Chri­stoph Nar­holz: Wi­de Bo­di­ed Jets

Christoph Narholz: Wide Bodied Jets

Chri­stoph Nar­holz:
Wi­de Bo­di­ed Jets

Aber­mals ein Buch mit No­ta­ten, al­len­falls klei­nen Er­zäh­lun­gen, Ca­pric­ci­os, ei­ne im­mer stär­ker sich ver­brei­ten­de, sanf­te Form des Wi­der­stands ge­gen den Ro­man­fe­ti­schis­mus des Li­te­ra­tur­be­triebs. Wi­de Bo­di­ed Jets lau­tet der Ti­tel; nicht der ein­zi­ge An­gli­zis­mus. Man er­fährt, dass da­mit Trans­kon­ti­nen­tal­flug­zeu­ge be­zeich­net wer­den. Es gibt/gab da­von 76 bei der Luft­han­sa und al­le blie­ben wäh­rend der Co­ro­na-Pan­de­mie am Bo­den. Und 76 Ge­schich­ten sol­len es sein, so vie­le wie Jets. Am En­de sind es mehr als 80.

Es be­ginnt, wie der Au­tor es kurz dar­auf sel­ber nennt, »alt­mo­disch le­gen­den­haft« mit ei­ner Er­zäh­lung aus ei­nem klei­nen por­tu­gie­si­schen Ort vor zwei­hun­dert Jah­ren, drei hüb­schen Wirts­töch­tern, ei­nem Dau­er­ver­lieb­ten und dem Ver­such, die­se Zeit in der Ge­gen­wart des Dor­fes wie­der­zu­fin­den. Die­ser Ein­stieg er­weist sich als Glücks­fall, denn da­nach gibt es den er­sten von drei (oder sind es vier?) Selbst­dia­log-Ein­schü­ben. Zu­nächst wird hier dem Le­ser das Kon­zept er­klärt, dass all die­se Tex­te in der Co­ro­na-Zeit ent­stan­den sind (am En­de heißt es von »Spät­win­ter 2020 bis Som­mer 2022«), dass es wi­der die »kleb­ri­ge Trau­rig­keit von Chri­sti­an Kracht« (an­geb­lich ein Di­ede­rich­sen-Wort) geht und dass es vie­le un­ter­schied­li­che Er­zäh­ler gibt. So weit, so gut. Im wei­te­ren Ver­lauf der Selbst­ge­sprä­che wer­den al­ler­dings na­he­zu al­le po­li­ti­schen und ge­sell­schaft­li­chen The­men der Zeit be­spro­chen wie bei­spiels­wei­se die Schwä­chen des Li­be­ra­lis­mus, die Not­wen­dig­keit ei­ner neu­en Rechts­ord­nung im An­thro­po­zän oder die Re­ak­tio­nen des Staa­tes in der Pan­de­mie. Aus­führ­lich kne­tet man die (da­mals ak­tu­el­len) Phi­lo­so­phen, Bru­no La­tour, Pe­ter Slo­ter­di­jk, Bo­ris Groys, Jür­gen Ha­ber­mas und Sla­voj Žižek, was bei je­man­den, der u. a. über Slo­ter­di­jk pro­mo­viert hat, nicht un­ge­wöhn­lich ist. Na­tür­lich gibt es dann auch Ein­ord­nun­gen zum Über­fall Russ­lands auf die Ukrai­ne (die­ser Krieg wird schließ­lich als »Fe­mi­zid« klas­si­fi­ziert).

Über­steht man die­ses Feuil­le­ton­ge­brum­me, fol­gen die No­ta­te, »kur­zen Ge­schich­ten« (der Un­ter­ti­tel) und klei­nen Er­zäh­lun­gen. Auch hier neh­men Nar­holz’ Er­zäh­ler zu­wei­len all­zu plump die pro­gres­si­ve Po­se ein. Et­wa wenn die Mas­sen­imp­fun­gen ge­gen Co­vid als »Über­le­ben auf ei­ner neu­en Ar­che« hoch­sti­li­siert, als »star­kes Gat­tungs­emp­fin­den« und Be­ginn des An­thro­po­zäns (da ist es wie­der, die­ses Wort) ge­fei­ert wer­den. Gänz­lich geht der Slo­ter­di­jk mit ei­nem Er­zäh­ler durch, wenn Wind­rä­der zu »promethische[n] Ma­schi­nen« und »Bringer[n] des gu­ten Schwer­tes« wer­den, die »acht ge­ben« auf un­se­re Er­de.

Schon in­ter­es­san­ter die Ge­schich­te des 2020 ver­stor­be­nen Con­gress­man John Le­wis, der in der (ehe­ma­li­gen) Ab­ge­ord­ne­ten des Re­prä­sen­tan­ten­hau­ses von Geor­gia Stacey Abrams fort­zu­le­ben scheint. My­stisch ei­ne Er­zäh­lung über den Auf­ent­halt in New York wäh­rend der Pan­de­mie und das Re­ka­pi­tu­lie­ren des Ein­schlags der zwei­ten Ma­schi­ne in die Twin-Towers.

Und zu­wei­len ge­lin­gen dann schil­lern­de Pre­tio­sen, die aus der Fer­ne an das zu Be­ginn fast be­schwo­re­ne Vor­bild Phil­ip­pe Jac­cot­tet er­in­nern. Das kön­nen so­wohl No­ta­te von we­ni­gen Sät­zen, aber auch et­was aus­gie­bi­ge­re Er­zäh­lun­gen sein, die auch nicht im­mer zwin­gend di­rekt et­was mit der Co­vid-Pro­ble­ma­tik zu tun ha­ben. Et­wa die klei­ne No­tiz von den zwei vom Ha­gel er­schla­ge­nen Am­seln. Oder je­ne Er­in­ne­rung an ein Rau­chen vor ei­nem Fisch­re­stau­rant in Jaf­fa. Da ist ei­ne Epi­pha­nie des ver­stor­be­nen Freun­des auf ei­ner Mo­tor­rad­tour. Ein­mal wer­den die Vö­gel im Gar­ten zu Fa­ber­gé-Ei­ern. Oder je­mand tritt in die »Nach­kriegs­welt der El­tern« ein. Stark, wie die Eis­wür­fel in New York nach­träg­lich fast zu sa­kra­len Ge­gen­stän­den er­in­nert wer­den, was über­rascht, denn kei­ner der di­ver­sen Er­zäh­ler in die­sem Band hat auch nur das klein­ste Ver­ständ­nis für Re­li­gi­on.

Das Mei­ster­stück lie­fert Nar­holz al­ler­dings mit Die Alm­ka­nal-Sur­fer, in der Mit­te sei­nes Bu­ches plat­ziert. Hier wird nicht we­ni­ger als die Er­zäh­lung über An­dre­as Lo­ser aus Pe­ter Hand­kes Der Chi­ne­se des Schmer­zes in un­prä­ten­tiö­sem Stil kon­ge­ni­al fort- und wei­ter­ge­schrie­ben.

Und tat­säch­lich er­hält man in­mit­ten wil­der Ge­gen­warts­dia­gno­stik Oa­sen bis­wei­len das, was in an­de­rem Zu­sam­men­hang »Phan­ta­sien der Emp­fin­dung« ge­nannt wird. Dann ge­lin­gen die­se Bo­tho-Strauß-haf­ten, aus dem An­schau­en ge­won­ne­nen De­duk­tio­nen, wie et­wa die Sze­nen ei­nes äl­te­ren, dem Al­ko­hol reich­lich zu­ge­wand­ten Ehe­paa­res im Flug­ha­fen­re­stau­rant in Düs­sel­dorf. Da­zu passt auch die Ge­schich­te vom pen­sio­nier­ten Bom­ben­ent­schär­fer, der jetzt ein trocke­ner Al­ko­ho­li­ker ist. Groß­ar­tig, die klei­ne Epo­pöe vom Tank­stel­len-Ca­fé und ei­ne an­de­re über den Sohn des Be­sit­zers ei­nes Re­stau­rants. Auch die Orts­er­zäh­lung über die aus der Zeit ge­fal­le­ne Cum­ber­land­sied­lung be­sticht. Wie so man­ches an­de­re auch. Licht und Schat­ten halt, aber mehr Licht.

1 Kommentar Schreibe einen Kommentar

  1. Ehr­lich ge­sagt, fin­de ich das gar nicht gut, dass ne­ben der Poe­sie und Epo­poe, al­so der an­mu­ti­gen traum­ähn­li­chen Er­zäh­lung di­rekt dum­me Ge­dan­ken und über­flüs­si­ge Dis­kurs­re­ak­ti­on auf­tau­chen. Selbst wenn der Au­tor das gut fin­det, müss­te die Re­dak­ti­on ein­grei­fen. Aber das ist wohl auch ein Zeit­zei­chen, dass man sich jetzt schon sehr leicht ei­nig wird, wenn die Wind­müh­le oder die Ukrai­ne auf­grund all­ge­mei­ner Ah­nungs­lo­sig­keit zur »In­ter­pre­ta­ti­on« frei ge­ge­ben wer­den. Zu­ge­ge­ben, kei­ne ein­fa­chen The­men. Aber wo ist die epi­ste­mi­sche Be­schei­den­heit ge­blie­ben?! An­de­rer­seits muss­te Slo­ter­di­jk als Leh­rer ja ei­ne un­will­kom­me­ne Wir­kung ha­ben, und dar­in liegt sie ver­mut­lich. Sein Ver­dienst: die ro­he Ab­ge­ho­ben­heit der Kri­ti­schen Theo­rie be­merkt zu ha­ben. Aber Stil und Me­tho­de muss­ten na­tür­lich als Ein­la­dung zur ge­wichts­lo­sen Me­ta­phy­sik miss­ver­stan­den wer­den. Wie auch nicht?! – Ich krit­tel gar nicht gern dran rum, das will ich aus­drück­lich sa­gen, denn wir sind ins­ge­samt in ei­nem in­tel­lek­tu­el­len Di­lem­ma an­ge­kom­men, das mehr als un­be­quem ist. Die­se Ver­floch­ten­heit mit po­li­ti­schen Dis­kur­sen ge­hört doch ei­gent­lich zum All­tag, aber das zieht uns der­ma­ßen run­ter (die be­sag­te Trau­rig­keit bei Kracht), auf der ei­nen Sei­te, und auf der an­de­ren Sei­te scheint ei­ne Flucht in Phi­lo­so­phie oder Poe­sie gar nicht ge­winn­brin­gend mög­lich zu sein, im Sin­ne ei­ner Auf­he­bung des Rea­len an ei­nem bes­se­ren Ort. All die­se Schwe­re auf den Flü­geln... Wir sit­zen ganz schön in der Tin­te!

Kommentar abgeben:

Die E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Angaben sind mit * markiert.