Eine Verdichtung von Indizien, Zuständen und Befindlichkeiten, im Besonderen, aber nicht ausschließlich, der österreichischen, repräsentativen Demokratie, soll exemplarisch die Notwendigkeit ihres Umbaus aufzeigen und seine Richtung knapp skizzieren. Nicht mehr: Das Warum entscheidend, die konkreten Details können zu einem späteren Zeitpunkt folgen — zuerst muss nach Einigkeit gefragt werden*.
Jahr: 2012
Jenseits der Ökonomie
Die Reaktionen schwanken zwischen Unverständnis, Häme und einem weihevollem »Seht-wie-wichtig-das-doch-alles ist«: Die Europäische Union hat den Friedensnobelpreis 2012 bekommen. Am Rande interessant ist dabei, dass das Komitee in den letzten Jahren immer, wenn eine Organisation ausgezeichnet wurde auch eine Person, die untrennbar mit dieser Organisation in Verbindung stand, auszeichnete. Bei den Vereinten Nationen 2001 war das Kofi Annan, bei der Internationalen Atomenergiebehörde 2005 Mohammed al Baradei und 2006 wurde der Preis sowohl Muhammad Yunus als auch der Grameen-Bank zugesprochen. Bei der heutigen Auszeichnung blieb es bei der Institution. Wen hätte man auch als Person, als Identifikationsfigur auszeichnen können? Herrn Barroso? Herrn Van Rompuy? Auf eine fast komische Weise zeigt sich wieder einmal, dass Europa keine Telefonnummer hat, die man anrufen kann, wie dies schon vor langer Zeit Henry Kissinger (übrigens auch ein Friedensnobelpreisträger) beklagte.
Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage

In den Vorbemerkungen zu diesem Buch heißt es, dass es der Überredungskünste von Raimund Fellinger und Ulrich Raulff bedurft habe, um die zwölf tagebuchartigen »Hefte« von Peter Sloterdijk, die zwischen dem 8. Mai 2008 und dem 8. Mai 2011 (!) entstanden sind, zu veröffentlichen. Dieses gespreizte Understatement unterstützt Sloterdijk in dem er für einen kurzen Moment sogar von sich in der dritten Person spricht. Schließlich wurde dem Drängen nachgegeben, die Hefte 100 bis 111 wurden transkribiert und sicherlich auch lektoriert (alte Rechtschreibung!). Leider hat man dabei das Inhaltsverzeichnis vergessen, denn dort werden für Heft 105 und Heft 106 falsche Daten genannt; eine Petitesse zwar, aber ärgerlich.
Vorab sei gesagt: »Zeilen und Tage« ist kein Steinbruch, sondern ein weitverzweigtes, zuweilen labyrinthisch anmutendes Stollensystem mit vielen verschiedenen Ein- und Ausgängen und gelegentlichen Sackgassen. Mit der ersten Lektüre dieses Buches sollte der Leser seine eigene Kartographie dieses Konvoluts anfertigen um dann, je nach Zeit und Gelegenheit, die Goldpfannen zielgerichtet kreisen lassen zu können. So manches Körnchen wird bei der zweiten oder dritten Lektüre umso heller aufleuchten.
Da wird doziert, reflektiert, brüskiert, ironisiert, räsoniert, bramarbasiert und, vor allem, philosophiert.
Andreas Gursky in Düsseldorf
Es gibt nur ein kleines Heftchen, ein »Kurzführer« bzw. »Miniguide«, mit kurzen Angaben zu ausgesuchten Fotografien und allgemeinen Hinweisen (die man sehr gut nach der ersten Sichtung lesen kann). Ansonsten entfallen bei der gerade eröffneten Andreas Gursky-Ausstellung im Museum Kunstpalast in Düsseldorf die üblichen aufdringlichen Erklärungsversuche. Im Museumsladen findet man zwei katalogähnliche Bücher (der offizielle Katalog trägt den Titel »Bangkok«) aber keine Postkarten oder andere Devotionalien. Die Vorstellung des Künstlers in der Ausstellung fällt knapp aus; ohne Portraitbild und Hinweise auf die erzielten Preise der Original-Fotografien.
Derart unbeschwert geht oder schlendert der Besucher freien Blickes durch eine Ausstellung, die ihre 60 Exponate weder chronologisch noch motivisch geordnet hat. Nur am Rande ist dabei interessant, dass die Objekte in der Ausstellung ausschließlich »C‑Prints oder Pigmentausdrucke« (»Kurzführer«) sind, was das Museumspersonal nicht daran hindert, Zuschauer, die den Objekten zu nahe kommen, auf Distanz zu halten. Es ist dennoch ein wunderbares Herumsuchen und –finden, Zusammenstellen und Nach-Schauen und wenn man nach einer Stunde alles gesehen hat (bzw. glaubt, alles gesehen zu haben – bei Gursky kann man niemals »alles« gesehen haben), dann freut man sich nach einem Kaffee auf eine zweite Expedition in den Kosmos dieses Künstlers.
Karl Heinz Bohrer: Granatsplitter
Ein »neues Spiel« irgendwann 1939 oder 1940: Das Suchen, Finden und Sortieren von Granatsplittern. Das Bewundern der bizarren Farben und Formen, das Leuchtende. Und, im Gegensatz zu den geschliffenen Schmuckstücken der Mutter, das Rissige der scharfen Ränder. Der Junge ist sechs oder sieben Jahre alt und diese Granatsplitter erinnern ihn an die Muscheln, die man ...
Frank Brady: Endspiel

Figuren der Umwertung: Nietzsche und Genet (III)
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1963 schrieb Genet an seinen Verleger Marc Barbezat, Nietzsche habe Die Geburt der Tragödie in einem Zug geschrieben, ohne je in Griechenland gewesen zu sein. »In Korfu«, fuhr er fort, »habe ich alles von ihm gelesen. Was mir gefallen hat, die Ideen, die mir entsprechen: jenseits von Gut und Böse: der Übermensch. Natürlich nicht der von Hitler oder Göring. Lächerlich zu denken, der Besitz von Schlössern und Tausenden Hektar Land ermögliche es einem, wie ein Übermensch zu leben. Nietzsche forderte eine viel härtere Moral für den Übermenschen.« (LB 261) Auch an dieser Stelle bezieht sich Genet ausdrücklich auf eine positive Moral, die er bei Nietzsche zu finden meint (vermutlich hat er besonders die kurzen Skizzen eines neuen Barbarentums im Kopf). Die Porträts der Stilitano, Mignon, Harcamone und Konsorten sind handfeste Gestaltungen des Übermenschen, den sich Nietzsche alles in allem doch etwas eleganter vorstellte, »aus einem Holz geschnitzt, das hart, zart und wohlriechend zugleich ist.« (EH 267) Jüngers Arbeiter ist eine weitere Ausgestaltung dieses Typus; eine Gestalt, die freilich, vergleicht man sie mit Genets Helden, abstrakt bleibt und sich außerdem als verbindlicher Vorschlag an die Mehrheitsgesellschaft richtet. Handelt es sich bei diesen literarischen und ideologischen Schöpfungen um »Entstellungen« von Nietzsches Gedanken? Nein, sondern um unterschiedliche Realisierungen eines Modells, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Luft lag und von Nietzsche so elliptisch gezeichnet wurde, daß sehr verschiedene Realisierungen der Leerformen möglich waren. Auch der »Neue Mensch«, wie er Ernesto Guevara aufgrund seiner Guerrilla-Erfahrung vorschwebte, hat noch Teil an dieser Auslegungsgeschichte.
Der neue Dämonisierungsjournalismus
Man stelle sich vor: Ein prominenter, älterer Hollywood-Schauspieler (oder auch Schauspielerin) tritt bei einer Veranstaltung für Barack Obama auf, imaginiert sich Obamas Herausforderer auf einem leeren Stuhl und tritt in einen Pseudo-Dialog mit ihm, in dem er dessen Versprechungen und Handlungen lächerlich macht. Das wäre nicht besonders geschmackvoll gewesen, aber die Delegierten hätten es toll gefunden, hätten gejubelt. Und in den deutschen Medien hätte man den Schauspieler oder die Schauspielerin gelobt für den Kniff mit dem leeren Stuhl. Die Welt wäre in Ordnung, Gut und Böse wieder einmal eindeutig.