Den Ausweg, Günter Grass’ neues Buch »Die Box« in vorauseilender Milde mit den Werken der Vergangenheit des Schriftstellers zu verrechnen, hat die »ZEIT« dahingehend verpasst, dass sie mit Andreas Maier einen Rezensenten beauftragte, der nach eigener Aussage vorher noch kein Buch von Grass gelesen hatte. »Der Umblätterer« vermutet hier nicht zu Unrecht ein taktisches Vorgehen. In dem Maier offen mit seinem Nichtwissen kokettiert, sogar suggeriert, die Ahnungslosigkeit sei vorteilhaft für die Rezeption dieses Buches, wird dem Leser eine Art neuer, naiver, ja: unschuldiger Rezensentenblick vorgespielt. Was auf den ersten Blick originell erscheint, muss aber bei einer Person wie Grass und einem Buch wie die »Die Box« scheitern.
Denn (1.) ist Grass auch (und vor allem) eine politische Person und wird als solche in der Öffentlichkeit stärker wahrgenommen als über seine schriftstellerischen Werke. Die Urteile über Grass resultieren in den seltensten Fällen über das literarische Oeuvre, wie die Rezeption seines »Zwiebel«-Buches exemplarisch gezeigt hat. Und (2.) ist das Buch »Die Box« ohne Vorkenntnisse wenigstens einiger Bücher von Grass sehr viel schwieriger verstehbar. Schliesslich handelt es sich nicht um eine linear erzählte (Auto-)Biografie, sondern um ein dezidiert literarisches Projekt. Das Buch bleibt zwar aus sich heraus verständlich (oder – gelegentlich – auch nicht), entwickelt aber gerade durch seine selbstreferentiellen, oft versteckten, manchmal gar nicht ausgesprochenen sondern nur angedeuteten Verweise (sowohl auf das Werk als auch biografisch) eine besondere Qualität.
Man mag das halbwegs chronologische Schreiben, welches von »Beim Häuten der Zwiebel« in der »Box« fortgeführt wird, beklagen, aber es ist deutlich, dass hier eine Fortsetzung der Selbstdarstellung von Grass’ Leben mit literarischen Mitteln vorgenommen wird. Wobei die Erzählformen grundverschieden sind, was die Verwandtschaft der beiden Bücher bei oberflächlicher Betrachtung nicht unbedingt nahe legt, denn während im »Zwiebel«-Buch immerhin noch ein onkelhafter Kaminplauderton angeschlagen wird, besteht »Die Box« aus acht mehr oder weniger chaotische Küchentischgesprächen zwischen den herbeiphantasierten Grass-Kindern. Gerade weil literarische Autobiografien immer Gefahr laufen, Selbststilisierungen oder –heroisierungen zu beinhalten (oder das Gegenteil, ein Abdriften ins Nihilistische, betreiben), ist eine Betrachtung und Bewertung des vorliegenden Buches ohne entsprechenden kontextuellen Bezug schwierig oder gar unmöglich.
Letzterem, einer direkten Bewertung, enthält sich Maier dann auch, wobei man allerdings der Meinung sein kann, dass seine gespielt-naiven Formulierungen durchaus pejorativ verstanden werden können. Und so reitet auch die eigentlich recht gut bestückte Literatur-Redaktion der »ZEIT« auf der Welle des Grass-Bashing, ohne sich direkt die Finger schmutzig machen zu müssen.
Der nobelpreisige Burgfrieden zwischen Grass und den Zeitungsfritzen hielt nur wenige Jahre. Nach dem holperig vorgebrachten »Geständnis« als 17jähriger Mitglied einer Waffen-SS Einheit gewesen zu sein, war Grass sozusagen für vogelfrei erklärt worden. Jeder durfte nun nach Herzenslust seine Invektiven loslassen – ungeachtet dessen, ob man Werk- oder Biografiekenntnisse auch nur rudimentärer Art besass.
Küchentischgespräche
Die Konstruktion des Buches »Die Box« wird bei Maier (der ja selber Schriftsteller ist) beschrieben und als »poetologische[r] Aberwitz« bezeichnet, wobei unklar bleibt, was damit eigentlich genau gemeint ist. Grass lässt im Buch seine acht Kinder zusammenkommen, die über ihre Kindheit, das jeweilige Elternhaus (Grass war promiskuitiv), die Jugend und das Leben mit dem prominenten Vater erzählen. Diese Kinder sind von drei verschiedenen Frauen (oder sind es vier?) und es gibt Stiefkinder (ausserehelich) – kurz: ein Kuddelmuddel. In dem Grass diese Kinder, die es im realen Leben ja tatsächlich gibt, durch ihre Namensgebung im Buch verfremdet, wird rasch deutlich, dass das, was diese Kinder erzählen, Kopfgeburten des Autors sind. Maier irrt, wenn er Glauben macht, Grass wolle durch das Verschieben der Erzählperspektive auf die Kinder eine »grössere Wahrheit und Aufrichtigkeit bewirken«. Mehrfach betont der Erzähler, dass alles vom Vater ausgedacht sei. Und am Ende schreibt er, es seien Märchen, die ich euch [den Kindern] erzählen liess. Und später merkt das Maier ja auch.
Natürlich hat das Buch nur einen Erzähler: Grass selbst. Und natürlich erzählt Grass über Grass. Und zwar das, was und wie er es möchte. Und natürlich ist dies alles enorm eitel und auch selbstgefällig. Indem Grass aber im Buch selber keinen Zweifel an diesem Verfahren lässt, ist der Vorwurf, hier instrumentalisiere jemand seine Kinder, interessiere sich gar nicht für diese, abwegig. Und ab und zu greift dann der Erzähler, der den Küchentischgesprächen beiwohnt, ein, unterbricht oder beendet das Geschwafel, weil es nun vielleicht unangenehm oder einfach intim zu werden droht.
Was die handelsübliche Literaturkritik besonders ärgert ist dieser Jargon, in dem diese Dialoge wiedergegeben werden. Es wimmelt von Auslassungen von Vokalen, Monsterfragepronomonen wie weißnichtwann, weißnichtmehrwo, vomwemnochalles,werweißwarum, wemoderwas kommen auch (wie in der »Zwiebel«) ohne Unterlass vor. Wörter wie auffem, aussem oder wien verstopfen den Kopf des Lesers – kurz: hier versucht jemand Alltagssprache mit einer Art moderner Fontaneton zu vermischen (Gruss von »Fonty« – kennt Maier natürlich nicht). Das ist, mit Verlaub gesagt, peinlich, weil es so durchschaubar ist und vermutlich nur für elitäre Landbewohner originell, die nicht jeden Tag mit der U‑Bahn so etwas tausendfach hören.
Und weil alle acht im gleichen Jargon, mit der gleichen Schnauze reden, entstehen keine Höhen und Tiefen. Es ist oft unklar, wer gerade redet (an der Anrede durch die anderen erfährt man das manchmal später). Aber es ist auch nicht schlimm, das nicht zu wissen. Es ist beliebig; gleichgültig. Alle sprechen mit gleicher Sprache: mit der Sprache, die ihr Schöpfer für sie in diesem Buch vorgesehen hat. Was nicht verwunderlich ist, denn alle acht sind ja Grass. Und dieses plüschig-prollige soll Authentizität erzeugen, den Leser einlullen.
Eingelullt wird der Leser auch mit der »Box«, jener allsichtig[en] Wunderkamera, die nach einem überstandenen Brand in die Zukunft und in die Vergangenheit blicken kann. Sie ist Zauberbox und Wünschdirwasbox, wird zum Fetisch. Ihre Bilder, vom Knipsmariechen gemacht und mit scheinbar geheimen Ingredienzien entwickelt, sind Beschwörungs- und Zukunftsbilder; Ausblicke wie vom lieben Gott. Gerüchte und Sagen ranken sich um dieses Knipsmariechen; zu Leben und Tod gibt es die unterschiedlichsten Versionen. Mal ist sie im Krankenhaus gestorben, mal soll Mary-Poppins-haft weggeweht worden sein. Und ob sie nun ein Verhältnis mit Vatti hatte, weiss niemand. Fast scheint es, als sei dies das wichtigste, und der Leser merkt: Grass ist zum Klatschkommentator seines eigenen Lebens geworden.
Grass’ Anima
Das Knipsmariechen hat es wirklich gegeben; sie hiess Maria Rama. Grass hat ihr das Buch gewidmet, aber zu glauben, die skurille Figur in dem Buch habe mit der Realfigur etwas zu tun, ist ziemlich einfältig. Schliesslich hat die »Box« ja nicht wirklich Bilder aus Vergangenheit und Zukunft gemacht – es ist eine Allegorie auf Grass’ Wahrnehmung. Die »Box« ist – das hat sogar Denis Scheck bemerkt – Grass’ Gehirn. Und das Knipsmariechen der magischen Bilder ist Grass’ Anima, das Weibliche in ihm. Und wenn die Rede davon ist, dass der Vater irgendwann zur Ruhe kam (das Kuddelmuddel mit den diversen Frauen irgendwann zu Ende ist), dann ist Grass mit seiner Anima versöhnt. Das ist nicht so schwer herauszudeuten, aber die Kritik, die mit Schaum vor dem Mund vor diesem harmlosen Buch gesessen hat, macht sich ja nicht einmal mehr die kleinste Mühe.
All dies hätte – um ein fürchterlich verhunztes Wort zu verwenden – spannend werden können. Das sich ein Erzähler aufspaltet, ist so neu ja nicht. Das ist immer ein Wagnis, insbesondere für den, der erzählt. Grass geht dieses Wagnis nicht ein, weil er in Wirklichkeit sehr kontrolliert erzählt, dies jedoch geschickt zu verbergen weiss. All die Schilderungen dieses Durcheinander in der Familie, die umtriebige Potenz von Grass, die Egozentrik, aber auch sein (literarischer) Erfolg – all dies ist nur scheinbar freigiebig berichtet. Es ist in Wahrheit ein abgeklärtes Buch, in dem Grass ausdrücklich seine Version der Dinge darlegt (und kanonisieren will). Wenn er vom Anekdotischen des Box-Motives (wie immer reitet Grass seine Motive zu Tode) abweicht, bekommt der Leser kurz einen Blick hinter dem Vorhang gezeigt. Dann gibt es seltene Momente des Innehaltens, jenseits des grossmauligen Egozentrikers und der Erzähler (Grass) ersehnt eine Art Vergebung: Jetzt hofft der unzulängliche Vater, dass die Kinder ein Einsehen haben. Denn weder können sie sein Leben, noch er ihres wegstreichen…
Peter Hamm, eigentlich ein gescheiter Mensch, polterte im »Literaturclub«, dass selbst ein Verriss für dieses Buch noch zu schade sei. Das ist töricht und eines Peter Hamm unwürdig. Vielleicht resultiert die teilweise vehemente Kritik an »Die Box« aus der Enttäuschung, dass hier keine linear und sauber erzählte Autobiografie (vielleicht noch mit Enthüllungsgeschichtchen garniert) präsentiert wurde. Und das das Bild, welches man sich so schnell von einem Schriftsteller macht, jener asketische, schwermütige Geist, der seine Bücher der feindlichen Umgebung unter Entbehrungen abtrotzt, auf den barocken Grass so gar nicht zutrifft. Grass’ Sprachlosigkeit, die den Figuren meistenteils in den Mund gelegt wird, ist in der Tat enttäuschend. Dennoch ist das Buch für die drei Stunden Lesezeit unterhaltsam. Ob man es jemals noch einmal zur Hand nehmen wird, ist fraglich. Aber wer will das heute schon sagen.
Die kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Der Ansatz, dass ein Schriftsteller ein Buch von Günter Grass rezensiert und behauptet, vorher noch nie ein Buch von ihm gelesen zu haben, ist wirklich abenteuerlich. Das wirft mehrere Fragen auf, von denen eine seltsamer als die andere ist: Wie hat die Zeitung einen solchen Schriftsteller gefunden, war das ihr Ziel? Warum hat er noch nichts von Grass gelesen? Wie kommt ein deutschsprachiger Schriftsteller an einem deutschen Literaturnobelpreisträger vorbei? Das erinnert mich alles an »Cocktail»gespräche, bei denen mehrere Gesprächspartner darum wetteifern, wer in der Schule besonders schlecht in Mathe gewesen ist – als ob diese Art von Dummheit sie auf anderen Gebieten zu besonderen Höchstleistungen qualifizieren würde.
Maier schreibt sehr unregelmässig Artikel für die »Zeit«. Seine Bücher haben einen grundsätzlich anderen Stil; gelegentlich erinnert er an Thomas Bernhard. Es ist glaubhaft, dass er von Grass nichts gelesen hat. Meines Wissens hat Grass im Publikum der um die 40jährigen (a) relativ wenige Leser und gilt (b) als Nervensäge. (b verstehe ich.)
Man könnte untersuchen, warum die deutschen Feuilletons Grass so despektierlich behandeln. Das der Prophet im eigenen Land nicht viel gilt, ist ja eine Binse. Aber dieser Hass, der da teilweise herausquillt – schon merkwürdig. Herbst thematisiert das in den Kommentaren zum verlinkten »Umblätterer«-Artikel. Ich glaube nicht, dass das ein spezifisch deutsches Phänomen ist.
Jemand den der Anfang von der »Blechtrommel« an den Anfang vom »Ich bin nicht Stiller« erinnert ist vielleicht zu erinnerungsfreudig. Also, Keuschnigg’s Besprechung ist um einigers ergiebieger als die Maiersche in Der Zeit. So ein Buch verlangt doch nach einem Grassfanatiker der all die anderen und noch viel mehr sonstiges Grass im Kopf hat um ihn moeglicherweise luegen zu strafen, oder ich weiss was. Maier hat ja scheinbar seinen Spass damit gehabt. Dass die »Kinder« alle wie ihe Vater reden hoert sich langweilig an.
na ja wenn die schoenen wesen sich zu dir ins bett werfen, kann man dann den erzeuger promiscous nennen? faellt mir auch ein. was soll ein STar im Zeitalter der Groupies denn tun?
Grass bleibt sehr diskret. Über eine Liebschaft lässt er eines der Kinder erzählen:
Muß wie im Kino gewesen sein. Lief aber ein schlechter Film, auc hwenn die Geschichte bestimmt nicht ohne gewesen ist, sogar zeitweilig extrem heiß verlaufen sein wird. Denn soviel kann man annehmen: war Liebe, ganz große sogar, weshalb beide meinten, nicht voneinander lassen zu können. Mein Papa redet ja heut noch von Leidenschaft. Aber als ich grad mal das Laufen gelernt hatte, war er leider schon wieder weg. Weiß deshalb nur, was mir meine Schwestern, die einen anderen Papa hatten, der leider auch weg war, davon erzählt haben.