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Kehre ich zu meinem früheren Rezensentendasein zurück, wenn ich mir jetzt das Buch von Viviane Forrester vornehme? Ich hatte, als ich es mir bei Amazon – horribile dictu, aber in der japanischen Provinz gibt es kaum eine andere Möglichkeit, rasch an ein ausländisches Buch zu kommen – bestellte, ein paar der Leserkommentare gelesen, wovon mir zwei Richtungen im Gedächtnis blieben: Die einen meinten, das Buch sei unwissenschaftlich, die Verfasserin ein Schöngeist ohne viel Ahnung von der Ökonomie; die anderen meinten, es sei höchst aktuell, die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre hätten das Geschriebene voll und ganz bestätigt. Nun interessiere ich mich, wenn ich den Gebrauchswert eines solchen Buchs abschätzen soll, nicht so sehr für seine Aktualität, sondern erhoffe mir eher etwas wie Zeitlosigkeit, also daß es an Probleme und Gefühle rührt, für die der landläufige Journalismus kein Sensorium hat. Dennoch bekam ich während der Lektüre diese Frage nicht ganz aus dem Kopf, und an den Stellen, wo Forrester von den Banlieues spricht, die früher oder später Aufruhr und sinnlose Gewalt erleben würden, oder vom langsamen Einsickern des Neoliberalismus in die Gehirne, von der immer breiteren Einwurzelung einer auf Finanzspekulation ausgerichteten, computergesteuerten, weltweit vernetzten Wirtschaft, von der Ökonomisierung und Monetarisierung noch der intimsten Lebensbereiche, von der Vernichtung einer großen Zahl von Arbeitsplätzen durch Automatisierung und Roboterisierung (wobei eine alles in allem geringere Zahl von meist prekären neuen Arbeitsplätzen geschaffen wird) – an all diesen und anderen Stellen konnte ich nicht umhin, mit dem Kopf zu nicken: Ja, so ist es, der Lauf der Dinge hat sich seitdem nicht geändert. Vielleicht rührt das wahre Aktuell-Sein ja unmittelbar an die Zeitlosigkeit; bescheidener ausgedrückt: actualitas hieße Weitblick, Öffnung der Enge, Sinn für Zusammenhänge.
Dennoch, es war nicht seine Aktualität, die mich in das Buch hineinzog, sondern die Tatsache, daß ich mich in seiner Hauptfigur wiedererkannte: Der Überflüssige, der Parasit, das war ich. Ich in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als Forrester das Buch schrieb. Natürlich hatte ich schon damals gewußt, daß ich nicht der einzige in einer solchen Lage war, und doch spürte ich jenen berühmten Schlag auf das Haupt, als ich erkannte, daß ich, der Einzigartige, der diese Lage ja gleichfalls auf einzigartige Weise schriftlich festgehalten und reflektiert hatte, nicht der Einzige war, sondern einer von vielen, ja, sehr vielen. Forrester hatte schon damals den soziologischen Hintergrund zu meinen Erzählungen geliefert. Einiges davon war, wenngleich auf ganz andere Weise, mit anderer Haltung und anderer Sprache, in Houellebecqs Ausweitung der Kampfzone zu lesen, die ich 1997 übersetzte (ohne mir mehr als ein bescheidenes Zeilenhonorar zu erwarten). Das Original war in Frankreich 1994 erschienen. Ich weiß nicht, ob es Frau Forrester gelesen hatte; in Frankreich war es zu diesem Zeitpunkt nur in Insiderkreisen bekannt. In der Bibliographie am Ende von Der Terror der Ökonomie scheint der Titel nicht auf. Jedenfalls lesen sich ganze Passagen wie theoretische Verallgemeinerungen von Houellebecqs Roman, dessen Held zu den Depravierten und Parasiten zählt (ohne arbeitslos zu sein).
© Leopold Federmair
Ich muss den Kapitalismus und die Globalisierung ein Stück weit in Schutz nehmen: es sind de facto nicht alle, die von der Ökonomie betrogen werden, sondern nur ein gewisser Prozentsatz. Für die Gesamtheit der Gräuel ist die Ökonomie sowieso nicht allein-verantwortlich, dazu kommt der Schrecken der Natur und die Aggressivität des Menschen.
Ich habe auch sehr lange über diese merkwürdige Parallele zwischen Entwicklungspsychologie und Arbeitswelt nachgedacht. Die eigentlich existenzielle Dimension hat ja noch nicht einmal eine spezifische Anwaltschaft: jeder darf sich selbst den Beruf aussuchen, und jeder ist auf sich selbst zurück geworfen, wenn was schief geht.
Der Markt bewertet uns wiederholt neu, aktuell, und scheinbar meistens kleinlich und »egoistisch«, was exakt richtig ist, weil es der Nutzen der Anderen ist, der das Einkommen definiert. Und häufig ist der Nutzen gar nicht zu erkennen, weil er sehr subtilen sozialen Anforderungen genügt, zum Beispiel der politisch korrekten Orientierung beim Lehrpersonal, die sich bei Karrieren auszahlt...
Ich weiß von zwei Entwicklungsparadoxa, die uns zu schaffen machen: die Entfaltung persönlicher Fähigkeiten, basierend auf Anlagen und Interessen; und der Kompromiss mit den unmittelbaren Verwandten bzw. Wahlverwandten. Werde, der Du bist, aber lass Dich jeden Sonntag mal blicken, und tu’ nicht so von oben herab...
Man müsste also theoretisch darstellen, inwiefern die Ökonomie die persönliche Entwicklung verhindert, was sie zweifellos tut. Dazu ist aber auch ein Stück Realismus notwendig, weil die Begabten unter den Depravierten nicht häufiger sind als unter den Erfolgreichen. Allerdings ist die Vita der »Parasiten wider Willen« interessanter, weil sie mehr Potenzial hatten, und rückblickend betrachtet auch viel drastischer betrogen worden sind. Von wem?! Ich würde sagen, vom Schicksal, obwohl das natürlich nichts bedeutet...
Das Paradoxon liegt darin, dass es gerade die Ökonomie, d. h. der real existierende Kapitalismus ist, der in den letzten Jahrzehnten Millionen aus Armut herausgebracht hat (ich meine dabei nicht Houellebecq oder Frau Forrester). Das »Gräuel« ist ein entwicklungsgeschichtliches Urteil; die Masse der Menschen wird diese erst noch kennenlernen.
Ich mache es ungern, aber sage es trotzdem: in den weiteren Folgen werden wir auf ausreichenden Diskussionsstoff um die »Gräuel« stoßen. Freue mich schon darauf.
Aus der Armut geholt: Ja, aber das hat auch der real existierende Sozialismus getan, und er hat ausgiebig damit angegeben: Bei uns gibt es keinen Hunger, Brot kostet fast nichts, jeder hat Arbeit und ein Dach überm Kopf... Das Leben in diesem Sozialismus oder Kommunismus war auf andere Art ein Gräuel. Zuerst im buchstäblichsten Sinn, dann durch Überwachung, Kontrolle, Einschließung. Ich denke, es ist eher die generelle technisch-ökonomische Entwicklung, die die Armut beseitigt hat. Warum das in Afrika nicht recht klappt, wäre eine knifflige Frage, zu der ich leider nicht viel beitragen kann. Kolonialismus ist sicher nicht allein schuld (da nehme ich eine private Bemerkung Gregors auf).
Welcher »real existierende« Sozialismus ist gemeint? Der von Kuba? Oder China (der Millionen Tote in Hungersnöten gefordert hat)? Der Sowjetunion (unter Stalin ebenfalls Millionen Hungertote; von den politischen gar nicht zu reden)?
Die afrikanischen Staaten sind noch vergleichsweise jung. Sie bilden allzu oft keine Identität, da ihre Grenzen willkürlich gezogen sind. Zudem kommen klimatische Nachteile. Den Rest erledigen korrupte Herrscher.
Ich meinte den osteuropäischen Kommunismus. China natürlich auch nicht besser (»Kulturrevolution« etc.). Kuba hatte und hat dieselben Defekte wie etwa die Sowjetunion, extreme Grausamkeiten gab es aber wenig. Warum bloß, die großen kulturellen Leistungen sind dort nie abgerissen. Ich würde eher sagen: Trotz Kommunismus.
Ich vermute, die Polen, Tschechen oder Rumänen trauern ihren Herrschern nicht besonders nach. Wenngleich es tatsächlich in einigen Ländern tatsächlich so etwas wie Revival für kommunistisch inspirierte Parteien gibt.
Zeitgleich dazu hat der (in Teilen staatlich gelenkte) Kapitalismus in China Millionen Menschen in eine wohlhabende Mittelschicht geführt. (Dass aus China keine Demokratie geworden ist, stört die Ökonomie nicht. Dieser Lernprozess hält im Westen noch an: Bisher war man der irrigen Meinung Demokratie und Marktwirtschaft seien Bedingung. Das muss sich allerdings erst noch beweisen; bisher sieht es nicht so aus.)
Das vermute ich auch (Osteuropa, inkl. Ostdeutschland). Was China betrifft: Ich beziehe mich auf die Epoche, in der die KP ernsthaft eine kommunistische Wirtschaft und Gesellschaft aufzubauen versuchte. Davon ist man abgegangen. Was bleibt, sind eine mehr oder weniger kommunistische Ideologie und eine Einparteiendiktatur, gepaart mit einem kapitalistischen Wirtschaftssystem. In der Zeit der Herrschaft Mao Zedongs und seiner Getreuen starben ‑zig Millionen an Hunger (»Großer Sprung nach vorne«) und Tausende wurden aus politischen Gründen oder auch nur infolge von Denunziation in Arbeitslager gesteckt oder getötet. Das sollten wir genausowenig vergessen wie die Opfer der Stalin-Diktatur. Das 20. Jahrhundert war nicht nur wegen der Kriege grauenhaft. Alles in allem halten wir uns im 21. Jh. noch vergleichsweise gut.