückgehenden Sinn. Auch wohlmeinende Politiker, denen das Schicksal der überflüssig Gewordenen ein Anliegen ist, halten an der Idee der Arbeit fest. Ursachen dieser Situation gibt es mehrere. Forrester nennt vor allem die Automatisierung, Roboterisierung und Digitalisierung – heute wären Künstliche Intelligenz, deep learning und Reproduktion intelligenter Maschinen hinzuzufügen –, deren gesellschaftliche Folgen man seit der Nachkriegszeit hätte vorhersehen können, hätte man die damals erschienenen Schriften des Kybernetikers Norbert Wiener ernstgenommen. Trotzdem beklagt Forrester das Verschwinden der Arbeit nicht grundsätzlich. Im Gegenteil, man könne und solle dies als Befreiung vom biblischen Joch – »im Schweiße deines Angesichts« etc. – begrüßen; als Chance, endlich eine freie Gesellschaft zu errichten.
Schon Marx und Engels hatten die Verkürzung des Arbeitstags als Voraussetzung für echte Demokratie genannt; erst dann hätten die Arbeiter genügend freie Zeit, sich um die Angelegenheiten der Polis zu kümmern. Denkt man Forresters Ausführungen weiter, liegt das Heil, wenn es denn eines gibt, nicht so sehr in Arbeitszeitverkürzungen, wie sie in einigen europäischen Ländern gegen Ende des 20. Jahrhunderts tatsächlich durchgeführt wurden (inzwischen hat sich die Tendenz freilich wieder umgekehrt), sondern im bedingungslosen Grundeinkommen für alle, das es den Menschen ermöglichen soll, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Es ist zweifellos eine Ironie der Geschichte, daß nicht jene Länder, die im 20. Jahrhundert den Kommunismus zu verwirklichen versuchten und ihn dabei desavouierten, dieser Lösung näherkamen, sondern der fortgeschrittene, technologisch hochentwickelte Kapitalismus. »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.« Wer kreativ sein will, kann das gern tun, und wenn er Geld damit verdient, auch recht. Ein ausreichend dotiertes Grundeinkommen für alle würde die Vision von Marx und Engels in die Praxis umsetzen.
In der Schweiz wurde 2016 eine Volksabstimmung über die Einführung eines solchen Grundeinkommens abgehalten: 77 Prozent der Bürger, die sich daran beteiligten, waren dagegen. Immerhin gibt es immer wieder Vorstöße in diese Richtung; nach wissenschaftlichen Kriterien durchgeführte Experimente mit einer repräsentativen Gruppe von Personen über die Auswirkungen wären wünschenswert. In Finnland wurde ein solcher Versuch mit 2000 Testpersonen realisiert, doch die Ergebnisse sind nicht sehr aussagekräftig; erstens deshalb, weil nur Personen ausgewählt wurden, die unmittelbar vor dem Experiment arbeitslos waren, und zweitens, weil die Auszahlung des Grundeinkommens befristet war, so daß sich wohl die meisten zwangsläufig mit der Frage des Danach beschäftigten und auf Arbeitssuche gingen, weil sie längerfristig gar keine Alternative hatten. Solche Versuchsanordnungen gehen in der Regel davon aus, ein wesentliches Ziel bestehe darin, die arbeitslosen Bezieher eines Grundeinkommens wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Wenn die Ergebnisse in diesem Punkt schlecht sind, wird der Schluß gezogen, die getestete Maßnahme sei eben doch nicht so sinnvoll. Aber der Sinn eines Grundeinkommens in Forresters und auch in meinem Verständnis besteht nicht darin, die Betroffenen in die Arbeitswelt zurückzuleiten. Diese Sicht der Dinge entspricht dem alten kapitalistisch-utilitaristischen, letztlich profitorientierten Denken sowie der volkstümlichen Haltung des »Nicht mit meinem Geld!«, der Ablehnung von sogenanntem Schmarotzertum. In Forresters Sicht geht es darum, mit einer gesellschaftlichen Situation zurechtzukommen, in der die alte Arbeitswelt lädiert ist, deutlich schrumpft und tendenziell überhaupt verschwindet.
Die Frage bleibt bestehen und wurde bisher auch nicht in Ansätzen beantwortet, was die Menschen dann mit ihrer grenzenlosen Freizeit anfangen; ob sich die Bedeutung dieses Worts mit konkreten Inhalten, mit Bewußtwerdung und Kreativität füllt oder ob sich die Befreiten neuen Zwängen, Abhängigkeiten, Süchten, Konsumfetischismen unterwerfen, die sie als Freiheit erleben. Der Kapitalismus nämlich, so Forrester, braucht die Überflüssigen nach wie vor, zwar nicht als Produzenten, aber als Konsumenten. Wäre es also doch sinnvoll, Bedingungen für den Bezug eines Grundeinkommen aufzustellen? Zwar keine Leistungsnachweise, eher das Gegenteil davon: Streben nach mehr Bildung? Aufwertung der Volkshochschulen, Reform des alten Konzepts dieser Bildungseinrichtungen?
Ach! Dieselbe Idee äußerte Peter Sloterdijk schon 1984... Wie auch nicht, hatte er doch in seiner Kritik der zynischen Vernunft der zwanghaften und arroganten Emsigkeit, die sich wie ein roter Faden durch die abendländische Geistes- und Gesellschaftsgeschichte ziehe, eine »kynische«, d. h. entspannte, heitere, besitz- und arbeitslose Lebensweise entgegengesetzt, eine romantische Utopie, die in deutschen Landen jener Taugenichts verkörpern kann, den der Dichter Joseph Eichendorff der Literatur schenkte. In einer Pause meiner anstrengenden Schreibarbeit habe ich in alten Tagebüchern geblättert und bin alsbald auf einen Eintrag gestoßen, in dem ich einen Vortrag Sloterdijks resümiere, den ich am Vorabend im Radio gehört hatte. Sloterdijk sehe eine arbeitslose Gesellschaft heraufkommen, lese ich da, die Mehrheit der Bevölkerung werde »vor den Toren der Arbeitswelt« lagern und nicht eingelassen werden. In dieser Situation gelte es, erträgliche Lebensformen für die Ausgesteuerten zu entwickeln. Sloterdijk glaubt sie in einer »Allianz von Heilkunst und Lebenskunst« zu finden, und auch »neureligiöse Gruppen« hätten neben den postmodernen Kynikern das Ihre dazu beizutragen. Strukturelle Arbeitslosigkeit als Chance, ein ganzes Heer von heiteren Lebenskünstlern heranzubilden! Ein Volk von grundversorgten Taugenichtsen! Wunderbar… Die Wirklichkeit, das muß man 36 Jahre nach jenem Datum leider auch Sloterdijk entgegenhalten, spricht eine andere Sprache, die Mehrheit will von Kunst und Therapie überhaupt nichts wissen. Aber so ist das nun mal mit der Romantik, sie widerspricht den Gegebenheiten, ihr Reich ist die Phantasie.
In Japan beobachte ich den Widerspruch zwischen struktureller Arbeitslosigkeit und unverdrossenem Arbeitsethos, an dem nicht einfach nur festgehalten wird, sondern das man, je länger die »Krise« dauert – und wie es aussieht, wird sie endlos dauern, falls ihr nicht eine Katastrophe ein Ende setzt –, umso mehr verschärft. Statt sich in diesem reichen Land damit zufriedenzugeben, daß für viele Produktions- und zunehmend auch Verwaltungs- und Dienstleistungsabläufe immer weniger Arbeitszeit und Arbeitskraft (einschließlich geistiger Arbeitskraft) erforderlich ist, erfindet man, d. h. nicht »das System«, sondern die Masse der Angestellten, angeblich notwendige oder vorteilhafte, tatsächlich aber sinnlose, wirkungslose, nicht selten sogar störende Arbeiten, einerseits aus Gewohnheit, in einem Selbstlauf, der die Parkinsonschen Gesetze zu bestätigen scheint (»work expands so as to fill the time available for its completion”), andererseits aus Angst vor dem weltweit umgehenden Gespenst der Arbeitslosigkeit. Ist der Arbeitsplatz bedroht, tut der Arbeitende so, als hätte er ungeheuer viel zu tun, und sucht sich Tätigkeiten, die angeblich dringend ausgeführt werden müssen. Die Vorgesetzten fordern in einem fort Verbesserungen von Dienstleistungen aller Art, die faktisch aber für die Betroffenen – Kunden ebenso wie Firmenpersonal – neue Belastungen sind. Obwohl uns so viele Lasten von elektronischen oder elektronisch gesteuerten Maschinen abgenommen wird, haben wir alle immer weniger Zeit. Wir verlieren diese Zeit mit ungeahnten Lappalien, in der Arbeit ebenso wie in der Freizeit. Das kommunistische Paradies, von dem Fourier, Marx und Forrester träumten, will sich einfach nicht verwirklichen lassen – im Gegenteil, es rückt in immer weitere Fernen.
Die wirtschaftliche Mindestsicherung könnte bei den Individuen Energien freisetzen, so daß sie schöpferisch tätig würden, sich ohne äußere Zwänge fortbildeten, ihre Fähigkeiten in den Dienst dieser oder jener guten Sache stellten und sich nicht zuletzt an der res publica, an Bürgerinitiativen, Wahlen, Kultureinrichtungen, beteiligten. Der Begriff der Arbeit selbst würde sich ändern; Arbeit würde für den Einzelnen keine Mühsal und kein Joch mehr bedeuten, sondern die Möglichkeit, sich selbst frei zu verwirklichen. Auch dieser Gedanke findet sich schon bei Marx: Durch fortwährende Bildung, durch Arbeit an mir selbst und schöpferische, autonome Tätigkeit werde ich zu dem, der ich sein kann. Ich entfalte sämtliche Fähigkeiten, die in mir angelegt sind. Die allseits oder wenigstens vielseits gebildete gebildete Persönlichkeit, eine alte humanistische, in die griechische Antike zurückreichende Idee, war im »Realen Sozialismus« zu einer Floskel verkommen. In der DDR wurde dieses Ideal (mitsamt dem einhergehenden Glück) gesetzlich verordnet: »Das Ziel des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems ist eine hohe Bildung des ganzen Volkes, die Bildung und Erziehung allseitig und harmonisch entwickelter sozialistischer Persönlichkeiten, die bewusst das gesellschaftliche Leben gestalten, die Natur verändern und ein erfülltes, glückliches, menschenwürdiges Leben führen.« Klingt gut, oder? Verwirklicht wurde das Ideal nicht, und wenn, dann am ehesten im Widerstand gegen diese allzu wirkliche sozialistische Gesellschaft. Nach deren weltweitem Ende und dem Sieg des neoliberalen Kapitalismus (nicht nur in Rußland, sondern auch in China) fällt es schwer, an den »guten Menschen« zu glauben. Kann er unter den Bedingungen von Konsumismus und kommerzieller Konkurrenz, von digitalisiertem Egoismus und allgegenwärtiger Kulturindustrie denn irgendeine Zukunft haben? Menschenmassen strömen in den Louvre, um die Mona Lisa zu sehen bzw., da die Masse ein konzentriertes Sehen unmöglich macht, um ein T‑Shirt, ein Tüchlein, einen Schlüsselanhänger, einen Kugelschreiber, eine Puppe, was auch immer, aber mit einer Reproduktion dieses (vermeintlichen) Höhepunkts der Hochkultur versehen, mit dem Markenzeichen »Mona Lisa« gewissermaßen, im Museumsshop zu erwerben. Gleichzeitig gibt es für klassische Konzerte, in Wien zum Beispiel, kein heimisches Publikum mehr, Bildungssendungen sind aus dem Fernsehen verbannt (es würde sie auch niemand ansehen), die Schulen legen auf Aneignung von Wissen keinen Wert mehr, sie wollen nur noch testen, um die Konkurrenzfähigkeit zu sichern und Vergleichbarkeit für den Konkurrenzkampf auf dem Arbeitsmarkt herstellen. Die vielseitig gebildete Persönlichkeit, für welche die letzten technologischen Revolutionen die besten Entwicklungsbedingungen geschaffen haben (in jedem Smartphone ist das gesamte Weltwissen einschließlich der Mona Lisa vorhanden), gehört der Vergangenheit an.
Genau das, so mein Eindruck, war die Sorge von Madame Forrester an ihrem Lebensabend. Aber vielleicht ist es nur meine eigene Sorge, denn Forrester scheint von der Realität des Guten Menschen auszugehen. Die Leute, so verstehe ich ihre Ausführungen, sind jahrzehntelang mißbraucht und irregeführt worden. A priori haben sie an ihrer Befreiung ein gewissermaßen natürliches Interesse, doch der Neoliberalismus hat leider ihre Gehirne vernebelt. Resignation hat sich breitgemacht. Dagegen müßte man angehen. Aber wie? Indem man Bücher schreibt? Bestseller wie Der Terror der Ökonomie? Allein die Gruppe derer, die freiwillig Bücher lesen, ist, Bestseller hin oder her, eine verschwindende Minderheit geworden, und unter den Lesern kommen wenige über Harry Potter hinaus.1 Die digitale Revolution hat auch daran ihren Anteil von Schuld.
© Leopold Federmair
Über die Harry-Potter-Bücher rümpfe ich nicht mehr die Nase, seit ich George Steiners Einschätzung hinsichtlich der komplexen Syntax und des reichen Wortschatzes dieser Romanserie gelesen habe. Freilich, Steiner bedauert auch, daß die Leser von Harry Potter nicht über diese Lektüre hinauskommen. J. K. Rowling könne sich den Welterfolg selbst nicht erklären, bemerkt Steiner und fragt sich, ob Kinder, die Harry Potter gelesen haben, danach zu den Klassikern übergehen: Die Schatzinsel, Gullivers Reisen, Oliver Twist usw. Die Antwort ist "nein", wie Untersuchungen von Literatursoziologen ergeben haben. ↩
Die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) ist der letzte Strohhalm einer im Kern »linken« Paradiespolitik (und das nach dem Versagen des »Sozialismus«, der sich 1990f zeigte). Es gibt m. E. keine seriöse Rechnung, die das Aufkommen für das BGE in irgendeiner Form aufzeigen könnte. Als ich dies auf Facebook anläßlich des Schweizer Referendums erwähnte und um eine Beispielrechnung bat, fiel den Adepten nichts anderes ein, als dass die Initiatoren schon alles richtig gerechnet haben dürften. Das war’s dann.
Im Kern haben wir in Deutschland fast ein BGE. Es nennt sich offiziell »Arbeitslosengeld II«, vulgär: »Hartz IV«. Pro forma ist es an bestimmte Bedingungen geknüpft, die nicht alle einleuchten, aber im Kern durchaus vernünftig sind. So sind beispielsweise Vermögensfreibeträge benannt, die man kürzlich angepasst (d. h. erhöht) hat. Außerdem muss sich der Leistungsempfänger dem Arbeitsmarkt zur Verfügung halten und zumutbare Jobs annehmen. Ansonsten drohen Sanktionen. Die sind umstritten, wobei die aktuelle Rechtssprechung auch hier Freibeträge eingeräumt hat, d. h. es darf einem nicht mehr das ganze Geld gekürzt werden.
Der Betrag pro Person liegt derzeit bei € 424. Die Kaltmiete wird bis rd. € 360 übernommen (für Einzelpersonen). Nebenkosten werden sozusagen nach Auslage erstattet; praktisch alles wird vom Amt bezahlt (meist übrigens auch die Rundfunkgebühr). Der Sturm gegen Hartz-IV ist immer noch groß, insbesondere die Wohlfahrtsverbände sehen hier »Armut« am Werk. Dabei wird stillschweigend davon ausgegangen, dass auch Hartz-IV-Empfängern eine Teilhabe ähnlich arbeitenden Menschen ermöglicht werden soll.
Lassen wir diesen Punkt einmal beiseite, so kann man sagen, dass mindestens rd. € 800 nahezu voraussetzungslos bezahlt werden. Verhungert ist daran bisher meines Wissens niemand. Große Sprünge, d. h. Konsum, der jenseits des Lebensunterhalts liegt, ist damit schwerlich möglich. Ich nehme dies als Beispiel, um zu verdeutlichen, dass ein BGE von € 800 zwar theoretisch zum Leben ausreicht, aber den Kapitalismus ( d. h. am Ende ja nichts anderes als Industrie und auch Dienstleistungsgewerbe) praktisch zum Stillstand bringen würde. Das BGE muss also weit höher liegen, damit bspw. Elektronikprodukte oder auch Mobilität abgedeckt sind.
Vielleicht soll man sich also nach dem gesetzlichen Mindestlohn orientieren. Der liegt in Deutschland derzeit bei € 9,35/Stunde brutto. Bei einer 40 Stunden-Woche sind das € 1.621 brutto/Monat. Als Einzelperson ohne Kinder bleiben davon rd. € 1.200 netto übrig. Wohl gemerkt: Davon müssen bspw. Miete und Nebenkosten getragen werden.
Mit € 1.200 ist natürlich ein Theater- und/oder Museumsbesuch und auch ein Buch/Monat für durchschnittlich € 20 drin. Sicherlich. Wenn man das möchte. Ein Auto zu unterhalten wird schon schwieriger, aber das will man vielleicht gar nicht mehr. Wenn man also ein BGE anstrebt, sollte es in diesem Bereich liegen.
Bleibt die Frage, wie € 1.200 bei rd. 80 Mio. Menschen in Deutschland zu bezahlen sind. Das Aufkommen hierfür läge bei € 1.152.000.000.000. Im Jahr 2019 lag der Bundeshaushalt (Ausgaben des Bundes – d. h. bei der schwarzen Null, die bis 2019 galt, grob gesagt identisch mit den Einnahmen) bei € 356.000.000.000. Man kann sofort erkennen, dass es eine Diskrepanz um rund gerechnet Faktor 3 gibt. Das gilt auch dann, wenn man die anderen Sozialleistungen, die im Haushalt ausgewiesen werden – also bspw. Kindergeld – herausrechnen würde (was ja intendiert ist)
Das Geld für das BGE muss also irgendwo herkommen. Wie wäre es mit einer erhöhten Umsatzsteuer. Damit würde allerdings dem Konsumenten das Geld, was man ihm gibt, sofort wieder abgezogen. Womöglich muss man auch Mieten dann umsatzsteuerpflichtig machen (bisher in D befreit).
Dabei ist ja gar nicht gesagt, dass die Summe der bisherigen Einnahmen bleiben würde. Was geschieht mit den Arbeitslosen in den Verwaltungen, die bisher Lohnersatzleistungen bearbeiten? Wieviele Menschen wären mit einem BGE zufrieden und würden ihre Arbeit (mit der sie Steuern für den Staat erwirtschaften) einfach aufgeben. Handwerker beispielsweise könnten ihr BGE mit Schwarzarbeit aufbessern; mehr denn je, denn Zeit wäre vorhanden. Natürlich würden die Künste nebst Literatur enorm profitieren, denn jetzt wäre es Zeit, endlich seinen Roman zu schreiben. Oder sich zu »bilden«. Oder vielleicht doch lieber Netflix oder Party?
Wer solche Vorbehalte äußert, gilt ja längst als schlechter Mensch bzw. als jemand, der nur das Schlechte im Menschen sieht. Und es gibt ja Beispiele, wie BGE in begrenztem »Format« angeblich funktionieren. Das glaube ich allerdings auch – weil es eine Subventionierung durch all die gibt, die nicht an dem Projekt BGE teilnehmen. Sobald alle unterschiedslos ein BGE erhalten, wird die Wirtschaft das ohne eine seriöse Finanzierung nicht aushalten. Es sei denn, man druckt einfach Geld bis die Inflation alles auffrisst und dann das Leben wieder von vorne losgeht. Mein Verdacht ist, dass dies hinter der Idee des BGE steckt.
Dass die Menschheit frei ist, wenn die Maschinen die Arbeit übernehmen, ist eine überstarke Vereinfachung.
Zur Volkswirtschaft: Tatsächlich ist nicht das durchschnittliche Einkommen, sondern die Investitionsquote der Realwirtschaft für Wachstum und Beschäftigung maßgeblich. Wie Gregor schon andeutet: allein vom Konsum aus einem ubiquitären Grundeinkommens bricht die Wirtschaft und ihr aufgesetzter Finanzkapitalismus sofort zusammen. Das ist ungefähr so, als hätte man in der Mitte des 19. Jahrhunderts beschlossen, die Dampflokomotiven »aus Umweltgründen« nur noch mit Stroh zu befeuern. Damit wäre man keine hundert Meter weit gekommen...
Ich erkenne zwei Motive aus alten Diskussionen wieder: die Überflüssigkeit des Künstlers und der Kreativen, und die humorvolle bzw. rebellische Perspektive, dass Arbeit »krank macht«. Beides ist diskussionswürdig, aber ich kenne keine Erörterung, die aus diesen zwei »Kernproblemen« einen Systemwechsel begründen konnte. Das ist ganz klar zu wenig Argument. Da müssten die Künstler und die durch bzw. ohne Arbeit Kranken schon wirklich sehr kaputt und verzweifelt sein... Was vorkommt, keine Frage! Aber eben nicht ausreicht, weil politische Planung nicht disfunktional sein sollte.
Die Frage ist, in welchem Maß Maschinen (inkl. Algorithmen, Roboter, KI) wirklich die bisher von Menschen bewältigten Arbeiten übernehmen, ohne daß im selben Maß neue Arbeitsplätze für Menschen entstehen. Je mehr sich dieses Verhältnis dramatisiert, desto dringlicher stellt sich die Frage, wie die Arbeitslosen erhalten werden können. Ich glaube nicht, daß 80 Mio. Deutsche nicht arbeiten WOLLEN. Aber die Zahl der Arbeitsplätze könnte einfach bei weitem nicht ausreichend sein. Tatsächlich ist es so, daß in Ländern wie USA oder Japan, mit starker Technologisierung und Roboterisierung, zwar die Angst vor Arbeitslosigkeit grassiert, aber der Statistik nach die Arbeitslosenzahlen in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken sind (vor Corona). Könnte es sein, daß viele prekäre, schlecht bezahlte Arbeitsplätze entstanden sind? Könnte es sein, daß die Unzufriedenen nicht Angst vor dem Nichts haben, sondern davor, daß sie ihr Niveau (mit Autos, Urlaub etc.) nicht halten können?
Der Punkt bei Forrester ist, daß ein BGE-Modell sozioökonomisch notwendig werden könnte. Tatsächlich ist ja auch die von Gregor beschriebene Hartz IV-Realität eine Notwendigkeit. Die (Nicht-)Bezahlbarkeit eines echten BGE würden Leute wie Piketty mit der ungleichen Verteilung des Reichtums in Verbindung bringen. Eine weit stärkere Besteuerung von großen Vermögen scheint allerdings auch wieder »unrealistisch«. Man stößt dauernd auf die (angeblichen) Grenzen der Machbarkeit.
Ein entscheidender Punkt ist sicher, ob und wie der Konsum gesichert werden könnte. Im Prinzip müßte es aber doch so sein, daß, je mehr rationalisiert und automatisiert wird, umso größere Gewinne erzielt werden können, die dann zu einem höheren Steueraufkommen beitragen könnten. Oder die Produkte könnten stark verbilligt werden. Tatsächlich arbeitet die Preispolitik ja auch mit Fiktionen. Vieles ist jetzt schon nahezu kostenlos, anderes viel teurer als nötig.
Mein persönlicher Einwand gegen das BGE und meine Befürchtung, daß solche Experimente, in großem Stil durchgeführt, nicht klappen würden, rührt eben daher, daß ich nicht an das Gute im Menschen glaube. Wenn sie nicht in eine Arbeits- oder Bildungsstruktur eingebunden sind, versumpfen die meisten Menschen. Nicht Netflix, sondern Schlimmeres, oder Dooferes. Ich habe selbst einmal ein paar Monate lang Arbeitslosengeld bezogen, einen geringen Betrag, weil ich nicht viel verdient hatte. Damals konnte ich stark verbilligte Karten für Einrichtungen wie das Burgtheater bekommen. Als ich das in Anspruch nahm (unter Vorweisung eines Ausweises), herrschte dort, im Burgtheater, zuerst einmal Staunen, daß es das überhaupt gibt, dann wurde ich quasi mit Händen getragen, bekam einen sehr guten Platz etc. Offenbar gab es nicht viele Arbeitslose, die ins Burgtheater wollten.
Wenn man mal annimmt, es gibt ein echtes BGE (ohne Zwang, sich bei AMS bzw. BA zu melden und Arbeit ev. anzunehmen), müßte das mit anderen Zwängen verbunden werden, z. B. Bildungsangebote in Anspruch zu nehmen oder einer sozialen Tätigkeite nachzugehen (Nachbarschaftsvereine usw.). Aber ich fürchte, das wird wegen der »Schlechtigkeit« der Menschen nicht klappen.
Mein Punkt ist auch nicht, dass 80 Millionen Deutsche nicht arbeiten wollen. Aber es würden wohl eher die schlecht bezahlten Jobs im Dienstleistungsbereich sein, deren Arbeitnehmer das BGE ersatzlos akzeptieren würden. Die Frage wäre, ob diese Positionen dann neu besetzt werden, was nur über höhere Gehälter möglich wäre. Dies wiederum müssten die Kunden bezahlen, was wiederum bei einer Evaluierung des BGE zu dessen Erhöhung führen müsste, damit es nicht an Kaufkraft verliert, usw.
Ob Forrester ein BGE für notwendig hält oder nicht ist nicht relevant. Es geht darum, wie das Geld, welches dafür benötigt wird, erwirtschaftet wird. Wie gesagt, man kann es auch drucken (auf anderer Ebene macht das die EZB ja schon seit Jahren), aber irgendwann wird alles platzen. Piketty kann sich ja für die globale Enteignung der Reichen einsetzen (bei einigen Protagonisten im linken politischen Spektrum Deutschlands gilt man schon bei einem Jahreseinkommen von € 60.000 brutto als »reich«). Die Verteilung unter sozialistischen Ägiden haben allerdings bisher nicht besonders gut funktioniert.
Es gab immer wieder Versuche, Hartz-IV-Empfänger über spezielle Gutscheine verbilligt oder kostenlos an kulturellen Ereignissen Teilhabe zu ermöglichen. Meist wurden sie früh wegen Desinteresse eingestellt. Die entsprechenden Sozialverbände versuchten das mit der »Diskriminierung« zu erklären, wenn man sich an der Kasse als Sozialhilfeempfänger »outen« muss. Ich halte das für Quatsch. Es besteht einfach mehrheitlich in dieser Klientel wenig bis kein Interesse an Theater, Konzerten oder Museen. Mit Zwängen wird man auch nicht weiterkommen – man kann Bildungsangebote nicht vorschreiben (ich habe einen kleinen Einblick erhalten, wie die Deutschkurse für Flüchtlinge seit 2015ff »funktionieren«: rund 20% der Teilnehmer hat kein Interesse, die deutsche Sprache zu erlernen – selbst Gelderkürzungen ändern da nichts).
Ihre Überlegungen (@Leopold) sind so... Mittelschicht. Mehr Ambivalenz geht nicht. Das kann man wie in einem Mietshaus ablesen: über ihnen residiert das »Vermögen«, und unter ihnen wohnt das arbeitsscheue Gesindel.
Eines ihrer Argumente ist ziemlich wichtig, weil es immer wieder kehrt, nicht nur in ökonomischen Fragen: im anglo-amerikanischen Sprachraum nennt man es kritisch Linear-to-Infinity.
Ihr Beispiel war der Zusammenhang von Produktivität und Arbeit, verbunden mit der Frage, »in welchem Maß Maschinen (...) die bisher von Menschen bewältigten Arbeiten übernehmen, ohne daß im selben Maß neue Arbeitsplätze für Menschen entstehen.«. Das ist ziemlich schwer zu analysieren, weil die Maschinen sich ja nicht selbst erschaffen wie in MATRIX. Im Gegenteil sind sie eher autistische Babys, die ständig der Pflege und Entwicklung bedürfen.
Aber nehmen wir mal für einen Moment an, es gebe da einen veritablen Nachteil für die Beschäftigten. Dann gibt es nach Forrester (so wörtlich) »einen Punkt«, an dem man ein BGE notgedrungen einführen müsste.
Ganz genau! Dieser Punkt liegt mathematisch gesehen im Unendlichen, genauer gesagt ist er gar nicht berechenbar. Es wird nämlich die »immer stärker wachsende Anzahl« der Maschinen, durch eine immer kleinere Zahl von Arbeitern geteilt. Das Verhältnis (Differenzial) strebt gegen Unendlich, und damit strebt auch die Produktivität gegen Unendlich, und das mittlere Einkommen (bei 40 Mio Beschäftigten) gegen Null
Forrester übersetzt: im Unendlichen gibt es einen Punkt, an dem die Einführung eines BGE zwingend geworden ist.
Dazu sagt die Kritik: Stimmt! Aber bis dahin haben wir ganz gewöhnliche Umverteilungsprobleme.
Das sind übrigens keine Zahlenspiele, um den Gegner zu verwirren, denn mit diesen Scaling-up-to-infinity-Argumenten wird nicht so sehr die Möglichkeit einer Katastrophe analysiert, sondern die absehbare Dysfunktionalität schon auf ein Heute projiziert und Alarm geschlagen. Der Alarmismus hat hier seine intellekuellen Wurzeln.
Das ist zwar richtig, dass die kapitalistische Gesellschaft nicht besonders gut funktioniert, wenn man als Ziel Sinn-und-Glück für alle vorgibt. Aber weder diese übertriebene Forderung, noch die Prognose von Forrester (Katastrophe-im-Unendlichen) sind unabweisbare Gründe für einen Systemwechsel.
Ich glaube, ich habe es geschrieben: Meine größte Skepsis gegen das BGE rührt daher, daß erfahrungsgemäß die meisten Leute versumpfen, wenn sie nichts zu tun haben, und auch nicht in der Lage sind sich etwas Sinnvolles auszudenken, das sie tun könnten. Sie sind bleiben passiv, konsumieren. Zum Beispiel TV, Games, Fußball usw. Was Glück ist, müssen wir hier nicht diskutieren, aber zum Glück von Kultur und Bildung wird man niemanden zwingen können.
Maschinen: In vielen Bereichen gibt es eine fast totale Automatisierung. Maschinen stellen ohne viel menschlichen Zuspruch Maschinen her. Und da die künstliche Intelligenz, wenn man Experten traut, rasende Fortschritte macht, werden Maschinen auch immer mehr neue Maschinen entwickeln. Werden deshalb die meisten Arbeitsplätze verschwinden? Werden wir den unendlichen Punkt bald in unserer Endlichkeit erreichen?
Ich habe keine Ahnung, und die Expertenmeinungen gehen auseinander. Bill Gates 2014 warnte 2014, daß ein Großteil der Arbeitsplätze bald verschwinden würden. (https://www.thejournal.ie/bill-gates-software-automatic-jobs-loss-bots-1363435-Mar2014/) In Nature stand Ende 2018 zu lesen, daß die Automatisierung viele Arbeitsplätze schaffen würde. (https://www.nature.com/articles/d41586-018–07501‑y) Ich könnte mir denken, daß viele neue Arbeitsplätze in Bereichen entstehen werden, die mit Automatisierung, KI etc. in direkter Weise gar nicht zu tun haben. Z. B. Gesundheitsberufe (auch wenn Gates meint, Krankenpflege könne bald von Robotern übernommen werden) oder Kinderbetreuung – wenn qualifizierte Arbeitskräfte alle paar Jahre umlernen und ständig neue Berufe entstehen, während alte verschwinden.
Forrester hat diese Möglichkeit nicht einmal angedacht, daß Arbeit Mangelware wird, war für sie eine unhinterfragbare Voraussetzung.
Bisher galt (gilt?) das Junktim, dass die Menge der durch Automation bzw. Digitalisierung verschwindenden Arbeitsplätze geringer ist als diejenige, die durch die neuen Technologien entstehen. So richtig habe ich das nie geglaubt. Sicherlich gibt es auf einem Bauernhof keine fünf Knechte mehr, aber welchen Beruf die nun ausüben, ist mir nicht ganz klar. Rationalisierungen geschehen ja vor allem im Personalkostensegment. Es soll einen Automobilhersteller geben, der früher in Rente gehenden für zwei, drei Jahre noch 90% des Nettogehalts garantiert, wenn sie nur sofort gehen.
Gesundheitsberufe (bspw. Kranken- bzw. Altenpfleger) würden nur dann boomen, wenn die womöglich dauerhaft notwendige Pflege von Menschen bezahlt wird. In Deutschland kostet ein durchschnittlicher Heimplatz € 2.600/Monat, das sind € 31.200/Jahr. Die Durchschnittsrente in D liegt derzeit bei rd. € 1.400. Wenn ein solcher Rentner in ein Altenheim kommt, werden erst einmal seine Ersparnisse aufgebraucht, bevor dann der Staat die Differenz bezahlt. Im Beispiel € 1.200/Monat. Aus teilweise eigener Anschauung weiss ich, dass die meisten Heimbewohner eher unterdurchschnittliche Renten haben. Zudem erhöht sich bei verstärkter Pflegebedürftigkeit der Beitrag pro Monat. Ein Heim muss mit dieser Kalkulation klarkommen. Wenn in ein paar Jahren die Babyboomer verstärkt in die Heime kommen, werden die Kosten steigen, was aber nicht bedeuten muss, dass die Arbeitsstellen für Pflegekräfte ebenfalls zunehmen. Schon jetzt baut man auf Pflege zu Hause, die von meist selbstständigen Kleinunternehmerinnen (es sind überwiegend Frauen) erbracht werden. Die legen damit den Grundstock für ihre eigene prekäre Rentensituation.
Arbeit als solche ist keine Mangelware; sie wäre im Übermaß zu erbringen. Meist hakt es daran, dass diese Arbeit so bezahlt werden muss, dass Menschen davon leben können. Das zeigt sich signifikant bei den sogenannten »Aufstockern«.
Ich bin ja in den Siebziger und Achtziger Jahren aufgewachsen. Da waren Wachstum und Beschäftigung die zentralen politischen Themen. Dann kamen die Neunziger (Wiedervereinigung), die Nuller Jahre (Europa, Islamismus), und das zweite Jahrzehnt (Klimawandel, Migration). Die politische Klasse hat ihr thematisches Zentrum immer wieder neu definiert. Im Augenblick zeichnet sich das Thema »Neue Öffentlichkeit/Identität« ab. Mal sehen!
Richtig: die existenzielle Kategorie der Arbeit ist verschwunden. Die Begriffsperson dahinter war der Homo Faber, und damit waren Männer und Frauen gemeint. Jedenfalls hat der Feminismus dafür gesorgt! Ich habe den Eindruck, dass dieser Diskurs ausläuft. Das könnte die Lücke sein, die @Leopold anspricht, wenn er von einem Desinteresse der Institutionen spricht. Eigentlich ist das eine wichtige Common-Sense-Figur, über die sich Politik definiert und mitteilt. Müssen wir nicht die Zukunft der Arbeit (und die »Gräuel der Gegenwart«) auf zwei verschiedenen Ebenen diskutieren, wenn man so will, auf einer realen und auf einer imaginären Ebene?! Und ich meine tatsächlich »imaginär«, und nicht »visuell«, obschon auch die Darstellungen von Arbeit sehr knapp geworden sind. Ich gucke oft Dokus auf n‑tv, sei es Werften, Flughafen, Fabriken (fast keiner da...), Logistik, etc. Da tauchen wenigstens noch Splitter aus der ehemaligen, gemeinsam konstruierten Wirklichkeit auf.
Naja, man kann alles auf zwei oder mehr Ebenen diskutieren. Aber, salopp gesprochen, am Ende geht es darum, wie Einkommen generiert wird, dass mehr als nur das Lebensnotwendige deckt. Ende der 1990er war der Slogan der Dienstleistungsgesellschaft auch in Europa angekommen. In GB und auch den USA war schon längst die Deindustrialisierung fortgeschritten. Mit Asien und dann auch Osteuropa schienen neue und vor allem billige Produktionsstandorte gefunden. Man brauchte nicht mehr die Hände schmutzig machen und studierte Medienwissenschaften oder Tourismus.
Deutschland hat noch den kleinen Vorteil, dass es diese Deindustrialisierung nicht mitgemacht hat. Aber das Paradies ist längst abgesagt. An Kleinigkeiten zeigt sich, was im argen liegt: Es gibt kaum mehr Handwerker, in MINT-Fächern ist Deutschland nahezu ein Entwicklungsland, Ausbildungen werden verkürzt und immer mehr nicht ausgebildete Kräfte in Dienstleistungsberufen eingesetzt. Die werden damit häufig zu Dumping-Existenzen, usw.
Ja, die Entdeckung der Schattenseiten der Globalisierung beginnt Ende der 90er Jahre. Die Fabriken der Welt stehen in der Provinz Guangdong (China), und die neuen Dienstleistungsberufe sind nicht ganz so unverzichtbar wie die Krankenschwester, sodass sich ein der »Mittelklasse benachbartes Prekariat« bildet. Die Arbeitsmoral beginnt zu wackeln, zuletzt weil eine beachtliche Konkurrenz aus Osteuropa auf den Plan tritt.
Und wie wird regiert?! Ganz einfach, indem man so wie damals von nichts eine Ahnung hat, aber steif und fest behauptet, die Welt von morgen zu kennen. Green Deal!
Ich glaube, zwischen der bürgerlichen Welt und einem wahrhaftigen gesellschaftlichen Optimismus liegt ein ganzer Ozean. Da würde ich Ihnen zustimmen. Aber war es nicht immer schon schwer, die persönlichen Erwartungen an Entwicklung und Prosperität zu verallgemeinern?! Heute hat die Politik die Zukunft als Möglichkeit, Bedrohungen abzuwenden entdeckt. So spart man sich die Verlegenheit der später dann festgestellten »falschen Versprechungen« komplett. Das ist doch sehr elegant! Wenn heutzutage eine Bedrohung übertrieben wird und später der Schaden geringer ausfällt als befürchtet, sind alle froh, dass sie »enttäuscht wurden«... Pessimistische Politik ist modern, spätmodern!
@ Gregor (weiter oben)
Vor kurzem habe ich ein Buch von Colin Crouch bekommen, »Will the gig economy prevail?« Die Antwort tendiert in Richtung Ja, soweit ich es bisher anlesen konnte. Crouch versucht, die diversen Formen von prekären Arbeitsverhältnissen zu benennen und liefert dazu eine Menge statistischer Daten. »Gigs« sind in diesem Zusammenhang Leistungen für eine oder zwei Firmen, die ein Arbeiter, der de facto aber »selbständig« ist, immer wieder erbringt. Das ist aber nur eine Form von »precarity«. Dauerhafte Arbeitsverhältnisse gibt es immer weniger, viele können von ihrer Tätigkeit kaum ihre Familien ernähren. Ausgenommen Youtuber, Influencer, diese Art von »neuen Berufen«. Ken Loach schildert in seinem letzten Film die Situation dieser neuen »Unternehmer«.
Zur Frage, ob Automatisierung, Roboterisierung etc. mehr Arbeitsplätze schaffen oder vernichten, habe ich sehr unterschiedliche Stellungnahmen gelesen. Im Pflegebereich sollen ja auch mehr und mehr Roboter zum Einsatz kommen. Ob wir das allerdings wollen? Ob die Familien das wollen? Ob es sich aufhalten läßt? Ob es Alternativen gibt? Lauter offene Fragen, sie schneiden alle hinein in den breiigen Teig, den ich mit »Gräuel der Gegenwart« meine.
Daß mehr gepflegt, therapiert, behandelt, begleitet werden muß, liegt auf der Hand. Auch Wellness-Bereiche zähle ich dazu. Vorbeuge gegen Burnout. Psychische Erkrankungen. Die Leute werden älter, die Medizin macht weiter rasante Fortschritte, Ärzte werden in bestimmten Bereichen ja ebenfalls überflüssig (Y. N. Harari gibt in seinen dicken Büchern gern Beispiele dafür). Ob sich das alles wird bezahlen lassen? Offene Frage. Nach Ihren Rechnungen, Gregor, nicht.