Jörn Kla­re: Was bin ich wert?

Jörn Klare: Was bin ich wert?
Jörn Kla­re: Was bin ich wert?

Ei­ne Re­por­ta­ge aus Al­ba­ni­en und ein mit­ge­hör­tes Ge­spräch in der U‑Bahn über ei­nen Raub­mord mit ei­ner »Beu­te« von 100 Eu­ro – ir­gend­wann be­ginnt die Fra­ge Was ist ein Le­ben wert? Ge­nau­er: Wie­viel ist ein Le­ben wert? Jörn Kla­re zu be­schäf­ti­gen. Er be­schließt, zu re­cher­chie­ren. Das Pro­dukt die­ser Nach­for­schun­gen liegt nun vor. Der et­was pla­ka­ti­ve Un­ter­ti­tel ver­heißt so­gar »Ei­ne Preis­er­mitt­lung«.

Ei­nes muss man kon­ze­die­ren: Um­trie­big ist Kla­re durch­aus. In sei­nen 47 Ka­pi­teln durch­leuch­tet er sehr vie­le Fa­cet­ten der Mo­ne­ta­ri­sie­rung des Men­schen. Er be­fragt sei­ne Lieb­ste, den Schwa­ger, der ihn über das Headhunter(un)wesen auf­klärt, be­fasst sich aus­führ­lich mit der Ver­si­che­rungs­wirt­schaft, der Schmer­zens­geld­fest­stel­lung, fragt, was ein (to­ter) Sol­dat wert ist, er­läu­tert die Ab­wick­lung der Scha­den­er­satz­for­de­run­gen in den USA zum Ter­ror­an­schlag des 11. Sep­tem­ber 2001, möch­te mal sei­nen Na­men, mal sein Sper­ma ver­mark­ten (für letz­te­res ist er schon zu alt), un­ter­sucht das deut­sche Ge­sund­heits­we­sen, streift da­bei das Feld der Ge­sund­heits­öko­no­mie, sin­niert über den Or­gan­han­del und be­gibt sich un­ter po­ten­ti­el­le Me­di­ka­men­ten­te­ster (aus­ge­rech­net die Al­ten­hei­me klam­mert er aus, ob­wohl stän­dig von äl­te­ren Men­schen die Re­de ist).

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Ni­co­lai Li­lin: Si­bi­ri­sche Er­zie­hung

»Bar­fuß« heißt ei­gent­lich Ni­co­lai. Je­der hat ei­nen sol­chen Kampf­na­men, ob nun »Igel«, »Mel«, »Tai­ga«, »Pflau­me«, »Ga­ga­rin« oder »Ne­bel«. Sie sind Si­bi­rer heißt es ein biss­chen pau­schal und gleich­zei­tig ge­heim­nis­voll und Mit­glie­der in ei­ner star­ken Welt. Sie ge­hö­ren zu den Ur­ki. Man hält das an­fangs für ei­nen in­di­ge­nen Stamm, aber »Ur­ki« ist ei­gent­lich nur ein Syn­onym für »Ga­no­ve«. Sie le­ben in Trans­ni­stri­en, weil ih­re Vor­fah­ren vor dem Kom­mu­nis­mus flie­hen muss­ten oder ge­flo­hen sind, wes­halb sie sich als po­li­ti­sche Wi­der­ständ­ler ge­rie­ren, denn sie wa­ren ge­gen den kom­mu­ni­sti­schen Staat. Aber sie sind ge­gen je­den Staat, denn kei­ne po­li­ti­sche Macht, un­ter wel­cher Flag­ge auch im­mer, ist so viel wert wie die na­tür­li­che Frei­heit ei­ner ein­zi­gen Per­son. Ein flam­men­des Plä­doy­er für die Frei­heit – und kei­nes ei­ner pseu­do-li­be­ra­len Par­tei. Hier ist ei­ne an­de­re Frei­heit ge­meint. Es ist ei­ne an­ar­chi­stisch-per­ver­tier­te Form ei­nes Frei­heits­be­griffs von Ver­bre­chern, die sich auch so be­zeich­nen und stolz sind, an­stän­di­ge Kri­mi­nel­le zu sein.

Kri­mi­nel­le mit ei­nem kom­pli­zier­ten und bis ins letz­te De­tail aus­ge­feil­ten Verhaltens‑, Eh­ren- und Sank­ti­ons­co­dex; nicht un­ähn­lich dem al­ba­ni­schen Ka­nun. Ni­co­lai Li­lin be­schreibt in sei­nem Buch »Si­bi­ri­sche Er­zie­hung« Auf­wach­sen und Er­zie­hung als Kri­mi­nel­ler und ver­schafft ei­nen um­fas­sen­den Ein­blick in Den­ken, Han­deln und Le­ben die­ser Men­schen, die Po­li­zi­sten Kö­ter nen­nen und nicht ein­mal mit ih­nen re­den. Sie, die Ver­wei­ge­rer jeg­li­cher Re­geln ei­ner Staats­ge­walt, ak­zep­tie­ren nur ih­re al­ten, über­lie­fer­ten Hand­lungs­ma­xi­me, die sie mit ei­nem Ge­rech­tig­keits­ge­ruch ver­se­hen, das un­ter Um­stän­den auch für vie­le Des­il­lu­sio­nier­te enorm at­trak­tiv ist.

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