Bjar­te Breit­eig: Von nun an

Bjarte Breiteig: Von nun an
Bjar­te Breit­eig: Von nun an

Ein Mann fährt mit dem Nacht­zug von Nor­we­gen nach Schwe­den, um sich dort me­di­zi­nisch be­han­deln zu las­sen. Of­fen­bar lei­det er an ei­ner schwe­ren Krank­heit. Im Zug trifft er ei­nen ehe­ma­li­gen Mit­schü­ler, an den er sich kaum er­in­nert. Sie er­zäh­len und trin­ken ein Bier, als der Mann ans Te­le­fon ge­ru­fen wird – sei­ne Frau ist be­sorgt, sie hat Angst um die Zu­kunft, aber er kann sie be­ru­hi­gen. Als er zum Spei­se­wa­gen zu­rück­kommt, ist die­ser ver­waist. Und auch in sei­nem Ab­teil ist der ehe­ma­li­ge Mit­schü­ler nicht an­zu­tref­fen.

In ei­ner an­de­ren Ge­schich­te ar­bei­tet ein Ich-Er­zäh­ler als Hel­fer des Be­stat­ters. Frau Se­land, die er von frü­her kann­te, ist ge­stor­ben. Durch ei­ne Un­ge­schick­lich­keit fällt ihm die Lei­che hin. Ei­ne klum­pi­ge, stin­ken­de Flüs­sig­keit tritt aus und die vor­her müh­sam an­ge­zo­ge­ne Lei­chen­blu­se ist ver­schmutzt.

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Sten Reen: Korn­blum

Sten Reen: Kornblum
Sten Reen: Korn­blum

Ro­bert Korn­blum, halbintellektuelle[r], alternde[r] Pen­ner, (vul­go: ar­beits­lo­ser Stu­di­en­ab­bre­cher, 35 Jah­re), Dach­decker und Ge­le­gen­heits­bau­ar­bei­ter, wacht nach durch­zech­ter Ge­burts­tags­fei­er zu Hau­se auf. Ein­mal im Jahr er­laubt er sich zu trin­ken, an­son­sten ist er seit drei Jah­ren trocken. Er hat ei­nen Film­riss und weiß nicht mehr, was letz­te Nacht pas­siert ist. Zum Glück er­wei­sen sich die Mark­ierungen auf sei­ner Stirn nicht als Tat­toos, son­dern ab­wasch­bar. Aber das uri­nie­ren fällt ihm schwer und er wirft ei­nen Blick nach un­ten und sieht das Kon­dom. Was war ge­sche­hen?

Korn­blum re­ka­pi­tu­liert müh­sam die letz­te Nacht und dem Le­ser er­öff­net sich ei­ne gänz­lich frem­de Welt. Zu­nächst denkt man an ei­ne Art Rot­licht­idyl­le à la »Der Kö­nig von St. Pau­li«, aber dann merkt man, dass das Gan­ze in Ber­lin spielt und mit Pro­sti­tu­ti­on al­len­falls am Ran­de zu tun hat. Die gro­ße Fa­mi­lie trifft sich bei Hus­si, dem ser­bi­schen Wirt (mit kroa­ti­scher Frau). Da ist Ron­ny, noch ein Quoten-Trockene[r].

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Björn Kern: Das ero­ti­sche Ta­lent mei­nes Va­ters

Björn Kern: Das erotische Talent meines Vaters
Björn Kern:
Das ero­ti­sche Ta­lent mei­nes Va­ters

Der 23jährige Phil­ip ar­bei­tet als Pfle­ger in ei­ner psych­ia­tri­schen Kli­nik in Ber­lin und be­sucht für ein Wo­chen­en­de sei­nen Va­ter, der ein Haus in der Nä­he der deutsch-schwei­ze­ri­schen Gren­ze an ei­nem See be­wohnt (ver­mut­lich ist der Bo­den­see ge­meint). Ein Som­mer­tag, An­kunft im Nach­mit­tags­licht, vor­bei an Wein­ber­gen, Obst­wie­sen und Ger­sten­fel­dern. Dann er­reicht er die Vil­la, das Ei­sen­tor mit zwei gusseiserne[n] Greifvögel[n] und den nach­träg­lich aufgelötete[n] See­pferd­chen, die schon ein biss­chen vor­weg­neh­men, was ei­nen hin­ter dem Tor tat­säch­lich er­war­te­te. Merk­wür­di­ger­wei­se ist es ver­schlos­sen und Phil­ip kommt über die Ter­ras­se. Kur­ze, eher bei­läu­fi­ge Be­grü­ßung. Sein Va­ter Ja­kob (man re­det sich ganz pro­gres­siv mit dem Vor­na­men an) ist Mit­te 60, Men­thol­par­füm, ge­bräunt, lockige[r] Kopf. Er wirkt, als wür­de er…wieder jün­ger wer­den und Phil­ip glaubt noch grö­ße­re Spann­kraft in sei­nen Mus­keln und Seh­nen aus­zu­ma­chen als bei sei­nem letz­ten Be­such.

Da­ge­gen ver­fällt die Vil­la mit den Bull­au­gen, die eu­phe­mi­stisch Pan­ora­ma­fen­ster ge­nannt wer­den, zu­se­hends. Gro­ße senk­rech­te Ris­se durch­zie­hen das Haus (das sind die sta­tisch bedenklich[en] lernt der Le­ser vom Ich-Er­zäh­ler Phil­ip). Hin­zu kommt die mehr als ge­wöh­nungs­be­dürf­ti­ge Ein­rich­tung. Über­all Tif­fa­ny­lam­pen und selbst­ge­schrei­ner­te Klei­der­schrän­ke aus Sperr­holz mit Spie­gel­scher­ben auf der Tü­re, mit Heiß­kle­ber be­fe­stigt und wie ei­ne Dis­co­ku­gel aus­se­hend. Oder Mes­sing­dra­chen in Wand­flie­sen ein­ge­las­sen. Im Ba­de­zim­mer die Wand­spie­gel im Ju­gend­stil und da­ne­ben Ro­set­ten­häh­ne über Zier­wasch­becken aus al­tem Email­le. Und schließ­lich im Gar­ten der so­ge­nann­te Klei­ne Exi­stenz­park mit Mes­sin­gech­sen und Rund­rohr­t­rol­le und Sil­ber­lur­che. Al­les Ba­ste­lei­en von Phil­ips Mut­ter Iris (und na­tür­lich von Björn Kern, der im­mer wei­ter Va­ria­tio­nen des schlech­ten Ge­schmacks sprach­lich her­bei­zau­bert und fast ze­le­briert). Aber Iris wohnt seit zwei Jah­ren nicht mehr im Haus.

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Ger­brand Bak­ker: Ju­ni

Gerbrand Bakker: Juni
Ger­brand Bak­ker: Ju­ni

Im Ju­ni 1969 ist die nie­der­län­di­sche Kö­ni­gin Ju­lia­na im hol­län­di­schen Nor­den un­ter­wegs. Am 17. be­sucht sie mit ih­rem Stab den klei­nen Ort Sloot­dorp. Rat­haus­emp­fang, klei­nes Es­sen, das auch hier schein­bar un­ver­meint­li­che Pro­to­koll, ein mi­nu­tiö­ser Ter­min­plan. Zwei jun­ge Zwerg­zie­gen als Ge­schenk. Dann sieht sie ei­ne jun­ge Frau nä­her kom­men, ge­gen den all­mäh­lich ver­sie­gen­den Strom. Sie trägt ein Kind auf dem Arm und schiebt mit der an­de­ren Hand ein Fahr­rad, was das Ge­hen et­was an­stren­gend macht. Ach ja, ei­ne Frau, die sich ver­spä­tet hat. Die sich be­eilt, um doch noch ei­nen Blick von ihr zu er­ha­schen. Sie gibt dem Chauf­feur ein Zei­chen und geht der Frau ein Stück ent­ge­gen […] Das Kind, das höch­stens zwei sein kann, schaut sie mit gro­ßen blau­en Au­gen an. »Na, wie heißt du?« »An­ne«, flü­stert das Kind. »Han­ne«, sagt die Mut­ter. Sie zieht den rech­ten Hand­schuh aus. »Das H ist nicht ein­fach«. Sie streicht dem Kind über die Wan­ge. Es er­schrickt und drückt das Ge­sicht an den Hals der Mut­ter.

Die Frau heißt An­na Ka­an und nennt die Kö­ni­gin gnä­di­ge Frau, so, wie sie’s mag (Ju­lia­na woll­te nie ‘Ma­je­stät’ ge­nannt wer­den). Ein klei­ner Dia­log, An­nas Blick weicht ei­nem Lä­cheln. Sie ant­wor­tet nicht. Das Fahr­rad, das an ih­rer Hüf­te lehnt, rutscht lang­sam ab und schlägt auf den Asphalt. Die Kö­ni­gin streckt un­will­kür­lich bei­de Ar­me aus. Na­tür­lich wer­den Fo­tos ge­macht, Ju­lia­na sieht es nicht, sie hört es. Auf­rei­zend nah ist das Klicken. ‘Kö­ni­gin macht spon­tan klei­nen Um­weg’. Noch ei­ne mög­li­che Schlag­zei­le für mor­gen. Kurz dar­auf fährt der Tross wei­ter. Es war­tet ei­ne Bar­fuß­was­ser­ski-Vor­füh­rung.

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Ni­na Jäck­le: Nai

Nina Jäckle: Nai
Ni­na Jäck­le: Nai
Un­schwer zu er­ken­nen: Nai ist ein An­na­gramm aus den drei ver­schie­de­nen Buch­sta­ben des Vor­na­mens von Ni­na Jäck­le. Aber ist der Jun­ge Nai des­halb das (männ­li­che? kind­li­che?) Al­ter Ego der Au­torin?

Ei­ne Fi­gur Nai, oh­ne Bio­gra­fie, er­zäh­lend in ei­ner na­iv-in­fan­til an­mu­ten­den Spra­che, will ein sehr mei­ster­haf­tes Aben­teu­er er­le­ben. Zu die­sem Zweck trägt er so­gar im Bett wacker Schuh über Strumpf, hat die Schlei­fen ge­bun­den und bleibt – stets ein­satz­be­reit – im auf­rech­ten Stand. Aber wer ist Nai? Ein Ko­bold? Da­für spricht viel­leicht die an­ge­deu­te­te Klein­heit, der kaum vor­han­de­ne Hals. Ein Schwach­sin­ni­ger, der Stim­men hört und sich in meh­re­re Per­so­nen (Naiz­wei, Na­i­d­rei) auf­spal­tet?

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Al­bert Ca­mus: Hoch­zeit des Lichts

Albert Camus: Hochzeit des Lichts
Al­bert Ca­mus: Hoch­zeit des Lichts

Das vom Ar­che-Ver­lag jüngst her­aus­ge­brach­te Buch »Hoch­zeit des Lichts« von Al­bert Ca­mus um­fasst ge­nau­ge­nom­men zwei Bü­cher. Zum ei­nen vier Er­zäh­lun­gen, die 1938 in Frank­reich un­ter dem Ti­tel »Noces« (»Hoch­zeit«; in Deutsch­land erst­mals 1954 un­ter »Hoch­zeit des Lichts«) er­schie­nen. Sie ent­stan­den, wie der Ver­lag in ei­ner edi­to­ri­schen No­tiz er­klärt, in den Jah­ren 1936–1937. Ca­mus war da­mals al­so un­ge­fähr 23 Jah­re alt. Zum an­de­ren gibt es acht Er­zäh­lun­gen, die 1954 in Frank­reich un­ter dem Ti­tel »L’é­té« (»Som­mer«) er­schie­nen wa­ren und zwi­schen 1939 und 1953 ent­stan­den. Der deut­sche Ti­tel lau­tet »Heim­kehr nach Ti­pa­sa«. Die deut­schen Über­set­zun­gen der bei­den Bü­cher von 1954 und 1957 wur­den für die­ses Buch teil­wei­se über­ar­bei­tet.

Es ist nun mehr als ein Faux­pas, wenn der Ver­lag so­wohl im Klap­pen­text als auch in der Pres­se­mit­tei­lung schreibt, dass al­le »in die­sem Band ver­sam­mel­ten Tex­te« zwi­schen 1936 und 1938 »erst­mals er­schie­nen« sei­en. Die hier ab­ge­druck­ten Er­zäh­lun­gen, die mit der Zeit es­say­isti­scher und phi­lo­so­phi­scher wer­den (Ca­mus hät­te letz­te­res viel­leicht be­strit­ten), sind, wie oben aus­ge­führt, kei­nes­falls die­ser eng um­ris­se­nen Zeit­span­ne zu­zu­ord­nen.

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Jo­sef W. Jan­ker

1998 las ich Jo­sef W. Jan­kers »Zwi­schen zwei Feu­ern«. Der Ro­man hat kei­nen ein­zel­nen Haupt­prot­ago­ni­sten, son­dern meh­re­re. Ge­schil­dert wer­den Er­eig­nis­se des Zwei­ten Welt­kriegs in Russ­land bis un­ge­fähr An­fang 1945. Wie al­le Ro­ma­ne die­ses Gen­res er­zählt der Au­tor zu­nächst von den be­kann­ten Ge­ge­ben­hei­ten: der Käl­te, dem stumpf­sin­ni­gen Wa­che­schie­ben, dem ewi­gen »Auf-der-Hut-Sein«, usw. Es ist dann die ...

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Ni­co­lai Li­lin: Si­bi­ri­sche Er­zie­hung

»Bar­fuß« heißt ei­gent­lich Ni­co­lai. Je­der hat ei­nen sol­chen Kampf­na­men, ob nun »Igel«, »Mel«, »Tai­ga«, »Pflau­me«, »Ga­ga­rin« oder »Ne­bel«. Sie sind Si­bi­rer heißt es ein biss­chen pau­schal und gleich­zei­tig ge­heim­nis­voll und Mit­glie­der in ei­ner star­ken Welt. Sie ge­hö­ren zu den Ur­ki. Man hält das an­fangs für ei­nen in­di­ge­nen Stamm, aber »Ur­ki« ist ei­gent­lich nur ein Syn­onym für »Ga­no­ve«. Sie le­ben in Trans­ni­stri­en, weil ih­re Vor­fah­ren vor dem Kom­mu­nis­mus flie­hen muss­ten oder ge­flo­hen sind, wes­halb sie sich als po­li­ti­sche Wi­der­ständ­ler ge­rie­ren, denn sie wa­ren ge­gen den kom­mu­ni­sti­schen Staat. Aber sie sind ge­gen je­den Staat, denn kei­ne po­li­ti­sche Macht, un­ter wel­cher Flag­ge auch im­mer, ist so viel wert wie die na­tür­li­che Frei­heit ei­ner ein­zi­gen Per­son. Ein flam­men­des Plä­doy­er für die Frei­heit – und kei­nes ei­ner pseu­do-li­be­ra­len Par­tei. Hier ist ei­ne an­de­re Frei­heit ge­meint. Es ist ei­ne an­ar­chi­stisch-per­ver­tier­te Form ei­nes Frei­heits­be­griffs von Ver­bre­chern, die sich auch so be­zeich­nen und stolz sind, an­stän­di­ge Kri­mi­nel­le zu sein.

Kri­mi­nel­le mit ei­nem kom­pli­zier­ten und bis ins letz­te De­tail aus­ge­feil­ten Verhaltens‑, Eh­ren- und Sank­ti­ons­co­dex; nicht un­ähn­lich dem al­ba­ni­schen Ka­nun. Ni­co­lai Li­lin be­schreibt in sei­nem Buch »Si­bi­ri­sche Er­zie­hung« Auf­wach­sen und Er­zie­hung als Kri­mi­nel­ler und ver­schafft ei­nen um­fas­sen­den Ein­blick in Den­ken, Han­deln und Le­ben die­ser Men­schen, die Po­li­zi­sten Kö­ter nen­nen und nicht ein­mal mit ih­nen re­den. Sie, die Ver­wei­ge­rer jeg­li­cher Re­geln ei­ner Staats­ge­walt, ak­zep­tie­ren nur ih­re al­ten, über­lie­fer­ten Hand­lungs­ma­xi­me, die sie mit ei­nem Ge­rech­tig­keits­ge­ruch ver­se­hen, das un­ter Um­stän­den auch für vie­le Des­il­lu­sio­nier­te enorm at­trak­tiv ist.

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