Jörn Kla­re: Was bin ich wert?

Jörn Klare: Was bin ich wert?

Jörn Kla­re: Was bin ich wert?

Ei­ne Re­por­ta­ge aus Al­ba­ni­en und ein mit­ge­hör­tes Ge­spräch in der U‑Bahn über ei­nen Raub­mord mit ei­ner »Beu­te« von 100 Eu­ro – ir­gend­wann be­ginnt die Fra­ge Was ist ein Le­ben wert? Ge­nau­er: Wie­viel ist ein Le­ben wert? Jörn Kla­re zu be­schäf­ti­gen. Er be­schließt, zu re­cher­chie­ren. Das Pro­dukt die­ser Nach­for­schun­gen liegt nun vor. Der et­was pla­ka­ti­ve Un­ter­ti­tel ver­heißt so­gar »Ei­ne Preis­er­mitt­lung«.

Ei­nes muss man kon­ze­die­ren: Um­trie­big ist Kla­re durch­aus. In sei­nen 47 Ka­pi­teln durch­leuch­tet er sehr vie­le Fa­cet­ten der Mo­ne­ta­ri­sie­rung des Men­schen. Er be­fragt sei­ne Lieb­ste, den Schwa­ger, der ihn über das Headhunter(un)wesen auf­klärt, be­fasst sich aus­führ­lich mit der Ver­si­che­rungs­wirt­schaft, der Schmer­zens­geld­fest­stel­lung, fragt, was ein (to­ter) Sol­dat wert ist, er­läu­tert die Ab­wick­lung der Scha­den­er­satz­for­de­run­gen in den USA zum Ter­ror­an­schlag des 11. Sep­tem­ber 2001, möch­te mal sei­nen Na­men, mal sein Sper­ma ver­mark­ten (für letz­te­res ist er schon zu alt), un­ter­sucht das deut­sche Ge­sund­heits­we­sen, streift da­bei das Feld der Ge­sund­heits­öko­no­mie, sin­niert über den Or­gan­han­del und be­gibt sich un­ter po­ten­ti­el­le Me­di­ka­men­ten­te­ster (aus­ge­rech­net die Al­ten­hei­me klam­mert er aus, ob­wohl stän­dig von äl­te­ren Men­schen die Re­de ist).

Der Le­ser er­fährt von der Kal­ku­la­ti­on der Bun­des­an­stalt für Stra­ßen­we­sen und ist ver­blüfft über die Ru­bri­zie­run­gen des Bun­des­um­welt­am­tes. Kla­re be­sucht ei­nen Po­li­ti­ker (Her­mann Scheer), ei­nen Mör­der, ei­nen ka­tho­li­schen Pfar­rer, Pro­fes­sor Raf­fel­hü­schen, ei­nen Volks­wirt, ei­nen Ethi­ker, Gun­ther von Ha­gens, ei­ne Pro­sti­tu­ier­te, sei­ne Haus­ärz­tin, ei­nen in­di­schen Freund, meh­re­re Woh­nungs­lo­se und bit­tet den Bun­des­prä­si­den­ten um ein Ge­spräch (der hat­te merk­wür­di­ger­wei­se kei­ne Zeit). Er geht auch in die Ge­schich­te, kon­fron­tiert den Le­ser mit der »Ren­ta­bi­li­täts­be­rech­nung« der Na­tio­nal­so­zia­li­sten (ei­ne »Kal­ku­la­ti­on« aus dem Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Bu­chen­wald), stellt das Buch »Der Werth des Men­schen« von Ernst En­gel aus dem Jahr 1883 vor und gibt ei­nen kur­zen Ex­kurs zur Skla­ve­rei. Es fal­len Schlag­wor­te wie WSL (»Wert ei­nes sta­ti­sti­schen Le­bens«), Hu­man­ka­pi­tal­wert (112.411 Eu­ro), Saar­brücker For­mel, QALY (»Qua­li­ty Ad­ju­sted Life Year«, al­so das »qua­li­täts­kor­ri­gier­te Le­bens­jahr«; der Au­tor weiß glück­li­cher­wei­se: QA­LYs sind um­strit­ten) und man er­fährt von den QA­LY-Be­wer­tun­gen des NICE (»Na­tio­nal In­sti­tu­te for He­alth and Cli­ni­cal Ex­cel­lence«).

Es gibt skur­ri­le, ernst­haf­te, fas­zi­nie­ren­de und ge­le­gent­lich er­schrecken­de Aus­sa­gen. Wie bei­spiels­wei­se die­se WSL-»Ermittlungsmethode«: In ei­nem Fuß­ball­sta­di­on sind 10000 Men­schen ver­sam­melt. Sie er­fah­ren, daß ei­ner von ih­nen aus­ge­lost wird, der dann ster­ben soll. Je­der ein­zel­ne wird ge­fragt, wie­viel er zah­len wür­de, um die­ses Ri­si­ko für sich aus­zu­schlie­ßen. Da die Chan­ce bei eins zu 10000 liegt, ist die Zah­lungs­be­reit­schaft der ein­zel­nen noch über­schau­bar. Ei­ni­ge we­ni­ge wä­ren er­fah­rungs­ge­mäß be­reit, sehr viel aus­zu­ge­ben, ei­ne an­de­re klei­ne Grup­pe wür­de eher we­nig zah­len. An­ge­nom­men, der Durch­schnitts­wert der Zah­lungs­be­reit­schaft be­trägt 500 Eu­ro, dann wird die­se Sum­me durch das To­des­ri­si­ko di­vi­diert (500 Eu­ro : 1/10000 [ein­zehn­tau­send­stel]) und das Er­geb­nis von fünf Mil­lio­nen Eu­ro ist dann ein Wert für ein sta­ti­sti­sches Le­ben. Oder die Bi­lanz von Raf­fel­hü­schens Ge­ne­ra­tio­nen­mo­dell: »Der jetzt ge­bo­re­ne Null­jäh­ri­ge ist ein Ko­sten­fak­tor«. Die Fra­ge, war­um dann über­haupt noch Kin­der staat­lich ge­för­dert wer­den, kommt Kla­re nicht in den Sinn. Noch am über­zeu­gend­sten auf die Fra­ge nach dem Wert ei­nes Men­schen ant­wor­tet der ka­tho­li­sche Pfar­rer: »Sei­nen Wert ent­deckt man, wenn man mit an­de­ren Men­schen in Be­zie­hung tritt. […] Die­ses Wer­te­be­wußt­sein steht weit über al­len mo­ne­tä­ren Be­wer­tun­gen«. Lei­der hat­te der Got­tes­mann noch an­de­re Ter­mi­ne.

Kla­res Buch ist nicht es­say­istisch, son­dern in ei­nem locker-flocki­gen Re­por­ta­ge­stil ver­fasst. Wenn er Ex­per­ten trifft, er­läu­tert er im­mer auch ih­re je­wei­li­ge Phy­sio­gno­mie, die Klei­dung und die Er­schei­nung, was den Le­ser durch­aus ma­ni­pu­la­tiv be­ein­flusst. Wenn er sich mit sei­nen Ge­sprächs­part­nern in ei­nem Re­stau­rant oder Ca­fé trifft, er­fährt man die De­tails über das Es­sen (Senf zu den Würst­chen oder nicht?) und/oder das Ge­tränk. Spä­te­stens am En­de ei­nes Ka­pi­tels gibt es die Mei­nung des Au­tors. Da­mit be­fin­det man sich ge­gen­über den be­frag­ten Per­so­nen ei­ner­seits im Vor­teil, denn Kla­re dürf­te sie über sein Ur­teil zu­meist im Un­kla­ren ge­las­sen ha­ben. An­de­rer­seits ist ei­ne wie auch im­mer ob­jek­ti­ve Her­an­ge­hens­wei­se schwie­ri­ger. Es be­schleicht ei­nem der Ver­dacht, der Au­tor wünscht gar kei­ne Ob­jek­ti­vi­tät. Der klas­si­sche Ge­stus ei­nes Mei­nungs­jour­na­li­sten.

Kla­re tarnt sich häu­fig mit ei­nem nai­ven Fra­ge­duk­tus; ei­ne Mi­schung aus »Se­sam­stra­sse«, »Sen­dung mit der Maus« und Ran­ga Yo­geshwar. Per­fi­de wird es, wenn er Leu­te be­drängt, ei­ne Zahl über den Wert ei­nes Men­schen zu nen­nen. Al­le ver­wei­gern sich zu­nächst, aber auf­ge­ben gilt für den Re­por­ter nicht. Ge­le­gent­lich wird er­wähnt, dass die Aus­sa­gen au­to­ri­siert wur­den. Wenn dann doch ei­ne Zahl ge­nannt und ver­öf­fent­licht wird, folgt so­fort der Kom­men­tar, zu­meist pi­kiert bis an­ge­wi­dert. Die­se Agent-Pro­vo­ca­teur-Po­se nutzt sich auf Dau­er ab.

Trotz des locke­ren Stils sind die enor­men Zah­len­men­gen im Lau­fe der Zeit er­mü­dend. Der größ­te Feh­ler Kla­res ist je­doch, dass er stän­dig den Preis für ei­ne Sa­che (al­so bei­spiels­wei­se ei­ne Ope­ra­ti­on, die Aus­zah­lung ei­ner Ver­si­che­rungs­sum­me, ei­ne Ent­schä­di­gung) mit dem rea­len »Wert« ei­nes Men­schen gleich­setzt bzw. hoch­rech­net. Zwar wird schon auf der er­sten Sei­te zwi­schen Preis und Wert un­ter­schie­den und in den ein­zel­nen Ka­pi­teln gibt es im­mer Hin­wei­se über die Dif­fe­renz zwi­schen Ko­sten­er­mitt­lung und Wert, aber Kla­re ver­mag der Ver­su­chung of­fen­sicht­lich nicht zu wi­der­ste­hen. Lei­der wird die zu­wei­len kind­lich-pro­vo­ka­tiv vor­ge­brach­te Nach­fra­ge des Au­tors, man mö­ge doch bit­te ei­ne Zahl nen­nen, der Pro­ble­ma­tik nicht ge­recht. Da­mit wird nur er­reicht, dass Po­li­ti­ker, Sta­ti­sti­ker, Ver­si­che­rungs­ma­the­ma­ti­ker und Öko­no­men (die be­son­ders!) in schlech­tem Licht da­ste­hen. Kla­re be­nutzt sei­ne Dis­ku­tan­ten, um sich sel­ber zu pro­fi­lie­ren.

Na­tür­lich ist es bei den un­ter­schied­li­chen Her­an­ge­hens­wei­sen kein Wun­der wenn die ge­nann­ten Sum­men sehr stark va­ri­ie­ren (zwi­schen 50.000 Eu­ro und 8 Mil­lio­nen; sieht man von den eher scherz­haf­ten Ver­su­chen ab, wie bei­spiels­wei­se die rein che­misch gesehen[en] 1022,43 Eu­ro, die der Apo­the­ker aus den che­mi­schen Be­stand­tei­len des Men­schen er­mit­telt hat). Ge­gen En­de er­rech­net Kla­re so­gar noch ei­nen Durch­schnitts­wert aus al­len Be­trä­gen in Hö­he von 1.129.381,21 Eu­ro, der na­tür­lich in et­wa so aus­sa­ge­fä­hig ist wie ei­ne Durch­schnitts­te­le­fon­num­mer al­ler Deut­schen. Als er ganz am Schluss sei­ne klei­ne Toch­ter nach ih­rer Ein­schät­zung nach dem »Wert« ih­res Va­ters fragt, ant­wor­tet die­se: »Ein­hun­dert-ein­hun­dert­zwan­zig-ein­hun­dert­drei­ßig-zwei­hun­dert­und­zehn Eu­ro«. Und hier stimmt man so­fort dem Au­tor zu, wenn er meint, dies sei die schön­ste Zahl, die ich mir vor­stel­len kann. Das Buch bie­tet durch­aus ei­ni­ge in­ter­es­san­te und ver­blüf­fen­de Er­kennt­nis­se, aber man fragt sich schon, war­um Kla­re sei­ne Toch­ter nicht et­was frü­her ge­fragt hat.


Die kur­siv ge­druck­ten Pas­sa­gen sind Zi­ta­te aus dem be­spro­che­nen Buch.

2 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Geld zählt
    Klingt nach ei­ner ver­ta­nen Chan­ce. Den der An­satz ist doch ei­ni­ger­ma­ßen rea­li­stisch – wenn auch ei­ne wei­te­re Ver­stär­kung des längst er­folg­ten Ta­bu­bruchs.

    Man den­ke an die (er­ste) Miss­fel­der-De­bat­te »kei­ne Hüft­ge­len­ke für Al­te«); oder an die auch von Ärz­ten neu­er­dings the­ma­ti­sier­te 2‑Klas­sen-Ge­sell­schaft. Oder an die Vor­schlä­ge an ar­me Dritt­welt-Men­schen, an den rei­chen We­sten ih­re Or­ga­ne zu ver­sil­bern. An die an­ste­hen­de Um­keh­rung der Al­ters­py­ra­mi­de auch bei uns.

    Geld ist d a s ein­ge­führ­te Tausch­wert­äqui­va­lent an sich, und taugt folg­lich auch für ei­ne Art Ge­ne­ral­re­fe­renz für je­den wei­te­ren Maß­stab, je­den Bench­mark, je­de Ska­la. Aus ei­ner ge­wis­sen Sicht ist das so­gar we­ni­ger zy­nisch, als die hoch­ge­hal­te­ne, aber von „Chef­ärz­ten“ längst sel­ber prak­ti­zier­te (»Chef­arzt-Kon­sul­ta­ti­on« als Mehr­wert in der Ver­si­che­rungs­po­li­ce) Heu­che­lei. (Sie­he auch „so­zi­al­ver­träg­li­ches Früh­ab­le­ben“.)

    Nur scheint der Au­tor eher auf Un­ter­hal­tung bzw. de­ren Ef­fek­te ge­setzt zu ha­ben und es an der nö­ti­gen Selbst­zu­rück­nah­me feh­len las­sen. Kann gut sein, die­ser „mo­ne­tä­re An­satz“ wird kom­men, so oder so.

     

  2. Miß­fel­der und die Pro­ble­ma­tik, die er so rü­de an­ge­spro­chen hat, kommt auch mehr­mals vor. Und: Ja, ich glau­be, der Au­tor hat da ei­ne Chan­ce ver­tan und lie­ber den Bou­le­vard be­dient.

    Ob so­was beim »al­ten Un­seld« ver­legt wor­den wä­re? ver­mut­lich eher in der an­de­ren Be­deu­tung des Worters.