Der Frie­dens­kai­ser (1)

Er hieß An­drás mit Vor­na­men...

Spon­tan grei­fe ich zum Im­per­fekt, doch be­stimmt trägt er den Na­men im­mer noch mit sich her­um, von ei­nem Ab­le­ben ist mir nichts zu Oh­ren ge­kom­men. Im Lauf der Jah­re ver­schwand er aus mei­nem Blick­feld, mach­te sich rar, ver­brach­te ein For­schungs­se­me­ster oder zwei in den USA, über­sie­del­te in ein an­de­res Land, ließ im­mer we­ni­ger von sich hö­ren, zu­letzt, seit ei­ner Rei­he von Jah­ren, gar nichts mehr. Er hieß An­drás, be­stand auf dem Ak­zent über dem zwei­ten A und konn­te bis­sig wer­den, wenn ihn je­mand An­dre­as nann­te. Die paar Ar­ti­kel aus sei­ner Fe­der, die mir zu Ge­sicht ge­kom­men sind, zeich­ne­te er, wenn über­haupt, dann mit »An­ders Schwarz«, im­mer am En­de des Tex­tes. Auch auf dem Ge­dicht­band, den er in Ita­li­en ver­öf­fent­lich­te, stand die­ser für Ita­lie­ner schwer auszu­sprechende Na­me. An­ders, wie der Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten. Die­se Par­al­le­le ist mir erst vie­le Jah­re spä­ter be­wußt ge­wor­den. Mu­sil nennt sei­nen Hel­den ja nie beim Nach­na­men, und die Fi­gu­ren des Ro­mans tun es auch nicht.

Erst kürz­lich, beim Nach­den­ken über das Schick­sal des Mul­ti­ta­lents, ist mir ein­ge­fal­len, was ich ver­ges­sen oder ver­drängt hat­te, näm­lich daß wir ei­ne Art Zeit­schrift her­aus­ga­ben, ein paar hek­to­gra­phier­te, mit Bü­ro­klam­mern zu­sam­men­ge­hef­te­te Blät­ter, meist un­ter dem Ti­tel Die Par­al­lel­ak­ti­on, manch­mal auch nur Die Ak­ti­on, oder ganz oh­ne Ti­tel. Ei­ne von An­drás’ Theo­rien be­sag­te, daß Mu­sil sei­ne Par­al­lel­ak­ti­on als Ge­gen­un­ter­neh­men zur Ak­ti­on ver­stand, der von Franz Pfem­fert her­aus­ge­ge­be­nen Zeit­schrift, die in den Jah­ren, als sich Mu­sil an sein Groß­pro­jekt mach­te, kom­mu­ni­sti­sche Pro­pa­gan­da trieb. An­drás, im vor­letz­ten Kriegs­jahr ge­bo­ren, mein­te, es ge­he heut­zu­ta­ge dar­um, Ak­ti­on und Parallel­aktion mit­ein­an­der zu ver­schmel­zen, al­so in­di­vi­du­el­le Frei­heit und Ge­mein­schafts­sinn. Er war 1956 mit sei­nem Va­ter, ei­nem Kla­ri­net­ti­sten, der spä­ter ins Mo­zar­te­um-Or­che­ster auf­ge­nom­men wur­de, aus Un­garn nach Öster­reich ge­kom­men und hat­te sich 1968, als er sein Stu­di­um be­gann, für den Pra­ger Früh­ling be­gei­stert. Un­se­re Zeit­schrift ver­trie­ben wir an der Uni­ver­si­tät, nur An­drás ging in die Ca­fés und Bier­kel­ler und ver­kauf­te »das Or­gan«, wie er es nann­te, zu wech­seln­den Prei­sen und mit be­trächt­li­chem Er­folg. Manch­mal nahm er Mi­cha­el mit oder Franz, sei­nen Schü­ler – als sol­chen se­he ich ihn vor mir, ob­wohl er äl­ter war und auf den er­sten Blick mehr Ein­druck mach­te als sein Men­tor. Franz war der ein­zi­ge von uns, der zu ei­ner ge­wis­sen, wenn auch pro­ble­ma­ti­schen und kurz­fri­sti­gen, Be­rühmt­heit ge­lan­gen soll­te.

Jetzt, beim Nach­sin­nen, will mir schei­nen, daß der be­schei­de­ne Er­folg der Par­al­lel­ak­ti­on durch die Il­lu­stra­tio­nen des Ori­gi­nal­ge­nies be­dingt war: Mi­cha­el, den An­drás, der je­wei­li­gen Si­tua­ti­on an­ge­mes­sen, mal Mi­chel in deut­scher, dann wie­der Mi­chel­an­ge­lo in ita­lie­ni­scher Aus­spra­che nann­te. Ei­ni­ge sei­ner Zeich­nun­gen wa­ren tat­säch­lich Il­lu­stra­tio­nen zu Tex­ten, und zwar in der Ma­nier von Ge­or­ge Grosz, des­sen Zeit da­mals, mehr als ein Vier­tel­jahr­hun­dert nach dem En­de des zwei­ten Welt­kriegs, längst vor­bei war; oft aber ließ un­ser Mi­chel sei­ne Phan­ta­sie schwei­fen und zeich­ne­te ir­gend et­was, Blu­men, rei­ne For­men, Ge­sich­ter. Ich er­in­ne­re mich an die im Ge­krit­zel doch of­fen­sicht­li­che Dar­stel­lung ei­ner Vul­va, die er beim Tref­fen in der Stein­gas­se da­mit recht­fer­tig­te, daß er das The­ma Cour­bets mit den Au­gen Pi­cas­sos zu se­hen ver­sucht ha­be. An­drás ant­wor­tet schlicht, es be­dür­fe kei­ner Recht­fer­ti­gun­gen. Er war der An­sicht, un­ser Or­gan sol­le den un­be­wuß­ten Trie­ben und Wün­schen al­ler Be­tei­lig­ten Aus­druck ge­ben. Und das ge­schah auch, mehr oder min­der deut­lich, in die­ser ab­strak­ten Pro­sa. Ab­strakt wir­ken die Bei­trä­ge in mei­ner Er­in­ne­rung; lei­der kann ich die Aus­sa­ge nicht über­prü­fen, denn die Hef­te, die ich lan­ge auf­be­wahr­te, oh­ne sie je wie­der an­zu­se­hen, sind bei ei­nem mei­ner vie­len Um­zü­ge zu­rück­ge­blie­ben. Wahr­schein­lich lie­gen sie in ei­ner Schach­tel im Kel­ler ei­nes Ge­mein­de­baus auf ei­ner Er­he­bung mit­ten in Wien, vor Über­schwem­mun­gen ge­feit wie mei­ne al­ten Ma­nu­skrip­te, von de­nen we­nig­stens ei­ne (die »Hun­de­ge­schich­te«) in der Par­al­lel­ak­ti­on ver­öf­fent­licht wor­den ist.

Die Tref­fen un­se­res Krei­ses fan­den an wech­seln­den Or­ten statt, nur ein paar Mal, wenn der Druck der Zeit­schrift be­vor­stand, in der Stein­gas­se. Dort hat­te die Grup­pe revolu­tionärer Mar­xi­sten, die uns ih­ren Hek­to­gra­phen zur Ver­fü­gung stell­te, in ei­ner al­ten Werk­statt ihr Quar­tier. Mei­stens tra­fen wir uns in ei­nem klei­nen Hör­saal des Ger­ma­ni­stik-In­sti­tuts, denn schließ­lich war der Le­se­kreis aus ei­nem Se­mi­nar her­vor­ge­gan­gen, das ein Pro­fes­sor über den Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten hielt. In die­sem Se­mi­nar hat­te An­drás, als er sein Re­fe­rat zum The­ma »Der Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten als Uto­pie für das 20. Jahr­hundert« hal­ten soll­te, zwan­zig Mi­nu­ten ge­schwie­gen bzw. Stil­le ge­for­dert, als ihn der Pro­fes­sor auf­for­der­te, doch end­lich zu be­gin­nen. »Ich den­ke nach«, lau­te­te sei­ne la­ko­ni­sche Er­klä­rung. Der Pro­fes­sor re­spek­tier­te das Schwei­gen und hielt, nach­dem zwan­zig Mi­nu­ten ver­stri­chen wa­ren, ei­nen spon­ta­nen, na­he­zu druck­rei­fen Vor­trag über die Vor­ge­schich­te des Schwei­gens von Mei­ster Eck­hart über No­va­lis bis Hu­go von Hof­manns­thal. Kurz vor dem En­de des Se­mi­nars er­hob sich An­drás und sag­te, Der Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten sei ein red­se­li­ger Ro­man; man müs­se das Schwei­gen in sei­nen Gär­ten sprie­ßen las­sen. Er ver­ließ den Hör­saal, oh­ne die Tür hin­ter sich zu schlie­ßen. Im Foy­er der li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen Fa­kul­tät lehn­te er an ei­ner Säu­le und frag­te ei­ni­ge, die aus dem Se­mi­nar ka­men, dar­un­ter mich, ob wir In­ter­es­se an ei­nem al­ter­na­ti­ven Le­se­kreis hät­ten, ei­ner Par­al­lel­ak­ti­on so­zu­sa­gen. Das er­ste Tref­fen, nur fünf oder sechs Leu­te – spä­ter wuchs un­ser Kreis auf mehr als zwan­zig Per­so­nen an – fand in ei­nem Schloß in Anif statt, wo sein Va­ter ei­ne Woh­nung mie­te­te.

In die­se Räum­lich­kei­ten lud uns An­drás nur, wenn der Va­ter, ein Ver­trau­ter Ka­ra­jans, wie mir erst viel spä­ter zu Oh­ren kam, auf Tour­nee war. Wir nutz­ten die Frei­heit nicht, wie der Le­ser jetzt viel­leicht den­ken wird, um Par­tys zu fei­ern; nein, die Tref­fen fan­den um 10 Uhr vor­mit­tags statt, cum tem­po­re, ge­nau wie das Se­mi­nar des Mu­sil-Pro­fes­sors. Es gab Kaf­fee und Kek­se, und wir sa­ßen im gut­bür­ger­li­chen Auf­ent­halts­zim­mer um ei­nen run­den Tisch mit ge­schwun­ge­nen Bei­nen, von dem wir das ge­hä­kel­te Tisch­tuch ab­zo­gen, lun­ger­ten auf dem Bei­eder­mei­er­so­fa, auf dem Per­ser­tep­pich, im Fau­teuil oder im Schau­kel­stuhl, der sich zwi­schen wu­chern­den Topf­pflan­zen ver­barg. Der Hund fläz­te sich un­ter den schwar­zen Flü­gel und reg­te sich nicht, schau­te nur hin und wie­der, die Schnau­ze auf dem Par­kett­bo­den, aus trau­ri­gen Au­gen sei­ne Her­rin oder ei­nen der Par­al­lel­ak­teu­re an. Nur wenn die Putz­frau her­ein­kam, wur­de er un­ru­hig und be­gann zu bel­len. »Im­mer schimp­fen«, pfleg­te die grob­kno­chi­ge Frau, ei­ne Ju­go­sla­win, die in der Kü­che je­den ein­zel­nen Topf und je­den Tee­kes­sel blank­po­lier­te, zu sa­gen. Ihr Kom­men­tar er­reg­te den Hund nur noch mehr, so daß sich die stets schwarz ge­klei­de­te Frau un­ver­rich­te­ter Din­ge in den Flur zu­rück­zog.

Die­se »Son­der­sit­zun­gen«, wie An­drás sie nann­te – höch­stens vier oder fünf im Zeit­raum von et­wa zwei Jah­ren – dau­er­ten bis in den Nach­mit­tag, manch­mal bis ge­gen Abend, und da­nach gin­gen ei­ni­ge von uns zu­sam­men weg, mei­stens nur An­drás, Franz, Mi­chel­an­ge­lo, die Hun­de­be­sit­ze­rin und ich. Wir fuh­ren im Ta­xi, das An­drás be­zahl­te, in die In­nen­stadt, und lie­ßen uns am Fest­spiel­haus ab­set­zen, als müß­ten wir zur Ge­ne­ral­pro­be. Un­ser er­klär­ter Vor­wand war, die Ak­ti­on zu ver­kau­fen. Ein­mal gab es Schwie­rig­kei­ten, weil ein Ta­xi­len­ker den Hund nicht auf­neh­men woll­te, ein an­de­res Mal we­gen Franz, der laut wur­de und den Len­ker be­schimpf­te. Was den Hund an­geht, so war es er­staun­lich, wie füg­sam die­ses gro­ße Tier, ei­ne Mi­schung aus Schä­fer und Hus­kie, in den Wa­gen sprang und sich kat­zen­ar­tig im Hohl­raum vor dem Bei­fah­rer­sitz ein­roll­te. Zwi­schen mei­nen Bei­nen, denn Ju­dith, die Her­rin, saß hin­ten im Fond bei den Män­nern, wo sie ih­re Spä­ße trie­ben, zum Bei­spiel, in­dem sie das Mäd­chen da­zu brach­ten, sei­nen Pull­over zu he­ben und ei­nem Ver­kehrs­po­li­zi­sten die nack­ten Brü­ste zu zei­gen. Daß Franz da­mals an sei­nem er­sten Ro­man schrieb, wuß­ten wir an­de­ren nicht. An­drás und sein Schü­ler ver­brach­ten viel Zeit zu­sam­men; ich hielt und hal­te es im­mer noch für mög­lich, daß An­drás die Ge­schich­ten auf­schrieb, die ihm Franz er­zähl­te. Zu­min­dest die des er­sten Ro­mans mit dem lei­se iro­ni­schen Ti­tel Schö­ne Ta­ge, der ei­gent­lich nur von An­drás stam­men konn­te. Schatt­sei­te, das hat sich dann der Ver­lag ein­fal­len las­sen. Oder der Au­tor selbst.

Wor­über re­de­ten wir in der Mu­si­ker­woh­nung? An­fangs über die­sel­ben The­men wie im Hör­saal oder in der Stein­gas­se bei den re­vo­lu­tio­nä­ren Mar­xi­sten. Ro­man­ka­pi­tel, ein­zel­ne Fi­gu­ren, Diot­ima (Hat­te sie wirk­lich et­was mit Höl­der­lin ge­mein? Wor­in be­stand die wah­re Emp­find­sam­keit?), Stumm von Bord­wehr (Ein Na­iv­ling? Ein durch­trie­be­ner Re­ak­tio­när? Oder doch ei­ner, den Ul­rich, wenn er nur woll­te, er­zie­hen könn­te wie den Hans Sepp und sei­ne na­tio­nal­my­sti­sche Ban­de?), Arn­heim (Gleich­zu­set­zen mit Tho­mas Mann? Ty­pisch deutsch? Ein Spi­on?), ge­sell­schafts­po­li­ti­sche Fra­gen. Re­vo­lu­ti­on oder Re­form, wo­für trat Ul­rich ein? Muß­te man sich ent­schei­den, oder konn­te man die­se Fra­gen auch in der Schwe­be las­sen, sie von den Um­stän­den ent­schei­den las­sen? Wie wich­tig war bei all­dem der sub­jek­ti­ve Fak­tor? Gab es ein Ich oder nur Platz­hal­ter im funk­tio­na­len – dys­funk­tio­na­len? – Sy­stem? War­um hat­te Ul­rich sei­ne Schwe­ster ver­ges­sen, wie­so tauch­te sie erst so spät auf? War die Schwe­ster viel­leicht ei­ne Wieder­gängerin der eben­falls ver­ges­se­nen Gat­tin des Ma­jors? Was hat­te es mit die­ser Ver­geß­lich­keit auf sich? Wa­ren Mu­sil Feh­ler un­ter­lau­fen? Oder wa­ren die Fi­gu­ren al­le­samt Ma­rio­net­ten ei­ner Ma­schi­ne­rie na­mens Ka­ka­ni­en oder Ro­man, so­gar Ul­rich, der glaub­te, dar­über­zu­ste­hen? Wa­ren die Pla­nun­gen die­ser Po­li­ti­ker, Wirt­schafts­bos­se, Be­am­ten, Sol­da­ten fort- oder doch eher rück­schritt­lich? War der Frie­dens­kai­ser nicht der ver­lo­ge­ne Kriegs­herr, sei­ne Par­al­lel­ak­ti­on nur da­zu da, von den tat­säch­li­chen, längst im Gan­ge be­find­li­chen Vor­be­rei­tun­gen ab­zu­len­ken, bei de­nen er sich Arn­heims als ei­nes öko­no­mi­schen Hel­fers­hel­fers be­dien­te, der vor al­lem fi­nan­zi­el­le In­ter­es­sen hat­te? Und wel­che Ab­sich­ten ver­folg­te ei­gent­lich Ul­rich? Ver­folg­te er über­haupt Ab­sich­ten? War er nicht ein­fach nur ein no­to­ri­scher Au­ßen­sei­ter? Ein Nörg­ler? Ein Spie­ler? Blo­ßer Be­ob­ach­ter, Schrift­stel­ler­typ? Hat­te Mu­sil al­les un­ter Kon­trol­le, oder wur­de er von sei­nem Ro­man kon­trol­liert? Bei all die­sen Dis­kus­sio­nen, de­nen er Stich­wor­te lie­fer­te, hielt sich An­drás eher zu­rück, wenn auch nicht so ra­di­kal wie im Se­mi­nar des Pro­fes­sors. Im Un­ter­schied zu den an­de­ren Par­al­lel­ak­teu­ren schien ihn vor al­lem die My­stik zu fas­zi­nie­ren, von der erst im zwei­ten Buch des Ro­mans die Re­de ist, und be­son­ders die Fra­ge, ob die­ses Lust­wan­deln und Her­um­lie­gen im ab­ge­schie­de­nen Gar­ten ein al­ter­na­ti­ves Le­bens­pro­gramm dar­stel­len kön­ne und wie sie in Ver­bin­dung mit dem gro­ßen Gan­zen, mit der Ge­sell­schaft, mit der Po­li­tik zu brin­gen sei. Be­son­ders auf die­se letz­te Fra­ge, die »Leb­bar­keit« – das Wort zün­gelt aus mei­nem Ge­dächt­nis – ei­ner Uto­pie, schien An­drás ei­ne Ant­wort schmerz­lich zu ver­mis­sen. Nicht zu­letzt durch die Wie­der­lek­tü­re von Mu­sils Wer­ken ist mir be­wußt, daß das Ge­dächt­nis ein ver­änd­lich‘ Ding ist. Schon mög­lich, daß ich hier nur mei­ne ei­ge­nen, da­mals stum­men Ge­dan­ken wie­der­ge­be, denn ich saß die mei­ste Zeit wort­los da­bei, ganz Au­ge und Ohr und Ge­dan­ke. Ohr für die Aus­füh­run­gen der Par­al­lel­ak­teu­re, Au­ge für Ju­dith und, so selt­sam es klin­gen mag, für die­sen schö­nen, me­lan­cho­li­schen Hund un­ter dem schwar­zen Kla­vier mit der gol­de­nen Auf­schrift »Stein­way«. Ge­dan­ke für . . . den Zu­sam­men­hang.

An­drás sprach manch­mal für, manch­mal ge­gen die My­stik. Ge­gen und für das zurück­gezogene Da­sein in Sym­bio­se mit ei­ner ver­trau­ten Per­son, »eher vom an­de­ren Ge­schlecht« (er sag­te das iro­nisch, mit ei­nem Sei­ten­blick auf mich, wie mir schien), in ei­nem schö­nen Gar­ten, den man vom ver­haß­ten Va­ter ge­erbt hat. »So wie hier«, sag­te er und deu­te­te zum gro­ßen, drei­flü­ge­li­gen Fen­ster, vor dem sich tat­säch­lich ein vor­ne ge­pfle­ger, wei­ter hin­ten dann wild wu­chern­der Gar­ten er­streck­te, der erst am Wald­rand zu en­den schien. »Aber man muß aus sich her­aus­ge­hen, die Fes­seln hin­ter sich las­sen, auch wenn es schö­ne Schnör­kel sind. Ja, ge­ra­de dann.« Franz nick­te zu­stim­mend, sei­ne Fes­seln wa­ren wohl nicht so schön ge­we­sen. Im Ver­lauf des Nach­mit­tags bil­de­ten sich Grüpp­chen, der ei­ne oder an­de­re ver­ab­schie­de­te sich, ir­gend­wann setz­te sich An­drás ans Kla­vier und be­gann zu spie­len. Nie­mand schien sei­nem Spiel Be­ach­tung zu schen­ken, und er selbst wand­te öf­ters den Kopf her­um, mach­te zwi­schen­durch ei­ne Be­mer­kung, stand auf, um ir­gend­ei­nen Hand­griff zu tun. Die Ton­fol­gen schweif­ten zwi­schen den Kör­pern, ein Li­ni­en­ge­wirr, ein ge­hei­mes Sy­stem ähn­lich den Licht­strei­fen der Fahr­zeu­ge auf je­nen Post­kar­ten, die Nacht­an­sich­ten von Groß­städ­ten zei­gen. Ich emp­fand die­ses Flu­ten und Schwe­ben wie ei­ne ste­ti­ge, leich­ter und stär­ker wer­den­de Be­rüh­rung, ei­ne Zärt­lich­keit an uns al­len, die uns An­drás mit leich­ter Hand und ge­schmei­di­gen Fin­gern zu­kom­men ließ. Nur ein­mal frag­te ich ihn, was er da spie­le, und sei­ne Ant­wort war, über den Flü­gel hin­weg ge­spro­chen: »Wo­her soll ich das wis­sen?« Spä­ter hol­te er dann noch ein an­de­res Instru­ment, aus ei­nem an­de­ren Zim­mer – kei­ne Kla­ri­net­te, nein, son­dern ein Te­nor­sa­xo­phon, und die Tö­ne, die er ihm ent­lock­te, oder ge­nau­er (mit sei­nen ei­ge­nen Wor­ten): als de­ren »Ope­ra­teur« er fun­gier­te, die­se Tö­ne wa­ren Ver­wand­lun­gen des­sen, was der Stein­way her­ge­ge­ben hat­te, we­ni­ger kom­plex, da­für kon­zen­trier­ter, in­ten­si­ver, bis zu ei­nem Punkt, an dem das Wohl­be­ha­gen des Hö­rens, das die Brust und den gan­zen Kör­per bis hin zu den Glied­ma­ßen er­füll­te, in Schmerz um­zu­schla­gen und den Brust­korb zu spren­gen droh­te. Da hör­te er dann zu spie­len auf . . . Stil­le, die Ge­sprä­che ver­stumm­ten. Und ka­men auch nach der ent­stan­den Pau­se nicht mehr in Fahrt. Es wur­de Zeit für den Auf­bruch.

Ich ha­be ihn ge­fragt, wie­vie­le In­stru­men­te er denn be­herr­sche. Dum­me Fra­ge. Die Ant­wort, lä­chelnd und wi­der­wil­lig: Kei­nes. Die In­stru­men­te be­herrsch­ten ihn, wenn er mit dem Spiel be­gin­ne, fal­le es ihm schwer, sich zu ent­zie­hen. Egal wel­ches In­stru­ment? »Ich bin das In­stru­ment, nicht sie.« Mit dem Sport, füg­te er hin­zu, sei es nicht an­ders. »Auch Ten­nis ist ei­ne Kunst, die dich wählt.« Sol­che Sät­ze, Apho­ris­men, gab er manch­mal von sich. Oder Ka­lau­er. Ka­lau­er, Apho­ris­men. Ten­nis spiel­te er üb­ri­gens wie . . . ja, wie das Sa­xo­phon, er hol­te im­mer ei­nen Ton her­vor, ei­nen Schlag, den man nicht er­war­te­te, stürm­te ans Netz, ob­wohl er dem Geg­ner da­mit frei­en Raum schenk­te, zog sich zu­rück, wenn er den Punkt ma­chen konn­te, spiel­te lan­ge Zeit auf der Grund­li­nie wie in Trance, wich so­fort wie­der zu­rück, wenn er ein­mal zwei Schrit­te nach vor­ne ge­tan hat­te, ahn­te den Flug des Balls vor­aus, setz­te plötz­lich ei­nen un­wahr­schein­li­chen Top­spin, der hin­ter dem Rücken des Geg­ners her­ab­fiel wie ein Ge­schoß aus hei­te­rem Him­mel. Rein zu­fäl­lig, auf ei­nem aus­ge­dehn­ten Spa­zier­gang mit Ju­diths Hund, war ich an ei­ner Sport­an­la­ge in Morzg vor­bei­ge­kom­men, wo er ge­ra­de mit ei­nem mir un­be­kann­ten Mann spiel­te; an­ders als durch Zu­fall hät­te ich von sei­ner sport­li­chen Ak­ti­vi­tät ver­mut­lich nie Kennt­nis be­kommen. Ich war über­rascht, wie schnell die bei­den spiel­ten, mit wel­cher Wen­dig­keit und Kraft, vor al­lem An­drás, der es, stell­te ich mir vor, durch har­tes Trai­ning zum Pro­fi hät­te brin­gen kön­nen. Aber Trai­ning war nicht sei­ne Sa­che, auch hät­te er da­für gar nicht ge­nü­gend Zeit ge­habt. Er trenn­te die Be­rei­che, die ver­schie­de­nen Ebe­nen, auf de­nen sich sein Le­ben ab­spiel­te, als hät­te er Angst, die Per­so­nen, die sie be­völ­ker­ten, könn­ten ein­an­der in die Que­re kom­men, ein Cha­os an­zet­teln und ihn an der Aus­übung sei­ner Frei­heit hin­dern. Es war kein Dop­pel­le­ben im her­kömm­li­chen Sinn; auch »Viel­fach­le­ben« wür­de ich es nicht nen­nen, ob­wohl wir da­mit der Wirk­lich­keit et­was nä­her kom­men. Es war ein­fach so, daß sich die Din­ge, al­so die Mög­lich­kei­ten, wie von selbst er­ga­ben, ent­wickel­ten und ver­viel­fach­ten, oh­ne sein Zu­tun, und daß es ihm schwer­fiel, nein zu sa­gen. Nur dann, wenn et­was – ei­ne fol­gen­schwe­re Ent­schei­dung, ein ernst­haft zu pla­nen­der Schritt – ge­for­dert war, wei­ger­te er sich oder ver­schwand für ei­ne Wei­le von der Bild­flä­che.

Sein Ten­nis­part­ner war üb­ri­gens Arzt im Lan­des­kran­ken­haus; bei ei­nem kur­zen Auf­enthalt we­gen ei­ner Pilz­ver­gif­tung er­kann­te ich ihn wie­der. An­drás selbst er­zähl­te mir spä­ter, er ge­be Ten­nis­stun­den zur Auf­bes­se­rung sei­nes Ge­halts (es war kei­nes­wegs so, daß er aus al­lem ein Ge­heim­nis mach­te). Zwei­fel­los war das, was er ne­ben­bei ver­dien­te, ein Viel­fa­ches von dem Be­trag, den ihm das Ma­the­ma­tik-In­sti­tut für sei­ne Mit­ar­beit an ei­nem For­schungs­pro­jekt zahl­te. »Mei­ne be­sten Schü­ler sind Haus­frau­en«, sag­te er mit ei­nem Gran Her­ab­las­sung in der Stim­me. Hier be­rühr­ten sich wohl die Be­rei­che, denn ei­ne an­de­re Sei­te sei­ner Exi­stenz war das Schür­zen­jä­ger­tum, das er mit Ma­ßen be­trieb, nicht so hy­ste­risch wie sein Vor­bild, der Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten. Die Frau­en ka­men zu ihm wie die Tö­ne, wie die Bäl­le und die Ideen, die Er­fin­dun­gen, die Schif­fe. Auf dem Ten­nis­platz hat­te ich sei­ne Tä­to­wie­rung ge­se­hen; an der Uni und bei den Tref­fen der Par­al­lel­ak­teu­re trug er stets lang­är­me­li­ge, wei­ße, ge­bü­gel­te Hem­den, im Ge­gen­satz zu den an­de­ren Ak­teu­ren, die im Hip­pie-Look da­her­ka­men und Pul­lis oder T‑Shirts tru­gen. An den mus­ku­lö­sen Ober­ar­men prang­te rechts ein feu­er­spei­en­der Dra­chen und links ein Frau­en­ge­sicht mit lan­gem, wel­li­gem Haar. Ein­mal ver­schränk­te er die Ar­me, und es sah aus, als blie­se der Dra­chen je­ner un­be­kann­ten Frau Feu­er ins Ge­sicht, und über der Stirn der Frau glit­zer­ten Ster­ne, nicht ein ein­zel­ner wie auf den Che-Gue­va­ra-Por­träts, son­dern un­end­lich vie­le. An­zu­neh­men – nein: si­cher, daß er sich die Tä­to­wie­rung in sei­ner Zeit als Schiffs­jun­ge oder See­mann hat­te ma­chen las­sen. Ein Re­likt so­zu­sa­gen, ei­ne Re­li­quie, die her­ein­wirk­te in die Ge­gen­wart, als Ta­lis­man oder als Fluch. Auch die Zei­ten wa­ren ge­trennt, nur sel­ten be­rühr­ten sie ein­an­der.


© Leo­pold Fe­der­mair

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