Rumen Apostoloff kutschiert zwei Schwestern in einem schon betagten Daihatsu über die Strassen Bulgariens. Die beiden Schwestern könnten nicht unterschiedlicher sein. Eine ist zappelig, geschwätzig, naseweis und beschallt vom Rücksitz in schier atemlosen Monologen die beiden anderen Reisenden. Sie ist in Sibylle Lewitscharoffs Buch »Apostoloff« die Ich-Erzählerin. Ihre Schwester, zwei Jahre älter, neben Rumen sitzend (der sie anhimmelt), ist das ruhige, geduldige, gefasste, manchmal etwas somnambul wirkende, kleintragödinnenhafte Pendant. Beide Schwestern bleiben namenlos, was den Titel des Buches sonderbar erscheinen lässt, da für den Leser nun Rumen, der den Schwestern ergebene Nervösling (und unser Hermes) zum Titelheld mutiert und eine gewisse Erwartungshaltung aufgebaut wird.
Aber so seltsam wie die drei in ihren Dialogen, Monologen und gelegentlichem Schweigen (jeder von uns war anders schweigsam) durch dieses Malefizland Thrakien, einem Operettenland, fahren, essen, schlafen, Burgen und Häuser besichtigen und sich erinnern, so seltsam scheint auch mit fortlaufender Lektüre der Titel gewählt, denn Rumen ist keineswegs der auftrumpfende »Held« in diesem Buch, obwohl seine Rolle natürlich weit über das zunächst nahe liegende hinausgeht.
Eine Zeitreise. Ein déjà-vu. Er ist wieder da. Man hält ein neues Buch in der Hand, »Meine Preise«. Natürlich weiss man – es ist ein nachgelassenes Werk. Raimund Fellinger ordnet es am Ende philologisch ein. Um 1980 (vielleicht 1981) herum hatte es Thomas Bernhard fertiggestellt; einige Seiten des Typoskripts sind faksimiliert. Für einen kurzen Nachmittag nur beginnt die Wüste wieder zu leben. Aber klar, Thomas Bernhard bleibt tot und bis auf weiteres sind keine Wunder zu erwarten.
Naturgemäss (!) möchte der Verlag eine Art Revival begründen. Ein neues Buch! Zwanzigster Todestag! Josef Winkler meinte neulich, dass kaum ein Schriftsteller die österreichische Literatur der 1960er bis 90er Jahre so beeinflusst habe wie Thomas Bernhard (zu den Epigonen seufzte er). Tatsächlich war Bernhard kurze Zeit auch der meistgespielte Dramatiker auf deutschsprachigen Bühnen. Und heute? Bernhard werde von den jungen Schriftstellern, so Winkler, kaum noch gelesen (ähnlich wie Handke, aber das ist ein anderes Thema).
Erstaunlich, wie Xaver Bayers Geschichten nachklingen. Tage später ist plötzlich eine Formulierung wieder da. Oder ein Bild. Beispielsweise der Ich-Erzähler, der in Paris verhaftet und von den Polizisten aufs Revier begleitet wird und dabei plötzlich mit der Vorstellung kokettiert, man könne denken, ich selbst sei der Kommissar anstatt des Verhafteten (»Noch einmal für Jean-Louis Trintignant«). Er beginnt plötzlich den französischen Schauspieler zu imitieren: Ich setze bewusst meine Schritte so resolut, dass es für einen in der Situation Uneingeweihten so wirken könnte, als wäre ich es, der die Flics, meine Untergebenen, hinüber zum Kommissariat führt, so als handelte es sich darum, in den nächsten Minuten, drüben, in meinem Büro, die Aufklärung eines Falls in Angriff zu nehmen… Nur Sekunden dauert diese Verwandlung, die augenscheinlich niemand mitbekommt.
Oder der innere Selbstmonolog eines LKW-Fahrers (»Höhenstraßengespräche«), in den immer wieder Beobachtungsfetzen einfliessen, die im gleichen Moment einen Eindruck konterkarieren und damit verblüffenderweise gleichzeitig erweitern: Zwischen den Stämmen der Bäume im krautigen Unterholz blühen die Herbstzeitlosen, und da und dort blinkt das Rot einer weggeworfenen Coladose oder das Grün einer Flasche auf. Da bedarf es der Steigerung fast nicht mehr, dass die Kehlen heiser vom Schweigen geworden sind.
Der Abstieg von nicht näher beschriebenen Wanderern aus einem Höhenwald. Es dämmert schon und sie hatten an manchen Ecken regelrecht das Gefühl, dass die Dorfbewohner in der Zeit, die wir im Wald am Gipfel verbracht hatten, ihre Häuser geringfügig umgestellt hatten, wie um uns in die Irre zu führen. Sie verlieren vollkommen die Orientierung, können auch niemanden fragen, weil sie plötzlich die Sprache nicht mehr verstehen und suchen fast wie die ersten Menschen ein Entkommen aus einem Landschaftslabyrinth (hin zu ihrem »Sehnsuchtsort«, dem Parkplatz).
Es liegt etwas in der Luft
In »Der Nichtsdestotrotzraum« hört ein Ich-Erzähler zunächst vereinzelte Schreie, dann Wimmern und wird dabei von seiner Lektüre abgelenkt. Zunächst meint er es handele sich um Kinderlärm, dann glaubt er, jemand wird gequält. Er kann aber die Quelle des Lärms nicht lokalisieren und wird immer unruhiger. Er überlegt, die Polizei anzurufen, tröstet sich jedoch dann mit der Annahme, dass dort vielleicht ein Paar sadomasochistische Sexspiele veranstaltet oder das die Bauarbeiter, die Umbauarbeiten am Haus vornehmen, in der Mittagspause ein Pornovideo von ihren Handys abspielen. Als dann die Kreissägearbeiten wieder beginnen nimmt er dies zum Anlass den Polizeianruf erst recht nicht mehr zu tätigen. (Hier gibt es allerdings eine kleine Assoziation innerhalb der Erzählung, die nicht verraten werden soll.)
In fast allen zweiundzwanzig Geschichten scheint etwas in der Luft zu liegen, eine dunkle, rätselhafte, nicht näher konkretisierbare aber ständig als Möglichkeit anwesende Bedrohung. Der Leser wird ohne jegliche Einführung in ein Setting geworfen, in das er sich zunächst einmal zurechtfinden muss (was allerdings problemlos gelingt). Die Protagonisten scheinen wie Delirierende des Daseins. Manche (manche?) sind unbarmherzig militant auf eine bestimmte Aufgabe gerichtet, die nicht selten physisch Besitz von ihnen ergriffen hat. Sie sind dabei häufig von Emotionen und damit auch von Empathie befreit oder Verdrängen diese zumindest; manchmal erscheinen sie wie die Eloi in Wells’ »Zeitmaschine« oder bewegen sich einer »1984«-Welt Orwellscher Prägung oder wirken ihrer Absurdität ausgeliefert wie zeitgenössische Sisyphos-Nachfolger.
Günter Grass: Die Box
Den Ausweg, Günter Grass’ neues Buch »Die Box« in vorauseilender Milde mit den Werken der Vergangenheit des Schriftstellers zu verrechnen, hat die »ZEIT« dahingehend verpasst, dass sie mit Andreas Maier einen Rezensenten beauftragte, der nach eigener Aussage vorher noch kein Buch von Grass gelesen hatte. »Der Umblätterer« vermutet hier nicht zu Unrecht ein taktisches Vorgehen. In dem Maier offen mit seinem Nichtwissen kokettiert, sogar suggeriert, die Ahnungslosigkeit sei vorteilhaft für die Rezeption dieses Buches, wird dem Leser eine Art neuer, naiver, ja: unschuldiger Rezensentenblick vorgespielt. Was auf den ersten Blick originell erscheint, muss aber bei einer Person wie Grass und einem Buch wie die »Die Box« scheitern.
Denn (1.) ist Grass auch (und vor allem) eine politische Person und wird als solche in der Öffentlichkeit stärker wahrgenommen als über seine schriftstellerischen Werke. Die Urteile über Grass resultieren in den seltensten Fällen über das literarische Oeuvre, wie die Rezeption seines »Zwiebel«-Buches exemplarisch gezeigt hat. Und (2.) ist das Buch »Die Box« ohne Vorkenntnisse wenigstens einiger Bücher von Grass sehr viel schwieriger verstehbar. Schliesslich handelt es sich nicht um eine linear erzählte (Auto-)Biografie, sondern um ein dezidiert literarisches Projekt.
Richard Hoffmanns 50. Geburtstag Ende November 1982 in Dresden – und die Familie, die Freunde, die Arbeitskollegen (einige davon »Genossen«) kommen zusammen; auch diejenigen, die man sonst selten oder nie sieht (es gibt Besuch aus Südamerika). Hoffmann ist Chirurg, seine Frau Anne (geborene Rohde) Krankenschwester. Sohn Christian ist 17 Jahre alt, Robert zweieinhalb Jahre jünger.
Die Vorbereitungen zu dieser Feier, dann die Feierlichkeiten selber (man erinnert sich an andere Bücher, die so beginnen), dem grossen und teuren Buffet (mit manch seltenen Zutaten), dem innigen Hauskonzert von Christian und Ezzo und Reglinde (den Kindern von Christians Onkel Niklas), den »Fehden« der Blas- und Streichinstrumentalisten. Festreden mit politisch eindeutigen oder mehrdeutigen Anspielungen. Überhaupt das Geplauder, die Dispute: man kurz nach dem Tod von Leonid Breschnew, die Spekulationen um den Nachfolger Andropow sind voll im Gange, in Deutschland hatte es Helmut Kohl geschafft und man hört von der Hoffnung, der Westen würde endlich dem »Neuen« härter entgegentreten. Die schroffe Ablehnung Hoffmanns der westdeutschen Ostpolitik gegenüber, die als Wandel durch Anbiederung verspottet wird – und die Gegenposition der Friedensbewegten. Das Zwischen-den-Zeilen-Lesen in den Wurst- und Käseeinwickelpapier[en] namens »Sächsische Neueste Nachrichten«, »Sächsisches Tageblatt« und, vor allem, »Sächsische Zeitung«.
Ida Jessen: Leichtes Spiel
Joachim, ein 40jähriger Junggeselle ist ein bisschen kauzig und zurückhaltend, Besitzer einer Eigentumswohnung mit einigen gehobenen Accessoires und verdient gut, ohne damit zu protzen. Eines Tages lernt er auf einer Geburtstagsparty eines Kollegen die etwas flippige Susan, eine Kindergärtnerin, kennen. Monate später begegnen sie sich erneut und verbringen – fast wider Erwarten – eine Nacht miteinander. Joachim lernt Susans neunjährige Tochter Ditte kennen und es entwickelt sich eine Liaison. Susan ist schnell schwanger und Joachim fiebert dem Ereignis der Geburt seines ersten Kindes entgegen. Susan und Ditte ziehen in Joachims grosse Wohnung; Susan wird Mitbesitzerin.
Aber schon sehr früh beginnt die Entzweiung. Erst kleine Meinungsverschiedenheiten. Dann bemerkt Joachim bei Susan Zeichen zunehmender Gereiztheit und Egozentrik, was er jedoch auf die Schwangerschaft schiebt. Ihre manisch-depressiven Schübe werden immer stärker; Joachim ist mit Susans aggressivem Verhalten und ihrer Rabulistik völlig überfordert.
Katharina Hacker: Die Habenichtse
Isabelle, seit dem frühen Krebstod ihrer Chefin Hanna Mitinhaberin einer Graphikagentur begegnet Jakob, ihrem Verehrer und Liebhaber aus früheren Tagen wieder. Jakob, ein Anwalt mit Karriereperspektive, verlässt wegen des Rendezvous-Termins mit Isabelle einige Tage vor dem 11. September 2001 New York in Richtung Berlin. Sein Freund Robert vertritt ihn dort – und kommt beim Anschlag auf die Zwillingstürme ums Leben. Andras, der Kollege Isabelles, ein ungarischer Jude mit Identitätsproblemen, himmelt Isabelle an, tröstet sich mit Magda mehr recht als schlecht und findet sich schliesslich damit ab, als Jakob Isabelle heiratet. Jim, ein Drogendealer und Kleinkrimineller und seine Freundin Mae schlagen sich in der Londoner Unterwelt durch. Und Dave und seine kleine Schwester Sara, die von ihrem Vater mit äusserster Brutalität verprügelt und wie eine Gefangene gehalten wird, träumen von einer besseren Zukunft.
Josef Winkler, Büchnerpreisträger 2008, in Neuss
Nach der Lesung aus einem Buch »Roppongi« wurde Josef Winkler aus dem Publikum gefragt, ob er einen Grund nennen könne, warum so viele, eigentlich die meisten wortmächtigsten, zeitgenössischen Schriftsteller deutscher Sprache aus Österreich kommen würden (Handke, Jelinek, Thomas Bernhard und natürlich auch Winkler).
Winkler überlegte kaum, antwortete sehr schnell, anfangs mit einer Art Stottern oder, besser, Stammeln, als hätte er die Frage schon Wochen vorher gewusst. Naja, sagte er, es gäbe doch auch einige sehr gute Schriftsteller aus der Schweiz. Gelächter im Publikum. Dann hatte Winkler seine Gedanken sortiert. Handke, Jelinek, Bernhard – das seien europäische Ausnahmeerscheinungen. Insbesondere Handke.