Karl Heinz Boh­rer: Gra­nat­split­ter

Karl Heinz Bohrer: Granatsplitter

Karl Heinz Boh­rer: Gra­nat­split­ter

Ein »neu­es Spiel« ir­gend­wann 1939 oder 1940: Das Su­chen, Fin­den und Sor­tie­ren von Gra­nat­split­tern. Das Be­wun­dern der bi­zar­ren Far­ben und For­men, das Leuch­ten­de. Und, im Ge­gen­satz zu den ge­schlif­fe­nen Schmuck­stücken der Mut­ter, das Ris­si­ge der schar­fen Rän­der. Der Jun­ge ist sechs oder sie­ben Jah­re alt und die­se Gra­nat­split­ter er­in­nern ihn an die Mu­scheln, die man bei ei­nem Ur­laub einst an der Kü­ste sam­mel­te. Er zu­sam­men mit ei­nem Jun­gen aus ei­ner eng­li­schen Fa­mi­lie. Die hat­te ei­ne Fah­ne mit ei­nem sehr schö­nen Mu­ster aus den Far­ben blau, rot und weiß, die zwei ge­kreuz­te Kreu­ze trenn­ten. Die Fah­ne hat­te ei­ne auf­re­gen­de Wir­kung auf ihn aus­ge­übt. Plötz­lich war die eng­li­sche Fa­mi­lie weg, der Krieg stün­de be­vor, so er­klä­ren die El­tern dem Jun­gen. Und jetzt wer­fen die eng­li­schen Flie­ger Bom­ben ab, aber der Klang des Wor­tes »Eng­land« ist im­mer noch schön.

Zeitschrift für Ideengeschichte - Heft VI/3 Herbst 2012

Zeit­schrift für Ideen­ge­schich­te – Heft VI/3 Herbst 2012

So be­ginnt Karl Heinz Boh­rers »Gra­nat­split­ter«, ei­ne »Er­zäh­lung ei­ner Ju­gend« wie es im Un­ter­ti­tel heißt. Sei­ne Kon­struk­ti­on ist ge­wagt: Der Er­zäh­ler wahrt »Di­stanz«, wie Boh­rer dies im Ge­spräch mit Ste­phan Schlak (Heft VI /3 Herbst 2012 der »Zeit­schrift für Ideen­ge­schich­te«) nennt. Die Haupt­fi­gur bleibt namen­los, wird durch­gän­gig als »der Jun­ge« be­zeichnet. Gleich­zei­tig weiß der Er­zäh­ler über die in­ne­re Ver­fasstheit des Jun­gen zu je­der Se­kun­de ge­nau Be­scheid. Am En­de der 315 Sei­ten er­läu­tert Boh­rer sein Ver­fahren in ei­nem Post­scrip­tum: »Der Er­zäh­ler sagt nicht das, was er über sei­nen Hel­den weiß, son­dern das, was sein Held selbst wis­sen und den­ken kann« und dies »je nach sei­nen Jah­ren«. Ei­ne selt­sa­me For­mu­lie­rung, mit der aus­ge­drückt wer­den soll, dass der Er­zäh­ler im Rah­men der er­zähl­ten Zeit des Jun­gen ver­blei­ben muss. Vor­weg­nah­men und ent­sprechende Ver­knüp­fun­gen in die Zu­kunft sind un­er­wünscht. Da­mit ver­sucht Boh­rer die Fest­le­gung des Bu­ches als Au­to­bio­gra­phie zu um­ge­hen: »Dies ist nicht Teil ei­ner Auto­biographie, son­dern Phan­ta­sie ei­ner Ju­gend.« Fast er­mah­nend wird der Le­ser dar­auf hinge­wiesen, sei­ne »Neugier…auch nicht durch ei­ne bio­gra­phi­sche Iden­ti­fi­zie­rung der üb­ri­gen Cha­rak­te­re und Schau­plät­ze« zu be­frie­di­gen, son­dern »aus­schließ­lich durch die Dar­stel­lung der At­mo­sphä­re und der Ge­dan­ken ei­ner ver­gan­ge­nen Zeit«.

Wei­ter­le­sen auf Glanz & Elend...

2 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Das ist ein In­tel­lek­tu­el­ler nach mei­nem Ge­schmack,

    mit groß­ar­ti­gen An­halts­punk­ten
    der Iro­nie bzw. Tra­gik des Schreck­li­chen. Er hat die Hän­de, um das Tra­gi­sche mit dem Äs­the­ti­schen und Po­li­ti­schen zu verbinden.und er hat die je­wei­li­gen Ge­sichts­punk­te Nietz­sches (Per­spek­ti­ve) zur frei­en Ver­füg­bar­keit.............................
    Ge­gen die po­li­ti­sche Kul­tur Deutsch­lands:.. und so wird man wie man ist.................................................................
    »über die West­deut­schen als neue Phö­ni­zi­er, ei­ne fett­pran­gen­de Händ­ler­na­ti­on, de­ren Ul­ti­ma ra­tio die öko­no­mi­sche ist, so we­nig her­um­kom­men wie um die Dia­gno­se des woh­li­gen Pro­vin­zia­lis­mus der Kohl, Blüm, La­fon­taine, der am lieb­sten so­wie­so al­les in ei­nem Eu­ro­pa oder ei­ner Mensch­heit auf­ge­hen las­se, von de­nen die Pro­vinz­ler­mei­nung an­neh­me, man wer­de dort er­war­tet«... . nach der elek­tro­nisch ver­fass­ten Zen­trie­rung zu­nächst Eu­ro­pas (in die Tech­nik in­fla­tio­nier­te „re­li­giö­se“ En­er­gie­en) bzw. Ha­ber­ma­si­s­ie­rung der Welt mit­tels der Rest­be­stän­de des Pla­to­nis­mus wie Chri­sten­tum, Is­lam und So­zia­lis­mus.
    In­so­fern wä­re Jo­na­than Mee­ses Dik­tum (Des näch­sten Re­gis­seurs in Bay­reuth (Par­siv­al)) sein Dik­tum »Der Mensch, der sein Le­ben der Men­schen-De­mo­kra­tie wid­met, ist der To­tal­hor­ror. Der Mensch, der am Ge­lin­gen der Welt­de­mo­kra­tie oder der Men­schen-Welt­re­gie­rung ar­bei­tet, ist die größ­te Dreck­sau al­ler Zei­ten«.
    Ei­nen Sonn­tags­spruch für die Aus­ge­gli­che­nen der Welt er­spa­re ich mir.!

  2. Sehr schö­ne Be­spre­chung; die kri­ti­sier­ten »Punk­te« wur­den gut her­aus­ge­ar­bei­tet. In die­sem Ge­spräch os­zil­liert Boh­rer (ich glau­be un­ab­sicht­lich) zwi­schen der Iden­ti­fi­ka­ti­on mit dem Ich-Er­zäh­ler und des­sen Fik­tio­na­li­tät.