Greg Gran­din: Kis­sin­gers lan­ger Schat­ten

Greg Grandin: Kissingers langer Schatten

Greg Gran­din:
Kis­sin­gers lan­ger Schat­ten

Man muss Greg Gran­dins »Kis­sin­gers lan­ger Schat­ten« wirk­lich bis zum Schluss, d. h. in­klu­si­ve der Dank­sa­gung am En­de des Bu­ches le­sen. Denn hier fin­den sich nicht nur die üb­li­chen Wor­te an Hel­fer, Lek­to­ren, Freun­de oder Fa­mi­lie son­dern auch der Dank an den 2011 ver­storbenen Chri­sto­pher Hit­chens. Zu­gleich eman­zi­piert sich Gran­din von Hit­chens Vor­ge­hens­wei­se in des­sen An­kla­ge­schrift »Die Ak­te Kis­sin­ger« aus dem Jahr 2001. Hit­chens »selbst­ge­rech­te Em­pö­rung« ha­be ver­hin­dert, die »Wir­kungs­macht sei­ner [Kis­sin­gers] Ideen…zu er­klä­ren«. Er sei der­art auf sein Stu­di­en­ob­jekt fi­xiert ge­we­sen, dass die »äu­ße­ren Be­din­gun­gen sei­nes [Kis­sin­gers] po­li­ti­schen Han­delns un­re­flek­tiert« ge­blie­ben wä­ren. Da­durch sei ihm »We­sent­li­ches ent­gan­gen«.

Gran­dins Kri­tik ist des­halb so be­mer­kens­wert, weil man sie eben­so auf sein Buch an­wen­den kann. Ob­wohl er mehr­fach ei­ner Dä­mo­ni­sie­rung Kis­sin­gers das Wort re­det, pas­siert ge­nau dies. So, als wür­den die Fak­ten nicht aus­rei­chen, flüch­tet er sich in zu­wei­len aben­teu­er­li­che Kau­sa­li­tä­ten und, was noch schlim­mer ist, in Ver­mu­tun­gen. So wird be­rich­tet, dass Kis­sin­ger den Krieg zwi­schen dem Irak und den Iran (»Er­ster Golf­krieg« von 1980 bis 1988) be­für­wor­tet, sei­ner­zeit »die Ira­ker als ein Ge­gen­ge­wicht ge­gen den re­vo­lu­tio­nä­ren Iran« ge­se­hen und Un­ter­stüt­zung für Sad­dam Hus­sein vor­ge­schla­gen ha­be. So weit, so gut. Als rei­che dies nicht aus, bringt Gran­din noch ei­nen ver­meint­li­chen Aus­spruch Kis­sin­gers: »Scha­de, dass sie [Irak und Iran] nicht bei­de ver­lie­ren kön­nen«. Das Pro­blem ist al­ler­dings, dass es Kis­sin­ger ge­sagt ha­ben soll, was zwar so­wohl im Text als auch in ei­ner Fuß­no­te am En­de der Sei­te klar­ge­stellt wird: »Die­ses Zi­tat ist nicht zwei­fels­frei be­legt«. Aber war­um er­scheint es dann über­haupt im Buch? Gran­din be­nennt mit Ray­mond Tan­ter, ei­nem ehe­ma­li­gen Mit­ar­bei­ter des Na­tio­na­len Si­cher­heits­rats der USA, noch ei­nen Kron­zeu­gen, der ge­sagt ha­ben soll, dass Kis­sin­ger im Ok­to­ber 1980, al­so rund vier Wo­chen nach Be­ginn des Krie­ges, dass die »Fort­set­zung der Kämp­fe zwi­schen Iran und Irak im In­ter­es­se Ame­ri­kas sei«. Ei­ne Quel­le für die­ses Zi­tat fehlt dann al­ler­dings.

Es gibt meh­re­re sol­cher »kön­nen wir da­von ausgehen«-Formulierungen, die dann teil­wei­se zur kon­tra­fak­ti­schen Ge­schichts­schrei­bung wei­ter­ge­schrie­ben wer­den. Et­wa wenn be­haup­tet wird, dass die ame­ri­ka­ni­schen Bom­bar­de­ments auf Kam­bo­dscha zwi­schen Fe­bru­ar und Au­gust 1973 den »Sieg der Kom­mu­ni­sten« ver­zö­gert und da­mit die »hart­ge­sot­te­nen Ex­tre­mi­sten im Um­feld Pol Pots die Ober­hand« ge­won­nen hät­ten. Hier­für feh­len jeg­li­che In­di­zi­en. Auch die The­se, dass Nixon oh­ne Wa­ter­ga­te die Bom­bar­die­run­gen wie­der auf­ge­nom­men hät­te, da Nord­viet­nam den Frie­dens­ver­trag mit mi­li­tä­ri­schen An­grif­fen sa­bo­tier­ten, soll­te in ei­nem sol­chen Buch nicht als Tat­sa­che er­ör­tert wer­den.

Kam­bo­dscha 1970

Ei­ne Ak­ti­on der Nixon-Re­gie­rung ver­folgt Gran­din ge­ra­de­zu ob­ses­siv: Die Bom­bar­die­rung Kam­bo­dschas 1970 (und spä­ter dann La­os’). Im­mer wie­der kommt er dar­auf zu­rück. Die­se Form von »Po­li­tik« steht für ihn ex­em­pla­risch für das Prin­zip Kis­sin­ger. Die USA hät­ten ein neu­tra­les Land an­ge­grif­fen, da­mit ein in­tak­tes po­li­ti­sches Sy­stem mut­wil­lig ge­stürzt (Siha­nouk), durch ei­nen kor­rup­ten Mi­li­tär er­setzt (Lon Nol) und am En­de ein Terror­regime an die Macht ge­spült (Pol Pot). Die­se Ak­ti­on wä­re die Blau­pau­se für die spä­te­ren ame­ri­ka­ni­schen In­ter­ven­tio­nen in der Welt. Seit­dem sei es po­li­tisch op­por­tun auch neu­tra­le Staa­ten an­zu­grei­fen, so­fern man dort Ter­ro­ri­sten ver­mu­te. Gran­din zieht ei­ne ge­ra­de Li­nie von Vietnam/Kambodscha 1969ff bis zu den heu­ti­gen Droh­nen­ein­sät­zen der Oba­ma-Re­gie­rung.

Gran­din ar­gu­men­tiert mo­ra­lisch, was zwar op­por­tun ist, aber (sie­he oben Hit­chens) für ei­ne Be­trach­tung des Phä­no­mens Kis­sin­ger zu kurz greift. Zu­mal wenn man ele­men­ta­re hi­sto­ri­sche Tat­sa­chen aus­blen­det. Es ist zwar rich­tig, dass Kam­bo­dscha for­mal ein neu­tra­les Land war. Aber – das er­wähnt Gran­din auch – die Viet­cong hat­ten im kam­bo­dscha­ni­schen Hin­ter­land Rück­zugs­or­te und Waf­fen­la­ger ge­bil­det. Die kambod­schanische Re­gie­rung, die nicht so fest im Sat­tel saß wie dies sug­ge­riert wird, war we­der wil­lens noch mi­li­tä­risch in der La­ge, die­se Ein­dring­lin­ge zu be­kämp­fen. Wie neu­tral ist ein Land, das über we­sent­li­che Tei­le sei­nes Ter­ri­to­ri­ums die Kon­trol­le ver­lo­ren hat? In La­os tob­te be­reits seit 1963 zwi­schen den na­tio­na­li­stisch-kom­mu­ni­sti­schen von Nord­viet­nam un­ter­stütz­ten Pa­thet Leo und den Re­gie­rungs­trup­pen ein Bür­ger­krieg, in den Süd­viet­nam und die USA kurz dar­auf ein­grif­fen. Auch in La­os gab es al­so kei­nen »Frie­den«.

Die Bom­bar­die­rung Kam­bo­dschas stell­te nicht un­be­dingt ei­ne Neu­ig­keit dar, was Gran­din am Ran­de er­wähnt. Seit 1965 wur­den dort an­geb­li­che oder tat­säch­li­che Rück­zugs­ge­bie­te der Viet­cong mit stil­ler Dul­dung Siha­nouks und un­ter gro­ßer Ge­heim­hal­tung bom­bar­diert. 1969 be­gann von ame­ri­ka­ni­scher Sei­te zu­nächst ver­deckt die Ope­ra­ti­on »MENU«: ei­ne groß­flä­chi­ge und in­ten­si­ve Bom­bar­die­rung Ost­kam­bo­dschas (und spä­ter auch von La­os). Akri­bisch be­schreibt Gran­din nun, wie die­se Ope­ra­ti­on »MENU« un­ter Vor­spie­ge­lung fal­scher Bom­bar­die­rungs­zie­le ab­ge­wickelt wor­den sein soll, weil der Schein ge­wahrt wer­den soll­te. Kis­sin­ger ha­be, so Gran­din, per­sön­lich ein­ge­grif­fen, da­mit die Einsatz­befehle und an­de­re Do­ku­men­te nicht auf au­ßer­viet­na­me­si­sche Re­gio­nen lau­te­ten. Da­bei ha­be er ge­gen­über Nixon und dem Ka­bi­nett dar­auf be­stan­den mit wuch­ti­gen Schlä­gen vor­zu­ge­hen, was schließ­lich auch ge­neh­migt wur­de.

In ei­ner Fuß­no­te er­wähnt Gran­din, dass ein Be­richt über die Bom­bar­die­rung Kam­bo­dschas in der New York Times 1969 oh­ne Echo ge­blie­ben war. Nixons Fern­seh­an­spra­che vom Mai 1970 lö­ste dann gro­ße Pro­te­ste in den USA aus; es gab das Kent-Sta­te-Mas­sa­ker. Die Ver­öf­fent­li­chung der Pen­ta­gon-Pa­pers ein Jahr spä­ter durch Da­ni­el Ellsberg, den Gran­din als »An­ti-Kis­sin­ger« cha­rak­te­ri­siert, hat dann die lan­des­wei­te Em­pö­rung noch wei­ter be­för­dert und Un­ter­su­chun­gen los­ge­tre­ten. Vor lau­ter Ei­fer ver­gisst Gran­din al­ler­dings zu er­wäh­nen, dass die Pen­ta­gon Pa­pers sich nicht auf Nixons und Kis­sin­gers Schand­ta­ten al­lei­ne ka­pri­zier­ten, son­dern ein Kon­ti­nu­um ame­ri­ka­ni­scher In­ter­ven­ti­ons- und Kriegs­po­li­tik of­fen­bar­ten.

Als hät­te es kei­ne Do­mi­no-Theo­rie ge­ge­ben

Zwi­schen­zeit­lich be­kommt man den Ein­druck, Kis­sin­ger ha­be in der ame­ri­ka­ni­schen Po­li­tik seit mehr als 50 Jah­ren ei­ne Art von Pa­ten-Sta­tus und min­de­stens die Prä­si­den­ten Nixon und Ford sei­en da­mals wahl­wei­se Ma­rio­net­ten oder Op­fer von Kis­sin­ger ge­we­sen. Die pa­ra­no­id-schi­zo­phre­ne Per­sön­lich­keit Nixons wird nur am Ran­de er­wähnt. Ver­mut­lich passt es nicht in Gran­dins Kon­zept, dass Nixon be­reits 1960 als Vi­ze­prä­si­dent un­ter Ei­sen­hower wag­hal­si­ge In­ter­ven­tio­nen be­für­wor­te­te, wie bei­spiels­wei­se in Be­zug auf Fi­del Ca­stro, den er mit ei­ner In­va­si­on aus Ku­ba ver­trei­ben woll­te. War­um ana­ly­siert Gran­din, der doch Pro­fes­sor für Ge­schich­te an der New York Uni­ver­si­ty ist, nicht die of­fe­nen wie ver­steck­ten Ope­ra­tio­nen und Kriegs­ein­sät­ze der USA in den 1950er und 1960er Jah­ren (bei­spiels­wei­se Mos­sa­degh 1953, Li­ba­non 1958, Schwei­ne­bucht-In­va­si­on 1961) son­dern zi­tiert statt­des­sen aus­gie­big und mit ei­ner ge­wis­sen Mo­no­to­nie aus der Ba­che­lor-Ar­beit des 27jährigen Hen­ry Kis­sin­ger von 1950, aus der dann je nach La­ge pas­sen­de Sät­ze her­aus­ge­schält wer­den?

Der gra­vie­rend­ste Feh­ler des Bu­ches be­steht je­doch dar­in, dass der wich­tig­ste Grund­satz der ame­ri­ka­ni­schen Nach­kriegs-Au­ßen­po­li­tik au­ßer in ei­nem Satz am En­de des Bu­ches, als es um den In­ter­ven­tio­nis­mus der USA der 1980er Jah­re in Mit­tel­ame­ri­ka geht, über­haupt nicht vor­kommt. Ge­meint ist die so­ge­nann­te Do­mi­no-Theo­rie Ei­sen­ho­wers, die sich be­reits 1950 ma­ni­fe­stier­te als die USA dem Ver­bün­de­ten Süd­ko­rea ge­gen den nord­ko­rea­nisch-chi­ne­si­schen An­griff bei­stan­den. Ei­sen­hower for­mu­lier­te sei­ne Dok­trin 1954 (oh­ne je­mals die Be­zeich­nung »Do­mi­no-Theo­rie« ver­wen­det zu ha­ben): Wenn ein Land kom­mu­ni­stisch wer­de, so die The­se, wür­den bald auch die be­nach­bar­ten Län­der dem Kom­mu­nis­mus durch krie­ge­ri­sche oder an­de­re In­fil­tra­tio­nen er­lie­gen. Da­her müss­ten die USA je­de wei­te­re Ver­brei­tung kom­mu­ni­sti­scher Staa­ten Ein­halt ge­bie­ten. Man muss die­se An­sicht nicht tei­len, aber man soll­te sie zu­min­dest zur Kennt­nis neh­men. Das be­deu­tet na­tür­lich nicht, dass die US-Au­ßen­po­li­tik da­mit ge­recht­fer­tigt wird.

Die Do­mi­no-Theo­rie präg­te fast bis zum En­de des Kal­ten Krie­ges das au­ßen­po­li­ti­sche Han­deln der USA. Gran­din be­schäf­tigt sich aus­gie­big mit ei­ni­gen die­ser Schwei­ne­rei­en, aber dass er dies nicht in den Kon­text der Zeit stellt und statt­des­sen Kis­sin­ger zum Pa­ten des US-In­ter­ven­tio­nis­mus er­klärt, zeugt ent­we­der von un­zu­rei­chen­den hi­sto­ri­schen Kennt­nis­sen oder ab­sichts­vol­ler Le­ser­täu­schung. Hier­zu ge­hört auch, dass die im­pe­ria­len Ein­grif­fe der So­wjet­uni­on (DDR 1953/1961, Un­garn 1956, Tsche­cho­slo­wa­kei 1968 nebst Bre­sch­new-Dok­trin) und Chi­na (Ti­bet 1951/1959) und de­ren Un­ter­stüt­zung so­ge­nann­ter Frei­heits­kämp­fer un­ter den Tisch ge­kehrt wer­den. Gran­dins Ver­su­che, Kis­sin­ger als al­lei­ni­gen Er­fin­der des Kam­bo­dscha-Bom­bar­de­ments und so­mit als Ga­li­ons­fi­gur der Ver­ro­hung des Viet­nam­krie­ges und ähn­li­cher Scheuß­lich­kei­ten (In­do­ne­si­en, Chi­le, Mit­tel­ame­ri­ka, Af­gha­ni­stan, Na­her Osten) zu in­stal­lie­ren sind lei­der un­ter­kom­plex.

Kis­sin­ger, der er­bärm­li­che Op­por­tu­nist

Auch die theo­re­ti­schen Un­ter­su­chun­gen Gran­dins über­zeu­gen nur teil­wei­se. Er ent­deckt bei Kis­sin­ger ei­ne Art per­ver­se »Phi­lo­so­phie der Tat«. Die­ser ha­be, so der Vor­wurf, so­gar mit dem lo­kal be­grenz­ten Ein­satz von Atom­waf­fen ge­droht. Das war in der Tat hoch­ris­kant. Aber wie­der un­ter­schlägt Gran­din ent­schei­den­des, denn schließ­lich be­stand die Per­ver­si­on des Kal­ten Krie­ges un­ter an­de­rem dar­in, das Droh­po­ten­ti­al der Atom­waffen in die vir­tu­el­le Waag­scha­le zu wer­fen. Gran­din zeigt dies so­ger in­di­rekt, in­dem er die Lö­sung der so­ge­nann­ten Ku­ba-Kri­se er­wähnt, die eben nicht nur dar­in be­stand, dass die So­wjets ih­re Atom­ra­ke­ten aus Ku­ba ab­zo­gen son­dern eben auch die USA die vor­her sta­tio­nier­ten Spreng­köp­fe aus der Tür­kei wie­der ent­fern­ten.

Kis­sin­ger ha­be stets äu­ßer­ste Här­te der Bom­bar­de­ments auf Viet­nam und Kam­bo­dscha be­für­wor­tet, so Gran­din. Als Be­le­ge die­nen hier­für un­ter an­de­rem ei­ni­ge we­ni­ge Sät­ze der auf­ge­zeich­ne­ten Ge­sprä­che zwi­schen Nixon und ihm. Dies hat we­nig Be­leg­kraft. Aber auch hier ist das Buch bes­ser als es zu­nächst den Ein­druck hat. Denn es ge­lingt dem Au­tor an an­de­rer Stel­le den er­bärm­li­chen Op­por­tu­nis­mus Kis­sin­gers auf­zu­zei­gen. Als Nel­son D. Rocke­fel­ler, den Kis­sin­ger un­ter­stütz­te, als Prä­si­dent­schafts­kan­di­dat der Re­pu­bli­ka­ner un­ter­lag, hat­te Kis­sin­ger im Au­gust 1968 Nixon noch als gro­ße Ka­ta­stro­phe für die USA be­zeich­net. Den­noch dien­te er sich die­sem so­fort an und schaff­te es im De­zem­ber 1968, fünf Mo­na­te spä­ter, al­so noch vor Amts­an­tritt Nixons, im Amt als Na­tio­na­ler Sicher­heitsberater mit groß­zü­gi­gen Voll­mach­ten zur Um­ge­stal­tung der Be­hör­de aus­ge­stat­tet zu wer­den. Kis­sin­ger re­de­te dem Kom­mu­ni­sten­has­ser Nixon, den in den 1950er Jah­ren dem »Aus­schuss für un­ame­ri­ka­ni­sche Um­trie­be« an­ge­hör­te, mit gro­ßer Kön­ner­schaft nach dem Mund. Ähn­li­ches zeigt Gran­din auch im Ver­hält­nis Kis­sin­gers zu Rea­gan, den er zu­nächst gar nicht ernst nimmt, dann je­doch hof­fiert, um ihm von au­ßen Rat­schlä­ge ge­ben zu kön­nen.

Die un­ter­schätz­te Re­fe­renz

Meist un­er­gie­big da­ge­gen die fast rüh­ren­de Be­schäf­ti­gung Gran­dins mit Kis­sin­gers Ba­che­lor- und Pro­mo­ti­ons­ar­bei­ten. Er fin­det Zi­ta­te von Kant, ana­ly­siert den Kon­text in dem sie ste­hen und weist mit­tels ei­nes Ex­per­ten nach, dass Kis­sin­ger den ka­te­go­ri­schen Im­pe­ra­tiv falsch ver­stan­den und miss­in­ter­pre­tiert ha­be. Kis­sin­gers Hang zum Bel­li­zis­mus wird in des­sen Re­zep­ti­on von Os­wald Speng­ler ver­or­tet. Speng­lers Geschichts­determinismus lehn­te Kis­sin­ger al­ler­dings ab, was rich­tig dar­ge­stellt wird. Da­her hät­te Gran­din bes­ser ei­ne zu­tref­fen­de­re Re­fe­renz­grö­sse her­an­ge­zo­gen, die Kis­sin­ger ganz si­cher kann­te, aber wo­mög­lich nicht zi­tat­wür­dig war. Tat­säch­lich ist Kis­sin­gers Den­ken na­he­zu deckungs­gleich mit den The­sen des preu­ßi­schen Ge­ne­ral­ma­jors Carl von Clau­se­witz und sei­ner post­hum pu­bli­zier­ten Schrift »Vom Krie­ge«. Bei­de se­hen den Krieg als »blo­ße Fort­set­zung der Po­li­tik mit an­de­ren Mit­teln«. Auch die Kis­sin­ger von Gran­din zu­ge­schrie­be­ne »Här­te« er­klärt sich aus Clau­se­witz, der po­stu­lier­te, dass es im Krieg »in der An­wen­dung [der Gewalt]…keine Gren­zen« ge­ben kön­ne, da es »ganz al­lein dar­auf an­kom­men, den Geg­ner nie­der­zu­wer­fen«. Krieg ist für Kis­sin­ger wie Clau­se­witz nicht mehr (und nicht we­ni­ger) als »ein ern­stes Mit­tel für ei­nen ern­sten Zweck«. Auch die Fra­ge, war­um Kis­sin­ger zu­nächst Frie­dens­ge­sprä­che zum Viet­nam­krieg sa­bo­tier­te, sie dann aber spä­ter, nach vie­len Jah­ren sel­ber führ­te, er­klärt sich mit dem Mi­li­tär­stra­te­gen des 19. Jahr­hun­derts, der vor­sieht, dass der Krieg »auf­ge­ge­ben wer­den« müs­se »sobald…der Kraft­auf­wand so groß wird, daß der Wert des po­li­ti­schen Zwecks ihm nicht mehr das Gleich­ge­wicht hal­ten kann«. Die »Fol­ge da­von« müs­se, so Clau­se­witz kühl, »der Frie­de« sein.

Na­tür­lich hat Gran­din Recht, wenn er die ein­zel­nen »Spiel­fel­der« von Kis­sin­gers Kal­tem-Krieg-Do­mi­no als ge­schei­ter­te Un­ter­neh­mun­gen dar­stellt. Aber war­um muss er da­bei die »Be­frei­ungs­be­we­gun­gen« in Viet­nam und an­de­ren Län­dern wie bei­spiels­wei­se An­go­la, Rho­de­si­en (spä­ter Zim­bab­we) oder Mo­zam­bi­que ver­klä­ren und leug­net da­mit die fast durch­gän­gi­ge Un­ter­stüt­zung die­ser Grup­pen durch die So­wjet­uni­on und/oder Chi­na? War­um schwärmt Gran­din da­von wie Fi­del Ca­stro mit sei­nen Trup­pen Kis­sin­ger in An­go­la »schach­matt« setz­te? Zu­mal die­se Dar­stel­lung in mehr­fa­cher Hin­sicht un­ge­nau ist. Zum ei­nen hieß der Ge­ne­ral, der die ku­ba­ni­schen Trup­pen in An­go­la be­feh­lig­te, Ar­nal­do Ochoa (und er er­litt Jah­re spä­ter ein schreck­li­ches Schick­sal). Und zum an­de­ren han­del­te es sich bei dem Bür­ger­krieg in An­go­la um ei­nen klas­si­schen Stell­ver­tre­ter­krieg: Die So­wjet­uni­on un­ter­stütz­te die MPLA-Re­bel­len und spä­ter dann die ku­ba­ni­schen Sol­da­ten, die an der Sei­te der MPLA kämpf­ten, mit Waf­fen und Mu­ni­ti­on. Die Un­ter­stüt­zung der UNITA er­folg­te durch Süd­afri­ka, die wie­der­um durch die USA in­di­rekt ver­sorgt wur­de. Da­bei weist Gran­din zu recht auf die Mas­sa­ker der UNITA un­ter Jo­nas Sa­wim­bi hin (die na­tür­lich in­di­rekt wie­der Kis­sin­ger zu­ge­ord­net wer­den). Über die Met­ze­lei­en der MPLA geht er wort­los hin­weg.

In­ter­es­sant ist die Ja­nus­köp­fig­keit der Re­gie­rung Nixon/Kissinger in den 1970ern, als man ei­ner­seits mit gro­ßer Bru­ta­li­tät ei­nen Krieg ge­gen ein kom­mu­ni­sti­sches Viet­nam führ­te an­de­rer­seits je­doch ei­nen Aus­gleich mit Chi­na such­te und die Ab­rü­stungs­ge­sprä­che mit der So­wjet­uni­on for­cier­te. Gran­din schreibt auch hier et­was vor­ei­lig Kis­sin­ger den Lö­wen­an­teil zu. Tat­säch­lich war es An­fang der 1970er Jah­re geo­po­li­tisch gün­stig auf Chi­na zu­zu­ge­hen. Zum ei­nen war das Land nach der Kul­tur­evo­lu­ti­on vor al­lem öko­no­misch ge­schwächt und die USA such­ten neue Ab­satz­märk­te. Die Al­li­anz zwi­schen Chi­na und der So­wjet­uni­on be­kam ideo­lo­gi­sche Ris­se. Die Chi­ne­sen hat­ten 1969 ih­re Mi­li­tär­be­ra­ter aus Nord­viet­nam ab­ge­zo­gen. Es kam so­gar ver­mehrt zu Grenz­strei­tig­kei­ten zwi­schen den bei­den Län­dern (die dann En­de der 1970er Jah­re in ei­nen kur­zen Krieg mün­de­ten). Wenn man von Ko­rea ab­sah, war Chi­na zu ei­nem halb­wegs neu­tra­len Ak­teur in In­do­chi­na ge­wor­den. Die­se Ge­le­gen­heit woll­te Nixon nut­zen um den Keil zwi­schen den kom­mu­ni­sti­schen Mäch­ten UdSSR und Chi­na zu ver­tie­fen. Die An­nä­he­rung war al­so eben­falls an der Po­li­tik des Freund-Feind-Sche­mas aus­ge­rich­tet.

Der Feind mei­nes Fein­des…

Das Gran­din den Bo­gen von Viet­nam 1969 bis zum Irak 2003 spannt, ist in­ter­es­sant, so­fern er den im­pe­ria­len Po­li­tik­stil der (Su­per­macht) USA the­ma­ti­siert. Tat­säch­lich hat­te Kis­sin­ger auch den Irak­ein­marsch 2003 gut­ge­hei­ßen und das auch nie be­strit­ten, wie man 2007 im In­ter­view mit Chri­sti­an Amend nach­le­sen kann: »Ich war da­für, einzu­marschieren, Sad­dam ab­zu­lö­sen und dann das Gan­ze zu ei­ner in­ter­na­tio­na­len Ope­ra­ti­on zu ma­chen, wie auf dem Bal­kan«, so Kis­sin­ger. Das In­ter­view ist üb­ri­gens so­wohl ein Mu­ster­bei­spiel für Kis­sin­gers Dünn­häu­tig­keit als auch der von Gran­din an­ge­spro­che­nen Un­ein­sich­tig­keit, die sich auch in of­fi­zi­el­len An­hö­run­gen zeig­te. Kis­sin­ger ha­be kei­ne »mo­ra­li­schen oder idea­li­sti­schen Ar­gu­men­te zur Recht­fer­ti­gung« vor­ge­bracht. Da­bei ist die Sa­che ziem­lich ein­fach: Er kann sie nicht vor­brin­gen, weil es sie nicht gibt bzw. das, was vor­ge­bracht wird, sind nichts wei­ter als Ca­mou­fla­gen der Wirk­lich­keit. Die Au­ßen­po­li­tik der USA, die Kis­sin­ger mit­präg­te aber nicht er­fand, war nach dem Zwei­ten Welt­krieg in­ter­ven­tio­ni­stisch und nicht mehr wie nach dem Er­folg im Er­sten Welt­krieg 1918 iso­la­tio­ni­stisch. Für Kis­sin­ger, der als Ju­de vor den Na­zis in den USA Schutz fand, war ei­ne iso­la­tio­ni­sti­sche Su­per­macht, die Na­zis oder Kom­mu­ni­sten glo­bal wü­ten lässt, un­denk­bar. Dies ent­sprang je­doch nicht dem Im­pe­tus der Ver­brei­tung der Menschen­rechte und der De­mo­kra­tie, wie den Neo­kon­ser­va­ti­ven un­ter Bush jr. dies mit gro­ßem Ge­stus er­klär­ten. Es ging Kis­sin­ger am En­de nur dar­um, das je­weils grö­ße­re Übel zu ver­hin­dern. Hier­für sah er die USA als im­pe­ria­le Macht le­gi­ti­miert.

Da­her ist sich Kis­sin­ger nie ei­ner Schuld be­wusst ge­we­sen und leug­net bis heu­te be­harr­lich Fak­ten, die die Sinn- und Ruch­lo­sig­keit der von ihm mit zu ver­ant­wor­ten­den Po­li­tik auf­zei­gen. Und des­halb ist es auch pro­ble­ma­tisch in Kis­sin­ger ei­nen in­tel­lek­tu­el­len Kopf zu se­hen, der welt­hi­sto­ri­schen Weit­blick ge­zeigt hat bzw. zei­gen könn­te. Dies ist ei­ne der größ­ten Miss­ver­ständ­nis­se. Kis­sin­ger ver­band auf fast vul­gä­re Art und Wei­se die Do­mi­no-Theo­rie mit dem Clausewitz’schen Krieg-Po­li­tik-Sche­ma, das er um die Mög­lich­kei­ten der Mit­tel­strecken­bom­ber des 20. Jahr­hun­derts er­wei­ter­te. Er dien­te sich Prä­si­den­ten an, die na­he­zu hy­ste­risch an­ti­kom­mu­ni­stisch ein­ge­stellt wa­ren. Er lern­te aus der Ge­gen­öf­fent­lich­keit zum Viet­nam­krieg und »per­fek­tio­nier­te« das Leit­mo­tiv des Kal­ten Krie­ges: »Der Feind mei­nes Fein­des ist mein Freund«. Wo es ging ver­such­te er nun die di­rek­te mi­li­tä­ri­sche In­ter­ven­ti­on zu ver­mei­den und un­ter­stütz­te über den CIA oder an­de­re dif­fu­se Or­ga­ni­sa­tio­nen un­ap­pe­tit­li­che Dik­ta­tu­ren in Afri­ka oder Süd­ame­ri­ka. Die­se Form des Stell­ver­tre­ter-In­ter­ven­tio­nis­mus er­mög­lich­te den USA mit den kom­mu­ni­sti­schen Im­pe­ri­en So­wjet­uni­on und Chi­na ei­ni­ger­ma­ßen nor­ma­le di­plo­ma­ti­sche Be­zie­hun­gen auf­recht zu er­hal­ten.

Es gibt kaum ein bes­se­res Bild für die Kurz­sich­tig­keit und Dumm­heit die­ser Freund-Feind-Po­li­tik, die man­che pro­fes­so­ra­le Schreib­ar­ti­sten als Geo­po­li­tik adeln, als die Be­geg­nung des Irak-Ge­sand­ten der USA Do­nald Rums­feld mit Sad­dam Hus­sein 1983. Da­mals als Boll­werk ge­gen den ver­hass­ten Iran, wur­de acht Jah­re spä­ter ge­gen ihn ei­ne welt­wei­te Ko­ali­ti­on we­gen der Be­sat­zung Ku­waits ge­schmie­det und 2003 galt er dann als ve­ri­ta­bler Hit­ler-Nach­fol­ger und wur­de un­ter an­de­rem von eben­die­sem Rums­feld ver­nich­tet.

Trotz sei­ner Feh­ler­haf­tig­keit und Ten­denz ist »Kis­sin­gers lan­ger Schat­ten« ein le­sens­wer­tes Buch. Im Ide­al­fall führt es zu ei­ner neu­en Be­schäf­ti­gung mit im­pe­ria­ler Po­li­tik im Kal­ten Krieg und dar­über hin­aus. Da­bei fällt auf, dass das mis­sio­na­ri­sche Ele­ment der neo­kon­ser­va­ti­ven Wei­ter­ver­brei­tung der Men­schen­rech­te und De­mo­kra­tie Ein­zug in der po­li­ti­schen eu­ro­päi­schen Lin­ken ge­hal­ten hat, wie man zu­letzt an der In­ter­ven­ti­on in Li­by­en se­hen konn­te. Der Er­folg war ähn­lich der der ame­ri­ka­ni­schen Po­li­tik: Dem Cha­os folg­te ein noch grö­ße­res Cha­os. Hier bö­te sich Kis­sin­ger als Schu­lungs­bei­spiel an.

11 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Im letz­ten Jahr ha­be ich Kis­sin­gers Welt­ord­nung in der Hoff­nung ge­le­sen, zu­min­dest ei­nen klei­nen Blick hin­ter die Fas­sa­de wer­fen zu kön­nen. Ein eit­les Un­ter­fan­gen. Hät­te man wis­sen kön­nen, sa­gen Sie mir jetzt. Aber mit ei­nem de­ma­ßen ab­ge­schmack­ten Recht­fer­ti­gungs­pam­phlet ha­be ich wirk­lich nicht ge­rech­net.

    Re­al­po­li­tik hat die USA nie be­trie­ben, al­les nur mo­ra­lisch und idea­li­stisch, nach be­stem Wis­sen und Ge­wis­sen. Da­zu kommt das Buch in ei­nem alt­vä­ter­li­chen Ton da­her, in dem der Groß­hi­sto­ri­ker Kis­sin­ger die ge­sam­te Welt­ord­nung auf die Prin­zi­pi­en des West­fä­li­schen Frie­dens zu­rück­führt. Nach sei­ner Dis­ser­ta­ti­on über den Wie­ner Kon­gress wird uns jetzt al­so die zwei­te hi­sto­ri­sche Sin­gu­la­ri­tät er­kärt und was nicht passt, wird pas­send ge­macht. Ge­gen­über den schlich­ten Ver­all­ge­mei­ne­run­gen Kis­sin­gers er­schei­nen Brze­zińskis Aus­las­sun­gen ge­rad­zu über­kom­plex.

    Im mag mir gar nicht vor­stel­len, wenn Kis­sin­ger im Oval Of­fice saß, sei­ne ver­bre­che­ri­schen Ti­ra­den ela­bo­rie­rend und da­bei im Spie­gel­bild Met­ter­nich sit­zen sah. Mir bleibt nur der Schluss, dass wir es mit ei­nem skru­pe­lo­sen Ver­bre­cher zu tun ha­ben.

  2. In­ter­es­sant, dass der West­fä­li­sche Frie­den, auf den Kis­sin­ger Be­zug nimmt, sich eben­falls mit ei­ner bi­po­la­ren Kriegs­si­tua­ti­on be­schäf­tig­te und die­se ent­schärf­te.

    Kis­sin­ger mag ein skru­pel­lo­ser Ver­bre­cher (ge­we­sen) sein, aber das wa­ren dann na­tür­lich auch Nixon und Ford (und Rea­gan und Bush...). Was ist mit Ken­ne­dy und sei­ner Schwei­ne­bucht? Ver­ges­sen wir nicht Mao und Ca­stro (er soll Chruscht­schow emp­foh­len ha­ben, nicht bei­zu­ge­ben, son­dern die Atom­ra­ke­ten ein­zu­set­zen), Bre­sch­new und Gro­my­ko. Die hat­ten auch ideel­le Zie­le (den So­zia­lis­mus), die sie im Mund führ­ten, aber nur dort.

    Und na­tür­lich muss man an­de­re Kri­te­ri­en bei »un­se­ren« Po­li­ti­kern an­le­gen. Muss man das wirk­lich? Ich je­den­falls kann das Ge­re­de von »un­se­ren Wer­ten« seit lan­ger Zeit schon nicht mehr hö­ren.

  3. Das Wort Ver­bre­cher ha­be ich viel­leicht et­was un­be­dacht ge­wählt. Ge­meint ist, dass er aus nie­de­ren Mo­ti­ven den Tod Un­schul­di­ger schon pla­nend in Kauf nimmt. Und das nicht mal aus uti­li­ta­ri­sti­schen Mo­ti­ven. Ich nen­ne sol­che Leu­te Ver­bre­cher. Wenn dies ge­schieht, um ei­ne ver­meint­lich bes­se­re Ge­sell­schaft zu eta­blie­ren, ist es har­te Ar­beit das Ge­spenst der Heu­che­lei zu ver­trei­ben.

    Und Eu­ro­päi­sche Wer­te ist heu­te tat­säch­lich meist das Suf­fix für ei­ne nach­fol­gen­de Schä­big­keit. Die ame­ri­ka­ni­sche Zu­rück­hal­tung und da­mit der Druck auf Deutsch­land zu han­deln, lässt Frau Mer­kel mo­men­tan auch nicht ge­ra­de glück­lich aus­se­hen. Ich ver­mu­te, dass man die eu­ro­päi­schen Wer­te am be­sten bei den Eco­no­mic Part­ner­ship Agree­ments ein­se­hen kann. Da fällt das gan­ze Kar­ten­haus zu­sam­men.

  4. Den An­spruch auf die »bes­se­re Ge­sell­schaft« hat­ten die Kom­mu­ni­sten auch – und sperr­ten da­für Mil­lio­nen ein und brach­ten sie um oder in­sze­nier­ten ir­gend­wel­che schwach­sin­ni­gen Pro­gram­me, die dann zu Hun­gers­nö­ten führ­ten.

    Kis­sin­ger ist nicht der Er­fin­der die­ses Trei­bens. Das Skan­da­lon be­steht we­ni­ger dar­in, dass er es da­mals (mit-)verantwortet hat, son­dern dass es heu­te noch als »staats­män­nisch« gilt. Und gleich­zei­tig re­den al­le (zu Recht) von den Ver­bre­chen der Ame­ri­ka­ner, aber die Ver­bre­chen der an­geb­li­chen oder tat­säch­li­chen Be­frei­er (Viet­cong, Pa­thet Lao oder mehr auch im­mer) wer­den als re­vo­lu­tio­när ver­kitscht (nicht von Ih­nen, aber vom Groß­teil der Öf­fent­lich­keit).

    Kein ein­zi­ges Wort von Gran­din, wie man den Viet­nam­krieg, den ja Nixon so­zu­sa­gen »ge­erbt« hat, hät­te ein­däm­men kön­nen. Oder dann doch: Die USA hät­ten sich zu­rück­zie­hen kön­nen. Ja, das hät­ten sie, aber die Tek­to­nik des Kal­ten Krie­ges hat­te das nicht vor­ge­se­hen. Ge­nau so gut hät­ten sich ja die Nord­viet­na­me­sen zu­rück­zie­hen kön­nen. Oder die Rus­sen und Chi­ne­sen vor­her. Ha­ben sie nicht.

    Gran­dins Buch ist des­halb ge­schei­tert, weil er Clau­se­witz als »Rat­ge­ber« für die vie­len Stell­ver­tre­ter­krie­ge im Kal­ten Krieg igno­riert: Es gibt tat­säch­lich nur ei­nen Krieg in der Ge­schich­te nach 1945, an dem die USA be­tei­ligt war, der so­zu­sa­gen »wunsch­ge­mäss« ver­lief: Das war die Ver­trei­bung Sad­dam Hus­s­eins aus Ku­wait 1991. Das In­ter­es­san­te dar­an war, dass Ge­or­ge Bush sr. da­mals ei­ne gro­ße Al­li­anz mit der UNO zu­sam­men ge­schmie­det hat­te. Dies hat­te zur Fol­ge, dass dem Irak kein an­de­res Land zur Sei­te stand. Al­le ge­gen ei­nen. (Über die Recht­mä­ßig­keit sagt das frei­lich nichts aus.)

    Ei­ne Win­zig­keit ha­ben die­se Neo-Clau­se­wit­ze bis heu­te über­se­hen: Wie kommt man aus ei­nem Krieg wie­der her­aus? Was ge­schieht, wenn das mi­li­tä­ri­sche Ziel er­füllt ist? Wie geht es dann wei­ter? Es ist ei­ne Bin­sen­weis­heit, dass die Bush-Re­gie­rung 2003 im Irak hier­zu gar kei­ne Ah­nung hat­te. Hier­in liegt m. E. das wah­re Ver­bre­chen.

    Ich ver­ste­he die Wut und das Wort »Ver­bre­cher«. Aber es hat sich seit Ei­sen­hower in der in­ter­ven­tio­ni­sti­schen ame­ri­ka­ni­schen Au­ßen­po­li­tik nichts Grund­le­gen­des ge­än­dert. Kis­sin­ger war ein Stein­chen im Mo­sa­ik; von mir aus ein Stein. Aber mehr nicht. Der Droh­nen­krieg, den Oba­ma so­zu­sa­gen klamm­heim­lich ein­ge­führt hat wird eben­falls schei­tern. Die Ant­wort hier­auf ist der Ter­ro­ris­mus. Und der wird die west­li­che Ge­sell­schaft noch sehr ver­än­dern.

  5. Ich wür­de von Ei­sen­hower (der ja nur das klei­ne­re Übel war, wenn McAr­thur sich nicht selbst ins Aus ge­stellt hät­te...) so­gar noch bis zu Theo­do­re Roo­se­velts Big Stick zu­rück ge­hen.

    Aber jetzt, Herr Met­ter­nich! Wien 2016: ...?

  6. Ja, sehr gut. An Roo­se­velt hat­te ich gar nicht ge­dacht.

    Ir­gend­wie sträubt es sich bei mir je­doch ge­gen den Met­ter­nich-Ver­gleich. Die­ser hat Öster­reich ja in an­de­re Bünd­nis­se ge­führt und war auch In­nen­po­li­ti­ker. Bei­des mach­te Kis­sin­ger nicht. Dass er in den 70ern als der wich­tig­ste ame­ri­ka­ni­sche Po­li­ti­ker galt, war nicht zu­letzt ein Me­di­en­phä­no­men. In den Wir­ren um Wa­ter­ga­te war er dann so et­was wie ein Kon­ti­nu­um.

  7. Die El­lip­se hat­te ich als Ein­la­dung mal sel­ber Met­ter­nich zu spie­len ver­stan­den, mal nicht mehr Chro­nist son­dern Han­deln­der zu sein, Al­les ist er­laubt, aber na­tür­lich oh­ne Po­len zu tei­len oder zu ver­schie­ben.

  8. Ah, sor­ry für die Be­griffs­stut­zig­keit.

    Ein Met­ter­nich von heu­te müss­te erst ein­mal die Eu­ro­päi­sche Uni­on und de­ren In­sti­tu­tio­nen ent­wir­ren. Da­bei müss­te klar­ge­stellt wer­den, wel­che Zie­le ei­ne EU ver­folgt: Bun­des­staat oder Staa­ten­bund. Die Mit­glieds­kon­di­tio­nen für al­le Län­der müss­ten iden­tisch sein; »Ex­tra­wür­ste« war­um und für wen auch im­mer müss­ten ab­ge­schafft wer­den. Ei­ne neue EU-Ver­fas­sung müss­te ne­ben der uni­ver­sa­len Sprache(n) der Eu­ro­päi­schen Uni­on (mein Fa­vo­rit: eng­lisch und fran­zö­sisch) u. a. fest­schrei­ben, wie weit die na­tio­nal­staat­li­chen Be­fug­nis­se an EU-In­sti­tu­tio­nen de­le­giert wer­den. Wer dies nicht möch­te, kann ei­ner Han­dels­uni­on bei­tre­ten, hat dann aber kei­ner­lei Mit­spra­che­be­fug­nis­se über po­li­ti­sche Din­ge der EU. Die­se neue Ver­fas­sung wür­de al­len EU-Bür­gern zur Ab­stim­mung vor­ge­legt, um ei­ne dau­er­haf­te Le­gi­ti­ma­ti­on zu ge­währ­lei­sten. Dort, wo das Re­fe­ren­dum schei­tert, ruht die po­li­ti­sche Mit­glied­schaft.

    Das EU-Par­la­ment be­kä­me ei­ne zwei­te Kam­mer, die aus EU-Bür­gern be­stün­de und aus­ge­lost wür­de (nä­he­res bei Buch­stein »De­mo­kra­tie und Lot­te­rie«).

    Au­ßen- und mi­li­tär­po­li­tisch wä­re es auf Dau­er schwie­rig. Kann ein Bun­des­staat EU (falls man den über­haupt möch­te) Mit­glied der NATO sein? Ich wür­de die As­so­zia­ti­on wäh­len, die fall­wei­se ent­schei­det, ob man sich den NA­TO-Be­schlüs­sen an­schliesst oder nicht. Ei­ne heik­le Sa­che, zu­ge­ge­ben, ins­be­son­de­re für die bal­ti­schen Staa­ten und Po­len, die vor dem gro­ßen, un­heim­li­chen Russ­land in der NATO Schutz su­chen.

  9. Als Ge­gen­re­de wür­den mir ein­fal­len:

    Die Eu­ro­päi­schen Län­der sind zu he­te­ro­gen, um kei­ne Ex­tra­wür­ste zu­zu­las­sen. Frank­reich war nie In­du­strie­na­ti­on, braucht da­her die in Eng­land ver­hass­ten Agrar­sub­ven­tio­nen wie die Luft zum At­men. Deutsch­land als letz­tes eu­ro­päi­sches In­du­strie­land braucht die bei den Fran­zo­sen ver­hass­ten Ex­port­über­schüs­se und Eng­land setzt ne­ben High­Tec auf die bei al­len ver­hass­te Ci­ty of Lon­don. Um nur mal die Kon­stel­la­ti­on der gro­ßen Drei zu be­trach­ten. Ins­ge­samt ha­ben wir ei­ne Son­nen­sy­stem aus Ex­tra­wür­sten.

    Ei­ne ru­hen­de po­li­ti­sche Mit­glied­schaft bei vol­lem Markt­zu­gang wä­re doch ge­nau das, wie sich die Bri­ten als Pa­ra­dies vor­stel­len. Ich wür­de vor­schla­gen, die Sub­si­dia­ri­tät als Grund­prin­zip stär­ken, aber ein ge­schei­ter­tes Re­fe­ren­dum wür­de dem Land den Sta­tus des nicht­eu­ro­päi­schen Aus­lan­des ge­ben, mit al­len Nach­tei­len.

    Das al­les ist aber Jam­mern auf ganz ho­hem Ni­veau. We­sent­lich beim Wie­ner Kon­gress war ein Kräf­te­gleich­ge­wicht zu er­rei­chen, da­mit kein Land wie­der als He­ge­mon auf­tre­ten kann. Und das Pro­blem be­steht doch mo­men­tan eher im nahen/mittleren/fernen Osten. Den Aus­gleich zwi­schen Türkei/Iran/Saudi Arabien/Ägypten etc. bzw. zwi­schen China/Japan/Indien sä­he ich als Met­ter­nich viel pro­ble­ma­ti­scher. Soll­te ich ra­ten, wür­de ich den näch­sten gro­ßen Krieg im fer­nen Osten ver­or­ten. Kurz­fri­stig müss­te TISAÄ be­frie­det wer­den und mir fie­le nichts Kon­struk­ti­ves ein, aber län­ger­fri­stig soll­te CJI sta­bi­li­siert wer­den.

  10. Ich ver­heh­le nicht, dass ich mit der bri­ti­schen Idee ei­ner Frei­han­dels­zo­ne als EU sym­pa­thi­sie­re. Das be­deu­tet na­tür­lich, dass die Sub­ven­tio­nen an wen und von wem auch im­mer weg­fal­len bzw. auf die na­tio­na­le Ebe­ne zu­rück­ge­ge­ben wer­den. Ge­nau das wol­len ja z. B. die Bri­ten nicht.

    Das Pro­blem mit der Sub­si­dia­ri­tät liegt m. E. dar­in, dass je­der dar­un­ter et­was an­ders ver­ste­hen kann. Die For­mu­lie­run­gen in den ent­spre­chen­den EU-Ver­trä­gen sind der­art ver­wir­rend und viel­deu­tig, dass es al­les und nichts be­deu­ten kann.

    Die wirk­lich wich­ti­ge Fra­ge ist: Soll die EU ein Bun­des­staat wer­den oder ein Staa­ten­bund (blei­ben)? Au­ßer viel­leicht Lu­xem­burg ken­ne ich kein Land, in dem die Be­völ­ke­rung ei­nen Bun­des­staat EU zu­mal in den ak­tu­el­len In­sti­tu­tio­nen be­für­wor­ten wür­de. Die Vor­be­hal­ten re­sul­tie­ren ja oft ge­nug da­hin­ge­hend, dass zu­wei­len sug­ge­riert wird, dass da­hin die Rei­se geht. Aber sol­che Ent­wick­lun­gen sind nie de­bat­tiert und kom­mu­ni­ziert wor­den. Da­her er­scheint die EU als Eli­te-Pro­jekt.

    Beim Na­hen Osten ha­ben wir na­tür­lich so­fort ein »Kissinger«-Problem. Hun­ting­ton hat in sei­nem »Clash of Civilization«-Buch vor 20 Jah­ren be­klagt, dass es im Na­hen Osten kei­ne Füh­rungs­macht gibt, die als He­ge­mon für die Re­gi­on agiert. Die USA hat­ten wohl de Idee Sau­di-Ara­bi­en ent­spre­chend »auf­zu­bau­en« – aber wenn jetzt der Iran nicht mehr Pa­ria ist, wird die­se Zu­wei­sung bröckeln. Und der Dau­er­kon­flikt um Is­ra­el ist da­mit auch noch nicht ge­löst.

    Mei­ne The­se zu Asi­en geht da­hin, dass Chi­na in mehr­fa­cher Hin­sicht ein Un­si­cher­heits­fak­tor ist. Zum ei­nen we­gen sei­ner ter­ri­to­ria­len An­sprü­che in Rich­tung Tai­wan. Und zum an­de­ren in sei­ner in­nen­po­li­ti­schen La­ge. Ich glau­be, dass Chi­na durch­aus im­plo­die­ren kann: Die Ui­gu­ren als mus­li­mi­sche Min­der­heit, die sich even­tu­ell ir­gend­wann ra­di­ka­li­sie­ren­den Ti­be­ter (was ist, wenn der Da­lai La­ma ir­gend­wann stirbt?) und das so­zia­le Un­gleich­ge­wicht im Land könn­ten ei­ne ge­fähr­li­che Mi­schung bil­den. Die Fol­gen wä­ren so­wohl für die Re­gi­on als auch für die Welt­wirt­schaft fa­tal.

    Ge­fähr­lich sind auch die Re-Na­tio­na­li­sie­rungs­be­we­gun­gen so­wohl in In­di­en wie auch in Ja­pan. Es wird sich zei­gen, ob die De­mo­kra­tie in In­di­en auf Dau­er stär­ker und er­folg­rei­cher ist als die chi­ne­si­sche Dik­ta­tur.