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Im folgenden werde ich eine Reihe von Punkten, von Feststellungen und Erkenntnissen anführen, denen ich lebhaft zustimmen möchte. Und dies in der Absicht, meiner eigenen gesellschaftsbezogenen Wahrnehmung Nachdruck zu verleihen, daß unser tägliches Unbehagen nicht in erster Linie durch einen unberechenbaren, extremistischen, oft religiös motivierten, historisch rückwärtsgewandten Terror bedingt ist, sondern einem Gespinst aus selbstverständlich gewordenen, selten ins Bewußtsein dringenden Gräueln gleichkommt.
Forresters Buch ist nicht wissenschaftlich, es stellt auch nicht diesen Anspruch. Es ist ein Essay, der um eine überschaubare Anzahl von Themen kreist und sich dabei immer wieder Abschweifungen erlaubt. Für ihre Beobachtungen und Erklärungen bringt Forrester wenig konkrete Belege, ihre Ableitungen folgen keiner strengen Logik und keinem akademischen Schema. Trotzdem – oder deshalb? – kann man aus heutiger Sicht sagen, daß sie zumeist ins Schwarze trifft. Man muß kein Wirtschaftsexperte sein, um festzustellen, daß der Finanzkapitalismus sich mehr und mehr von der Produktion realer Güter abgehoben hat und daß daraus erhebliche Probleme entstehen, die nicht nur die Masse der mehr oder weniger Besitz- und oft auch Arbeitslosen schwächen, die Reichen unverhältnismäßig stärken und zu globalen Krisen wie im Jahr 2008 führen können. Man muß kein Fachmann sein, um zu bemerken, daß ökonomische Prozesse in den postindustriellen Gesellschaften wie Glücksspiele ablaufen, bei denen gesetzt, gewettet, gewonnen und verloren wird, wobei die Spieler, die global players, die Einflußfaktoren und Kontexte selbst zu schaffen und zu kontrollieren bestrebt sind (was ihnen aufgrund der Hochkomplexität, der Unüberschaubarkeit, der Hochgeschwindigkeit der Abläufe und der digitalen Selbstläufe nicht immer gelingt), sofern sie über genügend Macht und Geldmittel verfügen. Auch auf die Risiken und unerwünschten Nebenwirkungen der Digitalisierung hatte Forrester bereits 1996 aufmerksam gemacht, auch sie haben in der Krise 2008 Bestätigung gefunden. Massenpsychologische Faktoren beeinflussen finanzwirtschaftliche Entwicklungen auf das stärkste. In gewissem Sinn ist »die Wirtschaft« halluzinatorisch geworden: Während von (»wissenschaftlichen«) Prognosen und (»kalkuliertem«) Risiko die Rede ist »arbeitet« sie mit Hoffnungen und Einbildungen, mit Phantasien und Ängsten. Mediatisierter Sport und Popkultur, die heutigen Glanzstücke jener Kulturindustrie, deren Anfänge einst Horkheimer und Adorno beschrieben, gehören ebenso zu den bevorzugten Einsätzen dieser ökonomischen Abläufe wie die digitalisierte Pornographie, der Handel mit privaten Daten und natürlich die Werbung, die nicht mehr nur dazu dient, Produkte an den Mann zu bringen, sondern selbst ein abgehobener Wirtschaftszweig geworden ist.
Wahrscheinlich ist es, um wirtschaftliche Prozesse zu verstehen, sogar besser, kein Fachmann und keine Fachfrau zu sein, weil man als Außenstehender Abstand hat und sich nicht so leicht in die durch die Digitalisierung verstärkte und zum Dauerzustand gewordene Hysterie hineinziehen läßt. Zumal die sogenannten Ökonomen, geht man nach ihren Kommentaren in Tageszeitung, ohnehin nichts wissen. Glauben heißt nichts wissen (pflegte meine Großmutter zu sagen); die sogenannten Ökonomen sind selbst nur Spekulanten, die an diesem Psychospiel teilnehmen, ob bewußt oder unbewußt, vorsätzlich oder nicht.
Ich bin in einer Zeit sozialisiert worden, in welcher der Marxismus im Schwange war. In meiner jugendlichen Wißbegierde habe ich mehrmals versucht, Das Kapital zu lesen; ich habe es nicht geschafft, bin nie über die ersten hundert Seiten hinausgekommen, konnte mir aber auch nicht eingestehen, daß diese Lektüre langweilig (was, wie ich schon damals merkte, nicht für alle Marx-Schriften galt) und daß ich von dem Geschriebenen nicht viel begriff. Vielleicht wollte ich mehr begreifen, als es zu begreifen gab? Die Ehrfurcht verbot mir einen solchen Verdacht. Er beschleicht mich erst heute vierzig Jahre später, nachdem mir alle Ökonomen, Marx nicht ausgenommen, suspekt geworden sind. Lese ich das Buch der Nicht-Ökonomin Forrester – tatsächlich ist mir nie auch nur eine einzige Ökonomin, keine Wirtschaftswissenschaftlerin untergekommen1 –, so erhärtet sich mein Verdacht, und ich beginne, dessen Gründe zu verstehen. Die so regelmäßig (wie Rankings) an die große Glocke gehängten Prognosen der Wirtschaftsexperten sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen, bzw. die Bildschirme, auf denen sie vorbeiziehen. Massenpsychologische Prozesse lassen sich mit den derzeitigen Mitteln nicht vorhersehen. Gefeit gegen deren Gefahren ist nur, wer sehr viel besitzt und seine Anlagen diversifiziert. Also die Superreichen. Das alte Lied.
Der Neoliberalismus – ich bleibe bei dieser Bezeichnung, weil sie sich eingebürgert hat und einen ganz bestimmten, gut handhabbaren Sinn akkumuliert hat, auch wenn die Definitionen und der Gebrauch nicht ganz einheitlich sind – der Neoliberalismus, der um 1980 als politisches Konzept die Bühne betrat und einen raschen Siegeszug erlebte und im Jahr 2020 die globalisierte Welt fest im Griff hat, war lange Zeit eine stille Strategie und hat sich als solche durchgesetzt, parallel zur stillen Revolution der Digitalisierung und Vernetzung, deren um sich greifende Faktizität ebenso unangreifbar geworden ist. Auch darin hat Forrester recht: Der Neoliberalismus braucht keine Ideologie, keine Propaganda, sein Gehalt setzt sich via Massenmedien im Selbstlauf durch, senkt sich in Gehirne und Herzen, beherrscht schließlich das Denken und Verhalten der überwältigenden Mehrheit der Menschen, das in Frankreich manchmal als pensée unique bezeichnet wird, als »Einheitsdenken«. Das Internet verstärkt und beschleunigt diesen Vorgang, indem es durch seine spezifische Technologie, durch seine automatisierte Wirkungsweise, Mainstreams und Filter – vulgo Scheuklappen – schafft.
© Leopold Federmair
Weil sich Frauen mehr von der Vernunft leiten lassen und für kindliche Kriegsspiele, die manchmal ernst werden, wenig Interesse haben? ↩
Die Behauptung, dass Frauen sich mehr von der Vernunft leiten lassen kollidiert in Ihrem Kontext (Neoliberalismus) , Leopold Federmair, mit Margret Thatcher – und derzeit mit EZB Chefin Christine Lagarde (ich meine auch mit Angela Merkel und Annalena Baerbock und Claudia Roth und Saskia Esken usw., wenn auch da in etwas anderen Kontexten).
In diesen Punkt würde ich zustimmen: der (Neo-)Liberalismus braucht keine Ideologie, kein Programm. Er führt eine Reihe von Teilnehmer-Definitionen ein, die sowohl natürliche Personen als auch strukturelle Einheiten umfasst. Er ist eine Aktions-Matrix, eine Spielerbeschreibung.
Fraglich, ob es sich dabei um eine Herrschaftsform handelt. Das stelle ich zur Diskussion. Aus systemtheoretischer Sicht könnte man ebenso von einer Produktionsweise sprechen. Wenn man es genau nimmt, geht doch der Herrschaftsbegriff nach der (marxistisch gesprochen) wirtschaftsgeschichtlichen Entscheidung von 1989 in den Produktionsbegriff über. Itzo sind die herrschenden Produktionsverhältnisse alternativlos. Genau darin liegt doch die Tragik, wenn man so will. Es gibt nur diese eine Variante. Es bleibt bei der einzig verfügbaren Zumutung...
Dieter Kief: Die von Ihnen angesprochene Fußnote besteht in einer Frage, keiner Behauptung, obwohl insoweit zugestanden werden könnte, nicht nur rein böse veranlagte Geister könnten hier eine Behauptung in einer (rhetorischen) Frage verkleidet sehen.
Etwas anderes: Ich habe auch nach dritten Teil dieser Reihe noch nicht kapiert, was es mit den Gräueln auf sich haben könnte, nur sehr, sehr dunkel ahne ich, worum es sich dabei handeln könnte. Ich werde aber auf jeden Fall dran bleiben, denn diese Essays lese ich sehr gern – möge nur die Zeit, die zwischen der Veröffentlichung der einzelnen Teile liegt, nicht allzu lang werden!
@ Dieter Kief: Ja, kollidiert (ist aber eine Frage, darauf hat Erik Fricke hingewiesen). Manchmal sehe ich den Kollisionen in meinen Texten gern zu. Andere Male suche ich sie zu vermeiden. – Ihre Liste betreffend: Wir könnten sie jetzt um Amy Coney Barrett verlängern.
@ Sophie
Ja, das ist für mich ein interessanter Aspekt. Vielleicht sollte man die sozioökonomische Entwicklung seit 89 als Entwicklung alternativloser, weltumspannender Produktionsverhältnisse fassen, in die jeder, sei’s auch nur als Konsument oder als Hartz-4-Empfänger, hineingezogen ist. Es gibt innerhalb des Systems Gegengewichte gegen den Neoliberalismus, eine Fortschreibung der »Sozialen Marktwirtschaft« – darauf weist Gregor K. gern hin.
Foucault hat den Begriff der Macht in dieselbe Richtung verschoben: Mikrostrukturen, alle Schnittstellen/Funktionen/Personen reproduzieren und produzieren in einem fort Macht, man entkommt ihr nicht. Oder doch? In einem Konzept des Parasitentums. Das versuche ich später in diesem und dann noch in einem weiteren Essay zu entwerfen.
Leopold Federmair hier sind noch mehr Kollisionen. Die sehr dampfplauderige Claudia Kempfert No. 24, Friedrich August von Hayek No. 66. Mei is mir schlecht (Albert Hiasl).
https://blogs.faz.net/fazit/2019/11/25/faz-oekonomenranking-2019-frauen-11056/
Insgesamt – Sie suchen einen Platz am Rand des großen Weltgeschens und brauchen eine Absolution. Sie glauben, wenn die ökonomisch fundiert wäre, hätte sie mehr Kraft. – Falls das zuträfe, so wäre es sehr rührend. – Eine Form der sonntäglich milden literarischen Protoreligiosität?
@ Dieter Kief: Do haums recht. Ich möchte nicht »nicht nur in den Medien und auf Social Media, sondern auch in der Politik Gehör finden« (O‑Ton FAZ). Ökonomische Fundierung leider nicht in Sicht. Beim Punkterechnen war ich noch nie gut. Frau Kempfert, wer immer das ist: 134 148 50,5 19 50,7. 148 »Medien Zitate«, vow! 50, 7 »Politik Punkte«, a ned schlecht!
Meine Kritik ist u. a. eine an der Durchquantifizierung und Ausrechnung der Lebensbereiche. So kommen wir zu einer immer optimaleren Kontrollgesellschaft.
Ich glaube nicht, dass ein Interesse für die Nahtstelle zwischen Ökonomie und Sein religiös genannt werden kann. Es wäre wenn schon eine Diesseits-Religion.
Im übrigen ist der volkswirtschaftliche Diskurs zwar auf eine globale Ebene gehoben worden, aber die Kern-Paradoxie des Bürgertums ist doch wunderlich wie am ersten Tag: ganz große Diskussion über Wirtschaft, Wachstum und Beschäftigung, aber immer unter der Prämisse des freien Unternehmertums resp. selbstverantwortlichen Arbeiterschaft. »Wir produzieren nichts, wir regieren, und zwar so, dass sich jeder am Wohlsten fühlt!«.
Besonders die Globalisierung macht mit der Absurdität des »parasitischen Regierens« ernst. Man weiß ja sprichwörtlich nicht mehr, wo Deutschland aufhört und Ausland anfängt. Alles Deutschland, oder was?! Es ist doch hinlänglich klar, dass sich der Universalismus (Ideenkomplex) mit den globalen Wirtschaftsbeziehungen (Handlungskomplex) paart, ohne dass man sagen könnte: es kommt zusammen, was zusammen gehört. Stimmt ja, das sind zwei Ebenen, zwei Erfahrungen, zwei Argumentationsstränge...
Wenn ich die jetztige Zeitzone klassifizieren müsste, würde ich sagen: Die unerträgliche Gleichheit, die totale Horizontale! – Die Stratifzierung, Faltung und Kompression der ökonomisch/geostrategischen Schichten (frei nach Deleuze) führt zu einem beliebig sinnvollen und moralisch höchst virulenten »Delirium«, aus dem man jede politische Maßnahme folgern könnte, die einem in den Sinn kommt. – Warum nicht in Simbawhe einmarschieren, und die Kinder aus den Minen befreien, wo sie unter Lebensgefahr Schwermetall abbauen, um die Zulieferer der Batterie-Industrie zu versorgen, welche wiederum unsere wichtigste Stütze im Kampf gegen den Klimawandel darstellen...
Ja, in der Tat. Das nenne ich ein Delirium!
Sophie – Ich kenne Leute, die in Simbabwe ein Gymnasium aufgebaut haben. – Mit deutschem Geld, eh kloa, die Zimbabwer haben ja keins. Deren in Zimbabwe aufgewachsene Tochter arbeitete ein Jahr in Lateinamerika in einem Haus für misshandelte Mütter (und Kinder -). – Hinter Stacheldraht, weil die Bolivier die bewaffneten Überfälle der frustrierten Ehemänner nur abzuwehren vermögen, indem man eben alle Schutzbefohlenen verbarrikardiert und – einsperrt. Die Polizei ist nicht da, wenns brennt. Oh – sie arbeitete unentgeltlich, bzw. für einen kleinen Obulus – vom deutschen Staat.
Was sie rückbllickend bemerkenswert fand war, dass den UruguayerInnen weniger an einer Arbeit mit diesen Kindern und Müttern gelegen war, sodass sie – das fand sie gut, als ziemliches Greenhorn gleich mal Führungserfahrung sammeln konnte. Es gab nämlich noch ein paar Kids aus der entwickelten Welt, die sich dort nützlich machten, die aber keine rechte Peilung hatten.
Haha, und dann habbich kürzlich den Zimbabwischen Organisationspsychologen Memory Nguwi auf YouTube gesehen, der sich einen Luxus leistet, für den man hier locker den Job verliren kann: Er hat sich vertieft in Heiner Rindermanns Cognitive Capitalism (eines der unverzichtbar wichtigen Bücher unserer Tage) – und hält nun Vorträge über die ddurch das Studium dieses Buches gewonnen Einsichten. – In Zimbabwe stört das offenbar keinen. Verkehrte Welt. Das Buch ist hier verpönt wg. – Rassimus gegen – - – - Schwarze.
Ok – der Memory Nguwi scheint in Zimbabwe eine bekannte und einflusssreiche Persönlichkeit zu sein – und hier ist, was er Heiner Rinermann gefragt hat:
https://www.unz.com/jthompson/9‑snappy-questions-on-intelligence/
Hier sieht man, dass Memory Nguwi – Bob Dylans Rat beherzigt hat, befor er Heiner Rindermann intervwiete:
https://www.youtube.com/watch?v=G‑1ZdL37A0s
Ah – Bob Dylans Rat – I know my song well, before I start singin’
PS
Ich sagte oben nicht religiös – ich sagte protoreligiös.