
Das erotische Talent meines Vaters
Der 23jährige Philip arbeitet als Pfleger in einer psychiatrischen Klinik in Berlin und besucht für ein Wochenende seinen Vater, der ein Haus in der Nähe der deutsch-schweizerischen Grenze an einem See bewohnt (vermutlich ist der Bodensee gemeint). Ein Sommertag, Ankunft im Nachmittagslicht, vorbei an Weinbergen, Obstwiesen und Gerstenfeldern. Dann erreicht er die Villa, das Eisentor mit zwei gusseiserne[n] Greifvögel[n] und den nachträglich aufgelötete[n] Seepferdchen, die schon ein bisschen vorwegnehmen, was einen hinter dem Tor tatsächlich erwartete. Merkwürdigerweise ist es verschlossen und Philip kommt über die Terrasse. Kurze, eher beiläufige Begrüßung. Sein Vater Jakob (man redet sich ganz progressiv mit dem Vornamen an) ist Mitte 60, Mentholparfüm, gebräunt, lockige[r] Kopf. Er wirkt, als würde er…wieder jünger werden und Philip glaubt noch größere Spannkraft in seinen Muskeln und Sehnen auszumachen als bei seinem letzten Besuch.
Dagegen verfällt die Villa mit den Bullaugen, die euphemistisch Panoramafenster genannt werden, zusehends. Große senkrechte Risse durchziehen das Haus (das sind die statisch bedenklich[en] lernt der Leser vom Ich-Erzähler Philip). Hinzu kommt die mehr als gewöhnungsbedürftige Einrichtung. Überall Tiffanylampen und selbstgeschreinerte Kleiderschränke aus Sperrholz mit Spiegelscherben auf der Türe, mit Heißkleber befestigt und wie eine Discokugel aussehend. Oder Messingdrachen in Wandfliesen eingelassen. Im Badezimmer die Wandspiegel im Jugendstil und daneben Rosettenhähne über Zierwaschbecken aus altem Emaille. Und schließlich im Garten der sogenannte Kleine Existenzpark mit Messingechsen und Rundrohrtrolle und Silberlurche. Alles Basteleien von Philips Mutter Iris (und natürlich von Björn Kern, der immer weiter Variationen des schlechten Geschmacks sprachlich herbeizaubert und fast zelebriert). Aber Iris wohnt seit zwei Jahren nicht mehr im Haus.