Gun­dolf S. Frey­er­muth: Wer war WM?

Gundolf S. Freyermuth: Wer war WM?

Gun­dolf S. Frey­er­muth: Wer war WM?

Als ich dem ei­nen oder der an­de­ren auf Nach­fra­ge er­zähl­te, was ich ge­ra­de le­se, ka­men fra­gen­de Blicke zu­rück. Wolf­gang Men­ge? Das Co­ver­bild – der mar­kan­te und gut­ge­klei­de­te Mann mit Glat­ze und Pfei­fe – half nicht im­mer. Die Ret­tung nah­te bei der Er­wäh­nung, dass Men­ge der Schöp­fer von »Ekel Al­fred«, der Haupt­fi­gur aus Ein Herz und ei­ne See­le, war. Den kann­ten sie, weil min­de­stens ei­ne Fol­ge – die vom Sil­ve­ster­punsch – in jähr­li­cher Re­gel­mä­ssig­keit wie­der­holt wird. Bei Smog und Mil­lio­nen­spiel wuss­ten die mei­sten auch nicht mehr wei­ter.

Nun al­so ei­ne Bio­gra­phie von Wolf­gang Men­ge, fast ein biss­chen ver­spä­tet zum 100. Ge­burts­tag. Viel­leicht liegt es am Ver­fas­ser Gun­dolf S. Frey­er­muth, Jour­na­list, Au­tor und Pro­fes­sor u. a. an der In­ter­na­tio­na­len Film­schu­le Köln, der von Men­ge ein­mal als un­pünkt­li­cher Zeit­ge­nos­se cha­rak­te­ri­siert wor­den sein soll, was der Freund­schaft der bei­den nicht im We­ge stand. Die bei­den lern­ten sich erst 1987 ken­nen. Men­ge war da 63, Frey­er­muth 32. Ir­gend­wie fin­den sie ei­nen Draht. Der jun­ge Au­tor, der u. a. für den Stern schreibt und lan­ge in den USA ge­lebt hat, kann Men­ge über­zeu­gen, sein Com­pu­te­r­e­quip­ment auf Mac­in­tosh um­zu­stel­len. Das war, wie sich spä­ter her­aus­stell­te, be­mer­kens­wert, denn Men­ge war nor­ma­ler­wei­se schwer zu über­zeu­gen.

Der Ti­tel ist mit Wer war WM? in­ter­es­sant ge­wählt. Frey­er­muth schreibt in den fast 500 Sei­ten, die ge­le­gent­lich von Bil­dern auf­ge­lockert wer­den, im­mer dann von »WM«, wenn es um all­ge­mein bio­gra­phi­sche und/oder werk­ge­ne­ti­sche Din­ge geht und wech­selt zum »Wolf­gang«, wenn es per­sön­lich wird. Die­se Me­tho­de er­weist sich als Glücks­griff, weil der Le­ser so­fort weiß, wer da ge­ra­de schreibt – der Freund oder der Bio­graph (wo­bei das ei­ne nicht das an­de­re aus­schlie­ßen muss).

Kei­ne Er­in­ne­rung

Wolf­gang Men­ge wur­de 1924 in Ber­lin ge­bo­ren. Der Va­ter Ot­to Men­ge war Kauf­mann, die Mut­ter Gol­ditza kam aus Bul­ga­ri­en (aus dem glei­chen Dorf, in dem Eli­as Ca­net­ti ge­bo­ren wur­de) und lern­te auf Dienst­rei­se (sie war Be­am­tin) Ot­to ken­nen. Sie hei­ra­te­ten und zo­gen zu­sam­men mit ih­rem be­hin­der­ten zwei­ten Sohn Wer­ner, der 1935 starb, mehr­fach um, be­vor sie schließ­lich in Ham­burg lan­de­ten. Wolf­gang ist ein schlech­ter Schü­ler, mit 16 geht er in die Leh­re bei sei­nem Va­ter, der dem Sohn die Hit­ler­ju­gend ver­wei­gert. 1941 geht es in den Reichs­ar­beits­dienst, da­nach mi­li­tä­ri­sche Grund­aus­bil­dung und 1943 nach Po­len.

Ne­ben den bio­gra­phi­schen Fak­ten de­stil­liert Frey­er­muth auch die An­ga­ben Men­ges aus zahl­lo­sen Ge­sprä­chen, die er mit ihm ge­führt hat­te. Men­ge hat­te ei­ne Ei­gen­schaft, die je­den Jour­na­li­sten zur Weiß­glut bringt: Er ver­wei­ger­te sich den Er­in­ne­run­gen, schiebt Ver­gess­lich­keit vor. Um dann, oft Jah­re spä­ter, eher ne­ben­bei, plötz­lich doch mit ei­nem De­tail her­aus­zu­rücken, was man nicht für mög­lich ge­hal­ten hät­te. Be­zo­gen auf den Krieg ist es vor al­lem die Tat­sa­che, dass der jun­ge »De­ser­teur« Men­ge ir­gend­wann 1945 ei­nen her­an­stür­men­den SS-Mann aus näch­ster Nä­he er­schos­sen hat­te, um sei­ne Flucht fort­set­zen zu kön­nen.

1946 wird Men­ge beim Schwarz­han­del er­wischt, muss für sie­ben Mo­na­te ins Ge­fäng­nis, wird aber vor­zei­tig un­ter Auf­la­gen ent­las­sen. Er ver­sucht ei­ne Aus­bil­dung zum Fo­to­re­por­ter, neigt aber eher zum Schrei­ben. Sei­ne Vor­bil­der sind der Ka­ba­ret­tist Wer­ner Fin­ck und der Ko­mi­ker Heinz Er­hardt. Jour­na­li­sten­schu­len gab es nicht; Men­ge wird Zeit sei­nes Le­bens Au­to­di­dakt blei­ben, sich sel­ber Fer­tig­kei­ten bei­brin­gen. Er be­wirbt sich beim Vor­läu­fer der dpa mit Ge­dich­ten und wird ge­nom­men. Man war nicht wäh­le­risch. Als er nicht mehr zu­frie­den ist, kün­digt er und wech­selt nun ei­ni­ge Zeit »sei­ne Jobs so häu­fig wie sei­ne gro­ße Lie­ben«. 1947 wird er mit der Aus­zeich­nung »be­gab­te­ster Ham­bur­ger Nach­wuchs­jour­na­list« ein Sti­pen­di­um der bri­ti­schen Mi­li­tär­re­gie­rung be­kom­men und fährt nach Groß­bri­tan­ni­en. Hier lernt er die ho­he Schu­le des Jour­na­lis­mus ken­nen, wird zum Ver­fech­ter von Staats­fer­ne, Ob­jek­ti­vi­tät und Fak­ten­treue, von nun an den Mei­nungs­jour­na­lis­mus ver­ach­ten und auf Re­cher­che set­zen. Spä­ter sag­te er ein­mal, dass es kein Nach­teil sei, wenn ein Jour­na­list von ei­nem The­ma nichts ver­stün­de – es wä­re so­gar vor­teil­haft, weil er dann vor­ur­teils­frei an die Re­cher­che ge­hen kön­ne.

Lost in Ja­pan

Im No­vem­ber 1948 wird er des Lan­des ver­wie­sen. Über die Grün­de schwieg er sich aus bzw. er­zähl­te, dass er sie nicht wis­se. Erst 1960 wur­de das Ein­rei­se­ver­bot auf­ge­ho­ben. Sei­ne »Bri­tish­ness« wird blei­ben, so­wohl was die Ar­beit als auch Klei­dung und Ha­bi­tus an­geht. Men­ge hat­te sich ei­ne »neue Iden­ti­tät« ge­formt, fängt beim Ham­bur­ger Abend­blatt an (da­mals Sprin­ger-Kon­zern) und schreibt »Tat­sa­chen­be­rich­te«, die man heu­te et­was ver­ein­facht Re­por­ta­gen nen­nen wür­de. Nach ei­nem Streit kün­digt er, schreibt für die Zeit und wird »fe­ster Frei­er« für den Rund­funk­sen­der NWDR mit ei­ner wö­chent­li­chen Ka­ba­retts­en­dung, die er mit ei­ni­gen Un­ter­bre­chun­gen fast zwan­zig Jah­re mit Glos­sen und Sa­ti­ren füt­tern wird. Er schreibt jetzt für die B. Z., spä­ter für die Welt, für die er 1955 nach Ja­pan geht, wo­bei es vor al­lem Men­ges Ent­schluss war, Deutsch­land zu ver­las­sen.

Of­fi­zi­ell ist Men­ge Asi­en­kor­re­spon­dent der Welt. Er lebt mit sei­nem Sport­wa­gen in To­kio und fin­det sich über­haupt nicht zu­recht. Die Stadt kommt ihm als ei­ne An­samm­lung von Dör­fern vor, in de­nen die Men­schen ne­ben- statt mit­ein­an­der le­ben. Ab­len­kung gibt es kaum, ein Nacht­le­ben ist in­exi­stent. Er kennt nie­man­den. Sein Fix-Ge­halt ist ver­gli­chen mit den Le­bens­hal­tungs­ko­sten zu nied­rig. Sei­ne Tex­te wer­den sel­ten ge­druckt; die Kom­mu­ni­ka­ti­on mit der Hei­mat­re­dak­ti­on ist schwie­rig, der Post­weg lang. Er ist »fremd, ver­armt, ver­ges­sen, ver­einsamt«. Men­ge droht, de­pres­siv zu wer­den, nimmt »eng­li­sche Ta­blet­ten«. Der Jour­na­list Will Trem­per, der viel er­folg­rei­cher ist als Men­ge, ver­spricht stän­dig, nach To­kio zu kom­men, was Men­ge noch hält. Frey­er­muth be­schreibt die­ses merk­wür­di­ge War­ten auf ei­nen ima­gi­nä­ren Go­dot fast ein biss­chen zu aus­führ­lich.

Men­ge reist in das vom Krieg zer­stör­te Ko­rea und be­rich­tet dar­über. Dann be­sucht er Hong­kong. Hier, in der bri­ti­schen Kron­ko­lo­nie, die wirt­schaft­lich brummt, welt­of­fe­ner ist als To­kio und sich dra­stisch von der Ar­mut Rot­chi­nas un­ter­schei­det, will er woh­nen. Nach ei­nem Jahr To­kio kommt er im Ja­nu­ar 1956 in Hong­kong an, sein »Pa­ra­dies«. Bin­nen we­ni­ger Ta­ge fin­det er An­schluss, ei­ne deutsch­spra­chi­ge Ge­mein­de und er­wirbt ein Se­gel­boot.

Aber Die Welt ver­än­dert die Blatt­li­nie. Axel Sprin­ger möch­te nicht, dass schlecht über das kom­mu­ni­sti­sche Chi­na ge­schrie­ben wird. Er hat Plä­ne, die deut­sche Wie­der­ver­ei­ni­gung mit der So­wjet­uni­on ein­zu­fä­deln und ist da­für be­reit, jour­na­li­sti­sche Grund­re­geln über Bord zu wer­fen. Men­ge macht da nicht mit, es gibt Streit. Er kommt mit der Trans­si­bi­ri­schen Ei­sen­bahn, die kurz zu­vor erst ein­ge­weiht wur­de, nach Deutsch­land zu­rück, schreibt dar­über ei­ne lan­ge Re­por­ta­ge und gibt den Ta­ges­jour­na­lis­mus auf.

Se­mi­do­ku­men­ta­ri­sches

1958 be­ginnt er Dreh­bü­cher zu schrei­ben, die sich an rea­len Ver­bre­chen ori­en­tie­ren. Er re­cher­chiert vor Ort. In den Fil­men wer­den die rea­len Schau­plät­ze, die Po­li­zi­sten und Zeu­gen ein­ge­bun­den. Die Re­gie über­nimmt ein Freund von ihm, Jür­gen Ro­land. Die Rei­he heißt Stahl­netz und lehnt sich an ein ame­ri­ka­ni­sches Vor­bild an. Men­ge und Ro­land ge­stal­ten das, was man heu­te Crime-Do­ku nennt, er­gänzt mit Spiel­sze­nen, die eben­falls mög­lichst na­he an der Rea­li­tät sind. Stahl­netz ist ein Rie­sen­er­folg, das, was man da­mals in Er­man­ge­lung von Auf­zeich­nungs­me­di­en, »Stra­ßen­fe­ger« nann­te. Über vier Stahl­netz-Fäl­le schreibt Wolf­gang Men­ge zu­dem noch je ei­nen Ro­man. Die Dreh­bü­cher, die Form der Be­hand­lung von Kri­mi­nal­fäl­len, die Mi­schung aus Do­ku­men­ta­ti­on und Spiel – all das ist in Deutsch­land sin­gu­lär. Frey­er­muth er­klärt die­se Mi­schung aus Neo­rea­lis­mus und ame­ri­ka­ni­schem Film Noir sehr an­schau­lich.

Men­ge und Ro­land rei­ten die Kri­mi-Wel­le wei­ter und ver­fil­men zwei Ro­ma­ne von Ed­gar Wal­lace. Die Wal­lace-Ro­ma­ne moch­te Men­ge nicht und würz­te die Dreh­bü­cher mit Iro­nie und ei­ner Ima­gi­na­ti­on ei­nes an­glo-ger­ma­ni­schen Kul­tur­raums. Als Sün­den­fall be­trach­te­te er sein Dreh­buch von Straf­ba­tail­lon 999 nach der Vor­la­ge von Heinz G. Kon­sa­lik.

Men­ge kehr­te zu sei­ner se­mi­do­ku­men­ta­ri­schen Form zu­rück und dreht Po­li­zei­re­vier Da­vids­wa­che. Der Film war ein vol­ler Er­folg, aber es kam zum Krach mit Jür­gen Ro­land. Men­ge sah sich von Ro­land nicht ge­nug ge­schätzt. Mit­te der 1960er Jah­re wag­te er wie­der Neu­es und schrieb in kur­zer Zeit zwei Thea­ter­stücke, die spä­ter für das Fern­se­hen ver­filmt wur­den. Er setz­te sich in ei­nem Stück hu­mor­voll mit der deut­schen Tei­lung aus­ein­an­der; ei­ne Be­schäf­ti­gung, die sich durch sein gan­zes Werk wie ein ro­ter Fa­den zieht. Im öf­fent­lich-recht­li­chen Fern­se­hen be­gin­nen die Ex­pe­ri­men­tier­jah­re. Mit Prot­ago­ni­sten wie Gün­ter Rohr­bach, Pe­ter Mär­the­s­hei­mer, Gun­ther Wit­te, Horst Kö­nig­stein und Rein­hart Mül­ler-Frei­en­fels ge­lingt ein »Auf­bruchs­fern­se­hen« mit neu­en Spiel- und Film­for­men. Men­ge woll­te »Ak­tua­li­tät und Re­le­vanz« in die Dreh­bü­cher brin­gen. Wich­tig wa­ren ihm da­bei Tat­sa­chen­treue und Wirk­lich­keits­nä­he.

Er in­sze­niert Fern­seh­spie­le als Si­mu­la­ti­on von Au­then­ti­zi­tät, in der Ent­wick­lun­gen in die Zu­kunft fort­ge­schrie­ben wer­den (»pro­gno­sti­sches Er­zäh­len«). Da­bei kommt ihm sein jour­na­li­sti­sches Schrei­ben zu Gu­te. Die be­rühm­te­sten Fil­me die­ser Epo­che sind Das Mil­lio­nen­spiel (1970) und Smog (1973). Bei­de könn­ten beim zu­fäl­li­gen Ein­schal­ten als Be­stand­tei­le des re­gu­lä­ren Pro­gramms auf­ge­fasst wer­den. Im Mil­lio­nen­spiel muss ein Kan­di­dat für ein Preis­geld von ei­ner Mil­li­on DM den Nach­stel­lun­gen sei­ner Geg­ner trot­zen, die ihn so­gar er­schie­ßen dür­fen. Das Stück ist ei­ne »Kri­tik des Fern­se­hens im Fern­se­hen und mit den Mit­teln des Fern­se­hens«. Smog the­ma­ti­siert die Hilf­lo­sig­keit der Po­li­tik ge­gen­über men­schen­ge­mach­ten Um­welt­ka­ta­stro­phen vor Au­gen führt. Re­gie führt hier üb­ri­gens der da­mals na­he­zu un­be­kann­te Wolf­gang Pe­ter­sen. Die Spiel­show ist ein Aus­blick auf das, was (in ab­ge­schwäch­ter Form) durch das Pri­vat­fern­se­hen droh­te (Men­ge kann­te aus an­de­ren Län­dern sol­che In­sti­tu­tio­nen). Smog ist schein­bar in der Zu­kunft an­ge­sie­delt, wird in den 1970er Jah­ren ins­be­son­de­re in Re­gio­nen des Ruhr­ge­biets zur Rea­li­tät. Frey­er­muth sieht in Smog ei­nen Vor­läu­fer zum So­zi­al­rea­lis­mus à la Lin­den­stra­ße, die 1985 be­gann.

»Li­veness«

Ir­gend­wann will Men­ge mehr »Li­veness«, ist es leid, »Kon­ser­ven« zu pro­du­zie­ren. Hin­ter­grund ist, dass die ad­mi­ni­stra­ti­ven We­ge in den Sen­dern im­mer län­ger wer­den. Man­ches ist, wenn es ge­sen­det wird, nicht mehr im Ak­tua­li­täts­kor­ri­dor oder so­gar ver­al­tet. Das wird im Lau­fe der Jahr­zehn­te noch zu­neh­men. Men­ge be­dien­te sich am For­mat der »Sit­com«, si­tua­ti­ons­ko­mi­scher, meist dia­lo­gi­scher Fern­seh­spie­le, mit häu­fig nur un­ge­fäh­rem Dreh­buch, im­pro­vi­siert und vor al­lem live, vor Pu­bli­kum. Er ent­wickel­te aus der BBC Rei­he Till De­ath Us Do Part von John­ny Speight Ein Herz und ei­ne See­le. So­gar die Vor­na­men des Ori­gi­nals kann er über­neh­men. Die Sen­dun­gen wer­den am Tag der Aus­strah­lung kurz vor­her auf­ge­zeich­net, sind al­so »fast« live.

Ein Herz und ei­ne See­le star­tet 1973 in schwarz-weiß im Drit­ten Pro­gramm des WDR. Nach elf Fol­gen wech­selt man in die ARD und in Far­be. Fünf Fol­gen, die im WDR in schwarz-weiß aus­ge­strahlt wur­den, dreh­te man in Far­be für die ARD leicht ver­än­dert nach. Nach zehn Fol­gen im Haupt­pro­gramm ist im No­vem­ber 1974 Schluss. An­dert­halb Jah­re spä­ter wur­den noch ein­mal vier Fol­gen ge­zeigt, die aber we­ni­ger Auf­merk­sam­keit auf sich zo­gen. Wo­mög­lich lag es dar­an, dass zwei der vier Prot­ago­ni­sten durch an­de­re Schau­spie­ler dar­ge­stellt wur­den.

Der Ti­tel ist zy­nisch, denn Har­mo­nie gibt es sel­ten. Haupt­fi­gur ist ein ge­wis­ser Al­fred Tetzlaff, ein klein­bür­ger­li­cher An­ge­stell­ter mit zu­tiefst re­ak­tio­nä­rem, teil­wei­se fa­schi­sto­idem Welt­bild, der aus sei­nem Her­zen kei­ne Mör­der­gru­be macht. Er ver­flucht und de­nun­ziert die so­zi­al­li­be­ra­le Re­gie­rung un­ter Wil­ly Brandt (spä­ter Hel­mut Schmidt) und nennt min­de­stens ein­mal pro Sen­dung sei­ne leicht nai­ve Frau El­se »dus­se­li­ge Kuh«. Die Toch­ter der bei­den lebt mit ih­rem Ehe­mann im glei­chen Haus bzw. in der glei­chen Woh­nung. Der Schwie­ger­sohn ist be­ken­nen­der So­zi­al­de­mo­krat. Die Fa­mi­lie ist ei­ne Vor­höl­le; Kon­flik­te sind vor­pro­gram­miert.

Die Ve­he­menz von Al­freds In­vek­ti­ven kommt nicht über­all gut an. Ist er »ab­schrecken­des Bei­spiel« oder po­pu­lä­res »Sprach­rohr ver­dräng­ter Vor­ur­tei­le und Nei­gun­gen« der Deut­schen? Ist Al­fred gar ein Wie­der­gän­ger Hit­lers? Frey­er­muth be­rich­tet, dass selbst Brandt, der ein­mal bei Men­ge in des­sen Haus auf Sylt zu Gast war, ir­gend­wann be­lei­digt ge­we­sen sei. Vom Ge­rücht, dass die SPD Ein­fluss auf den Sen­der neh­men woll­te, fin­det sich im Buch nichts. Men­ge sah sich nach Kri­tik auch aus aus­län­di­schen Me­di­en ge­nö­tigt, sei­ne Kunst­fi­gur zu er­klä­ren: »Er ist ei­ne Zu­sam­men­fas­sung so ziem­lich al­ler psy­cho­lo­gi­scher De­for­ma­tio­nen, die in un­se­rer Ge­sell­schaft an­zu­tref­fen sind. Ins­ge­samt bleibt er ein Mon­strum… […] Aber durch Al­fred wird vie­len Zu­schau­ern klar, wie sehr sie sich ha­ben an­stren­gen müs­sen, um nicht so zu sein wie Al­fred. Sie wer­den an ih­re ei­ge­nen zi­vi­li­sa­to­ri­schen und kul­tu­rel­len Mü­hen er­in­nert. Dar­über freu­en sie sich dann zu Recht. Das be­deu­tet aber auch, dass wir un­se­re ei­ge­nen Vor­ur­tei­le mit de­nen von Al­fred ver­glei­chen kön­nen. Es sind in der Re­gel Pro­ble­me, die wir ir­gend­wann ein­mal selbst hat­ten, aber schließ­lich ra­tio­na­li­siert oder ein­fach ver­drängt ha­ben. Durch Al­fred tau­chen sie wie­der auf, und wir müs­sen uns mit ih­nen be­schäf­ti­gen.«

Halb scheint Frey­er­muth amü­siert, halb ver­är­gert dar­über, dass bei Wie­der­ho­lun­gen der Fol­gen heu­te ein Dis­clai­mer vor­an­ge­stellt wird, der auf even­tu­ell dis­kri­mi­nie­ren­de Be­stand­tei­le hin­weist. Men­ge woll­te auf­klä­ren, da­bei aber nicht mit er­ho­be­nem Zei­ge­fin­ger be­leh­ren. Die Re­fle­xi­on muss beim Zu­schau­er ein­set­zen. Es ist ei­ne Va­ri­an­te des­sen, was die Grie­chen in Be­zug auf die Tra­gö­die »Ka­thar­sis« nann­ten, ei­ne Rei­ni­gung von ver­steck­ten, in­ne­ren Kon­flik­ten. Da­mals wur­de dies kon­tro­vers dis­ku­tiert, heu­te wä­re es un­mög­lich.

Ein Herz und ei­ne See­le war ein öko­no­mi­scher Er­folg für Wolf­gang Men­ge, der schon sehr lan­ge sehr gut ver­dien­te (der Au­tor nennt Zah­len). Jetzt konn­te er, so Frey­er­muth, von den Tan­tie­men der Wie­der­ho­lun­gen le­ben. Aber dar­um ging es Men­ge nicht. Er be­gann, sich vor die Ka­me­ra zu stel­len. Ein neu­es For­mat, aus den USA und Groß­bri­tan­ni­en nach Deutsch­land ge­kom­men, er­ober­te das Fern­se­hen: Die Talk­show. Am 19.11.1974 um 21.55 Uhr star­te­te im Drit­ten Pro­gramm von Ra­dio Bre­men III nach 9. Die »III« wa­ren zu­nächst Gert von Pac­zen­sky, Ma­ri­an­ne Koch und Wolf­gang Men­ge. Sie spra­chen zwang­los mit Gä­sten aus Po­li­tik, Ge­sell­schaft und Kul­tur und dies über die ta­ges­ak­tu­el­le Agen­da hin­aus. Ein »mo­der­ner Sa­lon« mit Streit­kul­tur. Das war neu. Die Sen­dung war im­pro­vi­siert, man blen­de­te sich in lau­fen­de Ge­sprä­che ein und nach ei­ner ge­wis­sen Zeit auch schon ein­mal oh­ne An­ga­be von Grün­den aus.

Von Würst­chen und in­tel­lek­tu­el­ler Selbst­ver­zwer­gung

Men­ge trat da­mals erst­ma­lig der­art öf­fent­lich auf. Er wirk­te bis­wei­len gran­tig, bis zur Un­höf­lich­keit. Den­noch mag man sich heu­te kaum vor­stel­len, wie an­zie­hend die­se Sen­dung war. Bis­wei­len konn­te ich sie auch se­hen, und zwar im­mer dann, wenn sie vom Drit­ten Pro­gramm des WDR über­nom­men wur­de, was nicht im­mer der Fall war. Mir ist vor al­lem in Er­in­ne­rung, dass Men­ge häu­fig eher hilf­los wirk­te, ver­such­te, mög­lichst of­fe­ne Fra­gen zu stel­len, um die Leu­te zum Re­den zu brin­gen. Das kann man im Ge­spräch oder bes­ser: Ge­sprächs­ver­such mit Ali­ce Schwar­zer von 1978 gut er­ken­nen. Den Zwi­schen­ruf ei­ner Zu­schaue­rin, die sich über die Fra­gen Men­ges be­schwer­te, kon­ter­te die­ser zwar schlag­fer­tig, aber in der Sa­che hat­te sie recht. Men­ge war häu­fig fah­rig, ins­be­son­de­re, wenn er nicht wei­ter­kam. Die Sou­ve­rä­ni­tät ei­nes Gert von Pac­zen­sky oder den schnei­dend-hu­mo­ri­gen Biss von Karl Heinz Wocker (der spä­ter da­zu­stieß) hat­te er nicht. War­um auch im­mer: 1982 feu­er­te Ra­dio Bre­men das Mo­de­ra­to­ren­team, wie es hieß, »be­grün­dungs­los«. Men­ge sag­te da­zu: »Wo die Würst­chen an die Macht kom­men, wird der Senf ra­tio­niert.« Er stürz­te sich so­fort in ein ähn­li­ches Pro­jekt mit dem Ti­tel Leu­te. Fe­der­füh­rend war der SFB. Gi­se­la Marx, die WDR-Jour­na­li­stin und Pro­du­zen­tin, die mit Men­ge im­mer wie­der Fern­seh­pro­duk­tio­nen un­ter­neh­men wird, war die an­de­re Fra­ge­rin. Spä­ter stieß El­ke Hei­der­eich da­zu; die drei wech­sel­ten sich ab. 1987, nach vier Jah­ren, kam es zu Span­nun­gen. Hei­den­reich woll­te kei­ne Sen­dung mehr mit Marx ma­chen, die, wie sie schrieb, die Gä­ste nicht be­fra­ge, son­dern wie vor ei­nem Tri­bu­nal ge­stellt be­han­de­le. Die An­ge­le­gen­heit es­ka­lier­te, Hei­den­reich stell­te ein Ul­ti­ma­tum, die Würst­chen knick­ten ein, Gi­se­la Marx wur­de ge­feu­ert und Wolf­gang Men­ge ging frei­wil­lig mit.

Men­ge hör­te auch wäh­rend sei­ner Talk­show-Zeit nicht auf, Fern­seh­spie­le und ‑fil­me zu schrei­ben. Im Früh­herbst 1989 be­gann er mit Bal­dur Blau­zahn ei­ne Sa­ti­re auf den deutsch-deut­schen Po­lit­be­trieb in Bonn zu schrei­ben, in dem er die ak­tu­el­len Pro­ble­me in die Zeit der Ger­ma­nen legt. Als die er­sten Fol­gen 1990 ge­zeigt wer­den, sind sie nicht mehr ak­tu­ell – die Mau­er war ge­fal­len. Die Rei­he läuft abends, prak­tisch un­ter Aus­schluss der Öf­fent­lich­keit im Drit­ten Pro­gramm des WDR. 1993 ver­such­te Men­ge in der Fi­gur des West-Ber­li­ner Früh­rent­ners Motz­ki, der mit sei­nen Schimpf­e­rei­en ge­gen Ost­deut­sche und die Wie­der­ver­ei­ni­gung ei­ne Art Re­vi­val von »Ekel Al­fred«. Wie be­reits bei Ein Herz und ei­ne See­le po­la­ri­sier­ten die Epi­so­den. Nach drei­zehn Fol­gen war Schluss.

Längst hat­te das Pri­vat­fern­se­hen Ein­zug ge­hal­ten und die öf­fent­lich-recht­li­chen An­stal­ten bie­der­ten sich an, in dem sie Ein­schalt­quo­ten als Le­gi­ti­ma­ti­on ein­führ­ten und in den »Wett­be­werb« mit den neu­en Sen­dern tra­ten. Das Mas­sen­pu­bli­kum zer­split­ter­te zu­se­hends. Hin­zu kam die Mög­lich­keit, Sen­dun­gen mit Vi­deo­re­kor­dern pri­vat auf­zu­zeich­nen. Der Nie­der­gang der öf­fent­lich-recht­li­chen Me­di­en be­gann Mit­te der 1990er Jah­ren. Er war, wie Frey­er­muth Men­ge zi­tiert, weit­ge­hend selbst­ge­macht: »In­tel­lek­tu­el­le und künst­le­ri­sche Selbst­ver­zwer­gung ge­paart mit bü­ro­kra­ti­scher Skl­ero­ti­sie­rung und er­dros­seln­der Kon­trol­le durch die Par­tei­en.«

In den Re­dak­tio­nen herr­sche Kon­for­mi­tät, ei­ne »Wol­ke der Feig­heit«, ein »Dunst­kreis von Rück­sicht­nah­men und Ängst­lich­kei­ten, von Zu­rück- und Aus­wei­chen, von Brem­sen und Um­krei­sen, von Ran­rob­ben und Weg­krie­chen, von Ver­schie­ben und Blockie­ren – ei­ne sub­al­ter­ne All­tags­welt, in der Schwei­gen und vor­aus­ei­len­der Ge­hor­sam zur Pflicht und Ei­er­tän­ze, Bück­lin­ge und ro­tie­ren­des Schwanz­we­deln zur Kür ge­hö­ren.« Men­ge echauf­fier­te sich schließ­lich über die »Macht­über­nah­me durch in­kom­pe­ten­te Di­let­tan­ten«, die sich an die Vor­lie­ben der Par­tei­en ori­en­tier­ten.

Es wird nicht ganz klar, wann es die­sen Wut­aus­bruch gab. Das Frap­pie­ren­de ist, dass das al­les heu­te mehr denn je Gül­tig­keit hat. In­no­va­tio­nen gibt es kaum noch, statt­des­sen end­lo­se, lieb­los hin­ge­schmier­te, geist­lo­se Kri­mi-Dreh­bü­cher, lang­at­mi­ge Quiz­shows oder Fern­seh­fil­me, die sich dar­in er­schöp­fen, be­stimm­ten Di­ver­si­täts­re­geln und po­li­ti­schen An­schau­un­gen zu ent­spre­chen. Und wer heu­te III nach 9 schaut, be­kommt ein un­er­träg­lich ba­na­les Pa­la­ver ei­ner ab­ge­ho­be­nen Bus­si-Bus­si-Ge­sell­schaft zu se­hen, dass bei Men­schen mit halb­wegs nor­ma­ler In­tel­li­genz zu­wei­len zu Fremd­schä­m­an­fäl­len füh­ren muss.

Fa­cet­ten­rei­che Dar­stel­lun­gen

Men­ge mach­te mit Schwie­rig­kei­ten noch ein paar Jah­re wei­ter, schrieb mit En­de der Un­schuld ei­nen her­aus­ra­gen­den se­mi­do­ku­men­ta­ri­schen Film über den Wett­lauf um die Atom­bom­be zwi­schen Na­zi-Deutsch­land und den USA, ver­such­te sich an ei­ner Kurz-Sit­com, the­ma­ti­sier­te in Spree­bo­gen sa­ti­risch den Um­zug der Re­gie­rung von Bonn nach Ber­lin. 1998 er­hielt er den Schil­ler-Preis, ob­wohl Men­ge zeit sei­nes Le­bens gei­stes­wis­sen­schaft­li­che At­ti­tü­den fremd, ja ver­hasst wa­ren. Als der WDR mit Scha­lom ei­ne Sit­com über das jü­di­sche Le­ben in Deutsch­land ab­lehn­te, hör­te Men­ge 2004 auf.

Gun­dolf S. Frey­er­muth hat ei­ne aus­führ­li­che, meist chro­no­lo­gi­sche Bio­gra­phie des »Te­le­vi­sio­närs« Wolf­gang Men­ge ge­schrie­ben. Von gro­ßen, in­ti­men Ent­hül­lun­gen aus dem Pri­vat­le­ben (Men­ge war auch nach sei­ner Hei­rat ge­le­gent­li­chen Lieb­schaf­ten nicht ab­ge­neigt), bleibt man ver­schont. Die Per­sön­lich­keit wird in ih­rem Fa­cet­ten­reich­tum und Wi­der­sprüch­lich­keit ge­zeich­net, aber nicht ver­klärt. Da ist der früh sehr gut ver­die­nen­de Au­tor mit Hang zu teu­ren Sport­wa­gen, der zu­gleich spar­sam bis zum Geiz war. Er war ein Tech­nik­fa­na­ti­ker und muss­te im­mer die neue­sten Er­run­gen­schaf­ten ha­ben. Wit­zig, wie in den 1990ern Men­ges Han­tie­ren mit ei­nem Dut­zend Fern­be­die­nun­gen für al­le mög­li­chen Vi­deo­re­kor­der und ‑ge­rä­te be­schrie­ben wird. Men­ge leb­te in Ber­lin, aber sei­ne Lie­be galt Sylt (al­ler­dings nicht dem Mas­sen­tou­ris­mus, der dort ir­gend­wann aus­brach). Dort war er häu­fi­ger als in Ber­lin, trat welt­män­nisch bis hoch­mü­tig auf, leg­te aber kei­nen Wert auf das Ur­teil an­de­rer. In der Ar­beit war er, wie es scheint, ein Ge­trie­be­ner, spru­delnd fast bis zum Schluss vor Ideen. Wie al­le Per­fek­tio­ni­sten trat er for­dernd und kom­pro­miss­los, zum Teil ver­letz­tend auf. Ei­ni­ge Ma­le di­stan­zier­te er sich von den nach sei­nen Bü­chern er­stan­de­nen Fil­men, weil sie, wie er mein­te, von Re­gis­seu­ren zer­stört wor­den sei­en. Wun­der­bar die Schil­de­run­gen und Brie­fe von Men­ges Frau Mar­lies, die vie­le Jah­re Jour­na­li­stin bei der Zeit war.

Ne­ben ei­ner aus­gie­bi­gen, zu­wei­len et­was klein­tei­li­gen Dar­stel­lung der Per­son gibt Wer war WM? ei­ne in­for­ma­ti­ve Skiz­ze über den deut­schen Nach­kriegs­jour­na­lis­mus und do­ku­men­tiert an­schau­lich die Ent­wick­lung der Hoch­zeit des ana­lo­gen Fern­se­hens in Deutsch­land, das am En­de nur aus knapp drei Jahr­zehn­ten be­stand und von »WM« stark mit­ge­prägt wur­de. Ein wei­te­rer Vor­teil des Bu­ches ist, dass ein se­li­ges Schwel­gen in »gu­te, al­te Zei­ten« ver­mie­den wird. Und den­noch: Ein biss­chen Weh­mut kommt schon auf.

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  1. Ei­ne tref­fen­de Re­zen­si­on ei­nes her­vor­ra­gen­den Bu­ches. Be­son­ders ge­fällt mir die gleich­zei­tig pro­fes­sio­nel­le und per­sön­li­che Her­an­ge­hens­wei­se von Gun­dolf Frey­er­muth, was den Text ge­halt­voll und un­ter­halt­sam macht. Ei­ne Hym­ne auf den Jour­na­lis­mus, mu­tig, un­be­stech­lich und un­par­tei­isch – und aus heu­ti­ger Sicht wich­ti­ger denn je.

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