Nahezu alle meine Facebook-»Freunde« aus Österreich, die sich dort politisch äußern, waren und sind fast naturgemäß gegen die Regierung Kurz gewesen. Die Freude war entsprechend groß als es nun hieß, es gibt Neuwahlen. Man bezieht natürlich Position: Gegen Kurz, noch mehr gegen die FPÖ, eher neutral zur SPÖ. So weit, so bekannt.
Ich habe keine Lust, die Facebook-Threads zu sprengen. Daher frage ich hier im Blog: Wie stellt Ihr Euch eigentlich eine neue Regierung nach den Neuwahlen vor? Vorsicht, denn die Frage ist ehrlich gemeint!
…sprach der Rechtsanwalt und ehemalige Bürgermeister von New York Rudolph Giuliani, um möglichen Diskussionen über die Frage, ob sein Mandant Donald Trump, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, bei einer möglichen Gerichtsverhandlung die Wahrheit sagen werde oder nicht, zuvorzukommen. Bei Gericht muß man schwören; man darf nichts als die Wahrheit sagen. Dieser Grundsatz ist in den Rechtsstaaten immer noch weithin akzeptiert. Eine Definition, was Wahrheit eigentlich sei, scheint nicht vonnöten. Hinterfragungen, zu denen meine Ausführungen über den Willen zum Nichtwissen anregen, sind in diesem Kontext nicht üblich und bringen den Beteiligten auch nichts, am wenigsten dem Angeklagten.
In den Massenmedien wurde Giulianos Spruch sogleich mit den »alternativen Fakten«, die Trump oder seine Untergebenen gelegentlich anbieten, in Zusammenhang gebracht. Freilich ist ein Fakt, eine Tatsache, etwas anderes als »die Wahrheit«. Wahrheit – oder ein Näherungswert an die hypothetische Wahrheit – stellt sich in der Regel durch Prüfung von Fakten her; nicht nur, aber auch durch Treue gegenüber den Fakten. Erzielte Wahrheitswerte in Bezug auf dieselbe Fragestellung können selbstverständlich voneinander abweichen. Die Perspektiven und Interessen sind unterschiedlich, vielleicht auch die einem konkreten Erkenntnisbemühen zugrundeliegenden ethischen Werte. Werden eine gemeinsame Bezugsebene und eine gemeinsame Spreche geleugnet, lassen sich solche Diskussionen allerdings gar nicht mehr führen. Was dann obsiegt, ist nicht das bessere Argument oder der klarere Blick auf die Tatsachen, sondern die Macht und das Eigeninteresse der Sprecher, ihre Lautstärke und die Fähigkeit, Massenmedien zu kontrollieren oder zu manipulieren.
Auf dem Weg zur Arbeit erhält ein Bekannter auf eine flapsige Bemerkung hin von einem Kollegen die Antwort, dass er in ein Genderseminar gehöre; die Bemerkung ist ernst gemeint und kommt von einem intelligenten Menschen. Einige Zeit später spricht der Bundespräsident der Republik Österreich, Alexander van der Bellen, vor Schülern zum Thema »Kopftuch«: Der Bundespräsident legt das Problem nicht etwa analytisch vor den Schülern dar, er moralisiert und vermeidet gerade diejenigen, die Urteil, Gründe und Begründung vielfach suchen, darin zu unterstützen und betrügt sie damit um die Komplexität und die mit dieser Thematik zusammenhängenden Fragen. Beide Haltungen haben mit den Grünen zu tun, einmal gehört sie zu einem ihrer Wähler, einmal zu einem ihrer bekanntesten Exponenten1.
Diese einleitenden Ausführungen sollen die Thesen aus Jan-Werner Müllers Buch »Was ist Populismus?« vorstellen. Dies soll so neutral wie möglich geschehen; wo dies nicht der Fall sein sollte und voreiliges Urteil hervorschimmert, bitte ich um Nachsicht.
Jan-Werner Müller: Was ist Populismus?
Inzwischen gibt es kaum noch eine Nachrichtensendung, die ohne den Begriff des »Populismus« aufkommt; meist in der Form als »Rechtspopulismus«, etwa wenn es um die österreichische FPÖ, den französischen Front National, die ungarische oder die polnische Regierung geht. Aber was ist eigentlich Populismus? Welche Folgen hat er, könnte er haben? Jan-Werner Müller, Lehrer für politische Theorie und Ideengeschichte in Princeton, möchte mit seinem Buch »Was ist Populismus?« abseits tagespolitische Aufgeregtheiten eine »kritische Theorie des Populismus« formulieren.
Bereits auf den ersten Seiten bilanziert er seine These: Populismus sei »der Tendenz nach zweifelsohne antidemokratisch«. Populisten gefährdeten die Grundprinzipien der repräsentativen Demokratie. Populismus sei »eine ganz bestimmte Politikvorstellung, laut der einem moralisch reinen, homogenen Volk stets unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gegenüberstehen«. Daher engagierten sich Populisten für plebiszitäre Elemente, aber, so die These, »Populisten interessieren sich gar nicht für die Partizipation der Bürger an sich; ihre Kritik gilt nicht dem Prinzip der politischen Repräsentation als solchem … sondern den amtierenden Repräsentanten, welche die Interessen des Volkes angeblich gar nicht vertreten.«
Es gibt laut Müller zwei essentielle Identifikationsmerkmale für Populismus, die ineinander greifen. Zum einen ist er antipluralistisch (nicht per se anti-institutionell). Und zum anderen nimmt er für sich und seine politischen Thesen die alleinige moralische Vertretung in Anspruch. Und so kommt es, dass, »wer sich ihnen [den Populisten] entgegenstellt und ihren moralischen Alleinvertretungsanspruch bestreitet«, »automatisch nicht zum wahren Volk« zugeschlagen und am Ende ausgegrenzt werde. Populisten sagen: »Wir – und nur wir – repräsentieren das Volk«, und das nicht als empirische, sondern als moralische Aussage.
Man muss Greg Grandins »Kissingers langer Schatten« wirklich bis zum Schluss, d. h. inklusive der Danksagung am Ende des Buches lesen. Denn hier finden sich nicht nur die üblichen Worte an Helfer, Lektoren, Freunde oder Familie sondern auch der Dank an den 2011 verstorbenen Christopher Hitchens. Zugleich emanzipiert sich Grandin von Hitchens Vorgehensweise in dessen Anklageschrift »Die Akte Kissinger« aus dem Jahr 2001. Hitchens »selbstgerechte Empörung« habe verhindert, die »Wirkungsmacht seiner [Kissingers] Ideen…zu erklären«. Er sei derart auf sein Studienobjekt fixiert gewesen, dass die »äußeren Bedingungen seines [Kissingers] politischen Handelns unreflektiert« geblieben wären. Dadurch sei ihm »Wesentliches entgangen«.
Grandins Kritik ist deshalb so bemerkenswert, weil man sie ebenso auf sein Buch anwenden kann. Obwohl er mehrfach einer Dämonisierung Kissingers das Wort redet, passiert genau dies. So, als würden die Fakten nicht ausreichen, flüchtet er sich in zuweilen abenteuerliche Kausalitäten und, was noch schlimmer ist, in Vermutungen. So wird berichtet, dass Kissinger den Krieg zwischen dem Irak und den Iran (»Erster Golfkrieg« von 1980 bis 1988) befürwortet, seinerzeit »die Iraker als ein Gegengewicht gegen den revolutionären Iran« gesehen und Unterstützung für Saddam Hussein vorgeschlagen habe. So weit, so gut. Als reiche dies nicht aus, bringt Grandin noch einen vermeintlichen Ausspruch Kissingers: »Schade, dass sie [Irak und Iran] nicht beide verlieren können«. Das Problem ist allerdings, dass es Kissinger gesagt haben soll, was zwar sowohl im Text als auch in einer Fußnote am Ende der Seite klargestellt wird: »Dieses Zitat ist nicht zweifelsfrei belegt«. Aber warum erscheint es dann überhaupt im Buch? Grandin benennt mit Raymond Tanter, einem ehemaligen Mitarbeiter des Nationalen Sicherheitsrats der USA, noch einen Kronzeugen, der gesagt haben soll, dass Kissinger im Oktober 1980, also rund vier Wochen nach Beginn des Krieges, dass die »Fortsetzung der Kämpfe zwischen Iran und Irak im Interesse Amerikas sei«. Eine Quelle für dieses Zitat fehlt dann allerdings.
Groß in Erscheinung getreten ist Hans-Jochen Vogel im Vergleich zu den damals »großen« Sozialdemokraten Brandt, Bahr oder Schmidt eher selten. Selbst als er Bundesjustizminister im »Deutschen Herbst« war. Nach Schmidts erzwungener Demission 1983 ließ er sich überreden, als Kanzlerkandidat zur Verfügung zu stehen. Selbst aus damaliger Sicht, als die Medien noch nicht derart hyperventilierten, erschien ...
Peer Steinbrück: Vertagte ZukunftDa sitzt er, der Mann der vor anderthalb Jahren Kanzler werden wollte. Auf einer Treppe, im Anzug, mit roter Krawatte. Für seine Verhältnisse lächelt er fast. »Vertagte Zukunft« steht über ihm, in passender Farbe zur Krawatte. Darunter »Die selbstzufriedene Republik«.
Peer Steinbrück hat ein neues Buch geschrieben. Wie pervers dieser Betrieb ist, kann man daran ablesen, dass er erwähnen muss, dass er es selber geschrieben hat. Seine Titelthese ist einfach: Der Wahlerfolg der Unions-Parteien 2013 (41,5%) geht darauf zurück, dass die Wähler das Bedürfnis nach Ruhe und vor allem politischer Kontinuität gewünscht hätten. Steinbrück bestätigt damit weitgehend die Aussage der Auguren, die Merkels Wahlkampfstrategie mit der von Konrad Adenauer 1957 verglichen hatten, der mit seinem Konterfei und »Keine Experimente« die absolute Mehrheit gewonnen hatte. Die Unionsparteien hätten diese Beschwichtigungsstrategie nicht zuletzt mit Hilfe der Medien erfolgreich umgesetzt. Jede Kritik an den Verhältnissen sei als Miesepeterei angesehen worden. Die Tendenz ging und geht, so Steinbrück, zur »konfliktscheuen Politik«.
Deutlich wird er, wenn es darum geht, dass die SPD sich fragen lassen müsse, warum sie die Wähler nicht habe mobilisieren und aufrütteln können. Die SPD unterschätzte das »Selbstbildnis der Republik«, so Steinbrück. Der Wunsch nach Kontinuität resultierte nicht zuletzt aus den reinen ökonomischen Zahlen. Sie sprachen für die amtierende Kanzlerin. Steinbrück sah sich zudem in der Falle, da er seinem Naturell entsprechend einige politische Entscheidungen von schwarz-gelb nicht kritisieren konnte, weil er ihnen eigentlich selber zustimmte. Dazu zählte der Abbau der Staatsneuverschuldung (»Schwarze Null«) genauso wie die diversen Rettungsschirme für notleidende Euro-Länder. Eine Gegenposition hierzu kam für Steinbrück und die SPD in beiden Fällen nicht infrage.
Perfekt hätten es die Unionsparteien verstanden, die Wähler für ihr »Notariat über die bürgerlich-konservative Interessenwahrung« zu mobilisieren. Der Spagat für die Opposition bestand darin, dass man das Land nicht schlechter reden wollte, als es in großen Teilen der Bevölkerung empfunden wurde. Die Parole nicht alles anders, aber einiges besser machen zu wollen, war bereits vergeben. Steinbrück suchte sich Themen. Diese zündeten jedoch nicht, was er uneingeschränkt eingestand.
Gelegentlich hilft es ja, sich dem Medienstream auszusetzen. So wurde ich auf eine Diskussion aufmerksam, in der es wieder einmal um die Ukraine, Russland und den Westen ging. Der Zuschnitt der Sendung war auf Krawall gebürstet, der auch schon früh eintrat. Der bisher nicht durch politische Analysen besonders hervorgetretene Börsenhändler Dirk Müller wurde als »Putinversteher« angekündigt und auch flugs von Eric Frey vom österreichischen »Standard« als solcher deklariert. Dieses Etikett ist nicht neu; es dient allen Denkfaulen dazu, lästige Ansichten mit einem Federstrich zu diskreditieren. Die Geschwindigkeit, mit der dieses Attribut aus dem rhetorischen Waffenarsenal gezogen wird, ist enorm. Es erinnert von Ferne an die Einwände der Rechtskonservativen und Vertriebenen in den 1970er Jahren, die mit ähnlichen Parolen die Politik des Ausgleichs der sozialliberalen Regierung mit den Ländern Osteuropas diffamierten. »Vaterlandsverräter« war noch das mildeste Attribut. Lediglich auf die Formulierung »Breschnew-Versteher« ist damals niemals gekommen, was gewisse Rückschlüsse auf das heutige Erregungsprekariat der sozialen Medien zulässt.
In der o. e. Diskussion spielte ein Buch eine Rolle, dessen Kenntnis offensichtlich allen Teilnehmern nicht gleichermaßen geläufig war. Es heißt im deutschen Titel »Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft« und ist von Zbigniew Brzezinski verfasst, dem Sicherheitsberater einiger (demokratisch dominierter) US-Regierungen (ob offiziell oder inoffiziell). Das Buch ist von 1997 und gilt offenbar als Geheimtipp. Bei Amazon ist das günstigste Angebot aktuell bei rund 190 Euro; für ein Taschenbuch ein stolzer Preis. Die Links auf die kostenlose Zurverfügungstellung setze ich jetzt nicht um mich nicht strafbar zu machen – aber mit ein bisschen Suchen kann sich jeder eine wenn auch schlecht formatierte Version als pdf herunterladen (ein findiger Kopf verkaufte für kurze Zeit den pdf-Ausdruck bei Amazon für 30 Euro).
Um es vorweg zu sagen: Diese Lektüre lohnt trotz des Zeitabstands. Man muss Zbigniew Brzezinskis Thesen in diesem Buch nicht teilen. Für Brzezinski ist Politik ein Schachspiel (der englische Titel ist entsprechend: »The Grand Chessboard«), in dem es vor allem darum geht, strategische Vorteile für die USA zu erringen um Machtansprüche zu erhalten oder auszubauen. Ins Zentrum seiner Betrachtungen steht »Eurasien« – der Raum von Lissabon bis Wladiwostok.