Warum Joachim Gauck mein Bundespräsident wäre
Manchmal geschieht es, dass Leute, die das Falsche meinen das Richtige tun. Rot-Grün beispielsweise mit der Kandidatur von Joachim Gauck zum Bundespräsidenten. Hätte man eine sichere Mehrheit in der Bundesversammlung, so wäre Gauck niemals ihr Kandidat. Auch die SPD hat immer ihre Spielchen mit dem Bundespräsidenten getrieben. Zuletzt 2009 als man mit Gesine Schwan die Linke verführen wollte – und sich beinahe selber ein Bein gestellt hätte. Zum Glück für die SPD war die Linke so dumm, (abermals) einen Clown als Kandidaten aufzustellen. Es ist eine bedauerliche Tradition bei Bundespräsidentenwahlen: Die besten Kandidaten waren häufig diejenigen, die keine Chance hatten.
Keine Chance? Die FDP sprach interessanterweise sehr laut von Gauck als einen vorstellbaren und akzeptablen Bundespräsidenten. Dort rumort es gerade gegen den Sonnenkönig Westerwelle, der die einst liberale Partei eines Karl-Hermann Flach zum Akklamationsverein heruntergewirtschaftet hat. Auch für viele Unionsabgeordnete ist Gauck kein Schreckgespenst; die CSU wollte ihn schon 1999 als Bundespräsidenten nominieren. Damals lehnte er ab.
Joachim Gauck »hat sich in herausragender und auch in unverwechselbarer Weise um unser Land verdient gemacht – als Bürgerrechtler, politischer Aufklärer und Freiheitsdenker, als Versöhner und Einheitsstifter in unserem jetzt gemeinsamen Land sowie als Mahner und Aufarbeiter des SED-Unrechts und damit auch als ein Mann, der immer wieder an historische Verantwortung erinnert. Welche Facette man auch hervorhebt, immer spiegelt sich das Fundament unserer Gesellschaft wider: Einigkeit in Recht und Freiheit.«
Diese Worte stammen aus einer Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel am 22.01.2010 zu Gaucks 70. Geburtstag. Die Rede liest sich wie eine Hommage. Vielleicht würde sie ihre Worte im Wissen um Gaucks Kandidatur heute anders wählen. Aber auch sie, die Bundeskanzlerin, hält viel von Gauck.
Natürlich konnte sie nicht über ihren Schatten springen: Die machttaktischen Spielchen waren bzw. sind wichtiger. »Schwarz-Gelb« tut immer noch so, als sei ihre Koalition ein Projekt. Es war dies weniger als Rot-Grün es jemals war. Schon Kohls Anspruch der ‘geistig-moralischen Wende’ war ein Rohrkrepierer. Stattdessen gab es die Parteispendenaffäre des »Ehrenmanns« Kohl. Die »bürgerliche Regierung« ist eine Phrase. Vielleicht glaubt Guido Westerwelle noch diese Lebenslüge. »Bürgerlich« suggeriert ein Zurück zu den alten Zeiten, aber außer bei Rentnern reüssiert die Vokabel kaum noch. Die FDP-Wähler der letzten Bundestagswahl wollten einfach keine Große Koalition mehr. Sie stimmten für die FDP, weil sie gegen etwas waren. Dabei nahm man Westerwelle als Kollateralschaden in Kauf. Jetzt ist Merkel mit ihm und seiner mediokren Truppe (insbesondere Rösler und Brüderle) auf Gedeih und Verderb mindestens noch dreieinhalb Jahre verbunden, ja verhaftet.
Wulff als Kandidat aufzustellen – mehr blieb fast nicht. Wulffs größtes Revoluzzertum war Anfang der 80er Jahre, als er sich gegen die mögliche Begnadigung der im Flick-Parteispendenskandal Verurteilten stellte. Gauck war zu dieser Zeit Pastor in Rostock. Ein Kirchenmann im sozialistischen Staat. Der SPD-Chef hat schon Recht: Wulff hat eine lupenreine Parteikarriere vorzuweisen. Joachim Gauck ein Leben.
Gauck ist, um noch einmal Angela Merkel zu zitieren, tatsächlich ein »Demokratielehrer«. Die Stasi-Unterlagenbehörde wurde ob ihres komplizierten Titels praktischerweise nach ihm benannt. Gelegentlich wird Gauck als Eiferer dargestellt, was er niemals war. Er war und ist ein Moralist, aber kein Michael Kohlhaas. Wer meint sich entblöden zu müssen, Gauck als Mann des Gestern zu verspotten, verkennt, dass die Bundesrepublik auch erst Mitte der 60er Jahre mit der systematischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen begann. Moral verjährt nicht nach Legislaturperioden.
Wenn Joachim Gauck wider Erwarten Bundespräsident würde – das wäre das Sommermärchen 2010. Ein kantiger, gelegentlich sturer Mann aus dem Osten. Die Bundesrepublik fest in »östlicher« Hand. Na und? Gaucks Anliegen ist die Kluft zwischen Regierung und Regierten aufzuheben. Ein hehres Ziel. Was spricht eigentlich dagegen, ihm diese Chance zu gewähren? Ich glaube, Joachim Gauck wäre ein sehr guter Präsident. Wir könnten längst mal wieder einen brauchen.
Ob Gauck ein guter Bundespräsident sein wird, vermag ich jetzt nicht zu beurteilen. Ich hoffe es und ich würde ihn dem farblosen Parteikarrieristen Wulff auf jeden Fall vorziehen. Allein, dass Gauck seine Aktivierung, er sprach allerdings von 70-jährigen im Allgemeinen, für ein Armutszeugnis der Parteien hält, lässt mich doch ein wenig an seiner Konsequenz zweifeln. Die Linkspartei lehnt Gauck ab, weshalb seine Wahl in der Bundesversammlung leider höchst unwahrscheinlich ist. Aber vielleicht siegt ja bei den Linken noch die Vernunft, denn überzeugend begründen kann sie die Ablehnung Gaucks nicht.
Er sollte bis zur dritten Runde durchhalten, dann genügt eine relative Mehrheit in der Bundesversammlung, um gewählt zu werden. Und die könnte er tatsächlich gewinnen, trotz Gegenstimmen oder Enthaltungen der »Linken«, da er wahrscheinlich Stimmen aus dem konservativen Lager bekommt. Die Chancen sind freilich gering, daß es reicht.
Daß »die Linke« nicht über ihren Schatten zu springen vermag, verwundert indes nicht.
Und es sei noch angemerkt: Hier sind wir uns einig.
*Unterschreib*
Eine Bekannte von mir hat Gauck in einer Pressekonferenz im Anschluss an einen seiner öffentlichen Auftritte erlebt. Ihr Eindruck, sinngemäß von mir wiedergegeben: »Die Ablehnung der Linken für Gauck beruht auf Gegenseitigkeit. Im kleineren Kreis kann er sich dann schon mal vergessen und auch nicht mehr ganz Druckreifes äußern.« Natürlich ist das wegen seiner Vergangenheit in der DDR und seiner Arbeit bei der nach ihm benannten Behörde verständlich. Aber man sollte von der Linken deshalb nicht erwarten, dass sie ihn wählt, auch im x‑ten Wahlgang nicht.
Das Signal, dass die SPD mit seiner Nominierung aussendet, ist deshalb durchaus widersprüchlich: Natürlich wird die CDU mit diesem Kandidaten vorgeführt, andererseits aber wird die Linke brüskiert und zum Opponieren gezwungen. Ich würde brüllen vor Lachen, wenn die Kandidatin, die die Linke nach dem Wochenende präsentieren will, Gesine Schwan heißt.
Die SPD muss hoffen, dass Gauck nicht gewählt wird, will sie nicht die Hoffnung auf Rot-Rot-Grün nach der nächsten Bundestagswahl bereits jetzt beerdigen. So wie es jetzt läuft, gibt es nach der nächsten Wahl wieder eine Große Koalition der beiden großen Parteien, die wieder beide Stimmen eingebüßt haben werden.
Eigentlich ist mit dem folgenden Satz, den ich einer Nachrichtensendung gehört habe, alles zur derzeitigen Bedeutung des Amtes des Bundespräsidenten gesagt: »Frau Merkel hat sich für Christian Wulff entschieden und darüber zuerst den CDU-Vorstand und dann die Öffentlichkeit informiert.«
Warum wir keinen guten Präsdienten haben werden...
Die besten Kandidat I n n e n waren jene, die keine Chance hatten. Frauen wurden vom Politestablishment nur aufgestellt, wenn keine Gefahr bestand, dass sie gewählt werden. Ansonsten ist das Amt immer benutzt worden, um entweder verdienten Parteisoldaten zu ehren oder Konkurrenten aus dem Verkehr zu ziehen (Wulff).
Wir könnten einen guten Präsidenten (oder eine gute Präsidentin!) brauchen, ja. Aber auch die SPD hätte keinen »guten« Kandidaten vorgeschlagen, wenn sie Aussicht auf Besetzung des Amtes hätte.
@Melusine B
Ich würde das nicht auf die Gender-Frage reduzieren, wenngleich sich da natürlich vor allem Hildegard Hamm-Brücher zeigen lässt. Die kandidierte 1994 als Bundespräsidentin (eigener Vorschlag der FDP). Hätte die SPD im 2. Wahlgang Rau zurückgezogen, wäre sie Bundespräsidentin geworden – und die Kohlregierung am Ende gewesen.
@Köppnick #3
Die Linke ist – siehe ihre letzten Kandidaten – überhaupt nicht satisfaktionsfähig. Das mag in kommunaler oder auch landespolitischer Verantwortung (besonders im Osten) anders sein – auf Bundesebene ist das so. Ihre Hybris zeigt sich ja inzwischen mehr als deutlich, da sie sich immer mehr als Königsmacher geriert. Diese Position hatte die FDP in den 80er Jahren inne.
Zweifel
Zweifel an der Aufrichtigkeit der SPD können einem sehr gut kommen:
Wieso haben sie nicht die immerhin kluge und eigenständige (und jüngere) Gesine Schwan noch einmal nominiert?
Und Zweifel dann doch an den Grundlagen des Systems (an den Instanzen, die »Vorschläge« machen und untereinander ausmachen dürfen, solch ein Amt zu besetzen):
Das Sich-Winden eines FDP-Generalskretärs gestern Abend in »Berlin direkt« – absolut professionell der Typ -, wir bräuchten »jetzt«, also nach dem alle braven Gepflogenheiten endlich einmal kündigen Abgang Köhlers, einen Kandidaten wie Wulff, der wieder »aus der Politik« käme. (Und es war ziemlich klar, er kündigte es kaum verhohlen an, dass er auf seine Leute im Osten Einfluss nehmen wird, um Wulff auch bei denen noch durchzusetzen: Sonst wäre es das für die Au0enwirkung der Regierung – die also höherstehende Raison – »das falsche Signal«.)
Als wäre es das nicht einmal gewesen, der Rücktritt Köhlers: das richtigere, das Politikgefängnis brechende Signal.
Nein, nicht noch einmal...
Frau Schwan und hier herumstaksen und Betteln bei der »Linken«. Sie wäre eine »Köhler light«-Ausgabe, die es auch »denen da oben« zeigen will – aber nicht kann. Und im übrigen wäre dies ihr drittes Scheitern. Das mag doch niemand aushalten.
Klar geht es um das imaginäre »Projekt« Schwarz-Gelb, welches nie eines war und noch weniger ist. Es ist nur noch eine Schimäre. Merkels Politik ist nur noch Machterhalt; sie ist noch schlimmer als Kohl, von dem man immerhin glaubte, er bekäme das alles nicht so mit.
Komisch, dass die FDP so auf die Außenwirkung zielt. Wie war das denn mit Westerwelles Ausfällen? Oder diesem Jüngelchen, der Gesundheitsminister spielt? Vom weinseligen Brüderle ganz geschwiegen.
Ich erlebe ja Politik immer nur aus der Ferne, medial – aber das schon bewußt eine ganze Zeit. Ich kann mich nicht erinnern, jemals vorher eine derart abgehobene, arrogante und am Wohle eines Gemeinwesens uninteressiertere Regierung gehabt zu haben.
Und hätte sie nicht doch ganz andere »Akzente« setzen können?
(Wenn das Amt ja doch nicht so viel hergibt...)
Ich habe sie jedenfalls für unkonventionell genug gehalten, da mal eine ganz andere Brise reinzubringen.
Wohl gemerkt: Gauck wäre mir auch recht (und auch sein Alter störte mich in Wirklichkeit nicht). Ich meine aber, solch ein Amt auf eine Lebensleistung abzustellen – die bei J.G. unbestritten ist -, wäre zu wenig. Es riecht einerseits nach Schlusspunkt, andererseits nach dem immer noch praktizierten »Opa ab nach Europa« der Parteien.
Ich hatte seinerzeit Weizsäcker einmal über Kunst reden hören. (Er reiste nach Afrika, nach Timbuktu, und wusste wirklich etwas über die Kunst in Mali zu sagen!) Ab da habe ich mir immer gewünscht, dass eine/r in einem solchen Amt sich nicht nur in Konsensformeln ergehen möge, sondern eben etwas auch in etwas brillieren könne, das mich, mich persönlich interessierte. (Dass eine solche Forderung naiv ist, mal dahingestellt. Aber soll er nicht auch »mein« Bundespräsident sein? Sind wir angesichts der Realien nicht alle naiv in unseren politischen Forderungen?)
Ich glaube, worunter diese ganze politische Kaste am meisten leidet, ist diese dumme, dumm gewordene Fraglosigkeit ihrer Pragmatiken und Prozeduren. Bewegen kann man da nur noch etwas mit Dissens oder mit Geist. Welchem auch immer. Und da schien mir eine Frau aus dem universitären, aus dem dazu halbwegs internationalen Bereich doch eine probable Wahl.
(Und das ganze Vorfeldgeplänkel kann man ihr eigentlich nicht – zumindest nicht allein – anlasten.)
Parallelwelten
Naja, Frau Schwan hat fast ein Jahr vor der tatsächlichen Bundespräsidentenwahl auf Wunsch einer absterbenden SPD (Beck! Münte! – Geschichte zum Loslassen!) einen »Wahlkampf« veranstaltet – der natürlich blödsinnig war, weil das Volk sie nicht wählen kann. Das kostet nicht nur Geld (unser Geld), sondern war auch tatsächlich überflüssig. Als Person war sie natürlich integer und sie wäre auch im Vergleich zum Sparkassenmenschen Köhler die Intellektuellere gewesen, keine Frage. Aber dieses Herumgereiche, Werbende, dann sogar Essen mit Gysi – das war doch auch extrem peinlich (wo waren da ihre Berater).
Ich glaube fast, Merkel et. al. befinden sich in einer Parellelwelt, das, was Koeppen in den 60ern als »Treibhaus Bonn« bezeichnete kommt einem heutzutage fast putzig vor. Längst ist daraus eine »Parallelwelt Berlin« geworden. Das ist dann tastächlich so etwas wie eine Dekadenz – nur eben (wie im »alten« Rom) von den Eliten oder diejenigen, die sich dafür halten.
»Transparenz« – das ist vielleicht ein Schlüsselbegriff?
Koeppen wäre durchaus noch aktuell, weil sich da, »wie es funktioniert«, letztlich nicht so viel geändert hat, denke ich – außer dass es komplizierter geworden ist und es mehr Mitspieler gibt (Laien wie Lobbyisten, Interessenverbände wie auch – heute eher weniger – die »Intellektuellen«; aber etwa auch mit-bohrende Blogger).
Zugleich scheint mir die Transparenz doch gewachsen, weil die Medienbeobachtung durchaus ihre Funktion übernomen hat. Und alle reden ja auch »offen« über ihr Geschäft. (Dass bezahlte Claquere was anderes sagen, wenn die Mikros aus sind, kann sich jeder denken, der selber in einem Unternehmen gearbeitet hat. Aber ansprechbar halten sich alle.) Jedoch haben sich Befragbarkeit wie Verantwortlichtkeit der Handelnden insgesamt erhöht.
Das aber wiederum macht es notwendig, das zu Enthaltende stärker zu schützen. Manchmal kann einem Beobachter das auch klar werden. (Etwa wenn wesentliche Dokumente der Gerichtsbarkeit vorenthalten werden [Bubak], oder Insiderwissen nach außen dringt bzw. lanciert wird [wiki leaks].)
All diese etwas divergenten Transparenz-Bewegungen machten es aber eigentlich auch nötig, dem genauer anhaltender, sorgsamer zu folgen – das kann aber kaum ein Interessierter leisten. Insofern müsste man die Politik auch entlasten bzw. dem »Bürger« klar machen, was der Deal ist, den er unausgesprochen eingeht: Dass »die da« vernünftige Politk machen aber den Delegierenden nicht mit den Details behelligen, vor allem nicht mit Streit.
Insofern könnte Gauck, der ja auch mehr Kontroverse fordert, ein Aufrührer sein. Aber würden die anderen mitziehen?
(Und auch die Zumutungen für die in den Parallelwelten werden ja größer werden, wenn die gewohnte eindirektionale Kommunikation sich nach und nach auflöst durch neue Mechanismen und Regeln der Rechterfertigung nach außen (nach unten). Ich vermute jedenfalls, hier liegt der Hauptfehler der Eliten in ihrer – immer noch – »Arroganz der Macht«. Deren Flugbahn geht so hoch, dass sie die eigentlich beunruhigen sollenden Zeichen unten nicht mehr korrekt zu lesen bekommt. Distanz von der »Basis«, vom »Wähler«, vom »Volk« etc. Und da sind die Rituale ein weiterer Schutz vor: Man kann sich auch bestens hinter ihnen – die doch nach außen als transparent erscheinen – verstecken.)
@Gregor #6
Jetzt muss ich aber doch mal fragen. Klar ist mir, dass Du die Linke nicht magst, dass Du Lafontaine und Gysi nicht ausstehen kannst, dass Du Köhler auch als absolute Fehlbesetzung angesehen hast und, dass Du die jetzige Regierung für unglaublich arrogant, abgehoben und am Allgemeinwohl uninteressiert empfindest. So jedenfalls interpretiere ich Deine obigen Anmerkungen und abgesehen von Deiner Beurteilung der Linken und ihrer Führungsfiguren kann ich das nachvollziehen. Nur, was schwebt Dir denn als Befreiung aus dieser Misere vor? Was bleibt denn als Alternative, seit sich die SPD als Alternative verabschiedet hat und jede Option zur Änderung der bestehenden Machtverhältnisse ausschlägt, bzw. sich lieber mit diesen Weinseligen und Jüngelchen, oder den einzig am Machterhalt Interessierten ins Bett legt?
Es müssen wieder klare Fronten geschaffen werden und das lächerliche Argument, dass es zur augenblicklichen Chaotenpolitik keine Alternative gäbe muss endlich ad absurdum geführt werden. Das geht z.Zt. nur mit den Linken, so sehr einem manche Typen dort auch auf den Magen schlagen. Lafontaine und Gysi sind das aber nicht, jedenfalls für mich.
Wie sieht es denn mit Gaucks Wirtschaftskompetenzen aus? In Zeiten wie diesen auch nicht ganz unwichtig, weil sich das Volk vom Bundespräsidenten doch durchaus Erklärungen oder »Visionen« erwarten könnte...
Der Bundespräsident sollte, wenn überhaupt, gesamtgesellschaftliche Visionen entwickeln. Da ist (meiner Meinung nach) die Fokussierung auf die Wirtschaft alleine zu wenig. Im übrigen richtet sich doch inzwischen jeder nach der Wirtschaft.
Im übrigen gehörte es zu den erstaunlichsten Fakten der Amtszeit Köhlers, dass er, als unzweifelhaft guter Wirtschaftskenner, außer Stammtischparolen zu diesem Thema nichts Substantielles gesagt hat.
Die Linke als Rettung aus der scheinbaren Alternativlosigkeit anzusehen, ist doch pure Verzweiflung. Deren Umverteilungskonstruktionen sind Relikte aus weitgehend autark agierenden Volkswirtschaften, die je nach Lage Mauern errichten oder niederreißen.
Die Bankenkrisen kann man mit einem ziemlich einfach Konzept für die Zukunft bannen. Was wir brauchen ist eine Art »Glass-Seagull-Act«, der bis 1994 in den USA praktiziert wurde und erst durch Clinton aufgehoben wurde. Grob gesagt geht es darum, Investmentbanken von Geschäftsbanken zu trennen, d. h. entweder ist eine Bank im einen oder im anderen Bereich tätig. Überschneidungen sind nicht zulässig. Hierdurch wird verhindert, dass Banken so groß werden, dass sie sich selbst nicht mehr retten können aber so wichtig werden, dass man sie retten muss. Obama hatte wohl ursprünglich die Intention diesen »Act« wiederzubeleben. Warum er davon offensichtlich abgegangen ist, weiss ich nicht.
In Europa wäre dies ein probates Mittel. Vielleicht implementiert man noch eine Art staatliche Bank (ähnlich der KfW, vielleicht sogar auf europäischer Ebene), die Spareinlagen und gewährte Kredite garantiert. Das würde zwar auch Geld kosten, aber statt Spekulanten durch Bankgarantieren einzuladen weiter gegen Volkswirtschaften zu agieren, könnte man dieses Geld für seriöse Einlagengarantien verwenden.
Bei den Sozialleistungen im Lande müsste viel mehr Wert auf Sachleistungen und Infrastrukturmaßnahmen gelegt werden. Leuten Geld in die Hand zu geben (und später wieder abzuziehen) bringt es ja nachweislich nicht. Statt Kindergelderhöhungen und windige Elterngeldmodelle: freie Schulbücher und Schulmaterialien, Ganztagsschulen mit Betreuung (bspw. Mittagessen, aber auch Hausaufgaben), saubere Schulen, moderate Studiengebühren, die ausschließlich für die Infrastruktur der Universitäten zweckgebunden sind (und auch dort verbleiben).
Das hat alles nichts mit SPD, Linke oder CDU zu tun. Sondern mit vernünftiger Politik.
Selbstverständlich nicht nur Wirtschaft (habe ich schlecht formuliert), aber eben auch. Und Kompetenzen sind ja nicht gleichbedeutend mit »danach richten«.
[EDIT: 2010-08-06 21:48]
#15
Ja, Du hast recht, die Linke als Hoffnung auf Veränderung zu betrachten, entspringt der Verzweifelung, aber so wir z.Zt. regiert werden kann es ja wohl nicht weitergehen und die einzige Option zur Veränderung ist halt die Linke. Ich unterschreibe all Deine Ausführungen darüber, was gemacht werden müsste. Wird aber nicht! Einzig Machterhalt und Klientelschonung ist die oberste Maxime momentanen Regierungshandelns. Der gerade selbstbeweihräuchernd veröffentlichte „Kraftakt“ ist doch geradezu eine Beleidigung jedes Vernunft – und Gerechtigkeitsempfindens. Mit dieser Regierung wird ganz sicher keiner Deiner Vorschläge umgesetzt und damit bleibt meine Frage, wie Du Dir denn die Bildung einer neuen Regierung für, sagen wir mal, vernünftigere Politik vorstellst, unbeantwortet.
Ich sag’s noch mal: Die Linke ist der Schlüssel. Ohne sie wird es keine Veränderung der Chaospolitik geben. Sie nicht einzubinden, ist der unverzeihliche Fehler der SPD.
@blackconti
Da bleibt eben unser Dissens: Die Linke ist nicht der Schlüssel. Bzw. ein Schlüssel, der nicht passt. Dass die anderen auch nicht passen, macht ihn nicht besser.
@Gregor
Aber große Banken wie Goldman Sachs oder Lehman Brothers (so weit ich weiß) waren doch reine Investmentbanken (erstere hat erst vor einiger Zeit um eine Geschäftsbanklizenz angesucht, um an staatliche Gelder zu gelangen).
@Metepsilonema
Lehman ist ja auch in die Pleite entlassen worden. GS ist durchaus auch Finanzdienstleister für Großunternehmen (und reiche Kunden). Gemäss dem, was ich gelesen haben, sträubt sich GS gegen eine Wiederbelebung des »Glass-Seagull-Acts«, weil sie dann praktisch zerschlagen würde.
Was ich noch vergessen habe, ist, dass man für Banken feste Eigenkapitalregeln einführen muss. Dann würde sich das Thema der zügellosen Spekulation von alleine lösen.
Die derzeit im Gespräch kursierenden Abgaben und Finanztransaktionssteuern sind Unfug, weil sie den Staat noch zum Hehler machen. Auch Kontrolleinrichtungen sind vollkommen unsinnig, da Finanzgeschäfte immer nur im nachhinein – wenn überhaupt – kontrollierbar sind. Die Diskussion wird grundfalsch geführt, weil man letztlich nur an dem Symptomen herumdoktert, aber nicht die Ursachen ebseitigt. Das ist etwa so, als würde man einem an Lungenkrebs erkrankten Patienten nur das Rauchen unter Aufsicht des Arztes gestatten.
Fettnapf-Wulff
Schön, dass Wulff sich Anfang der 80er Jahre gegen die mögliche Begnadigung der im Flick-Parteispendenskandal Verurteilten stellte. Nicht schön, was er im November 2008 zur Finanzkrise sagte.
Ohgottohgottohgott, wenn der Buprä wird und dann in solche Fettnäpfe tritt, grässlich!
Naja, bei dem Wort »Pogrom« schreien natürlich alle auf. Solche Fettnäpfchen gibt es bei Wulff ja eher selten. Er fällt ja sonst als vollkommen harmlos und auch relativ wirkungslos auf. Das wird er als BP sicherlich petrfekt managen. Er ist Merkels Vorposten – Kritik ist von ihm genauso wenig erwartbar wie eine Art gesamtgesellschaftlicher Vision.
Wenn schon Kritik- und Visionsfrei, dann bitte auch Fettnapffrei
Naja, er ist (und bleibt) ein Mensch. Und wer von uns ohne Fettnapfspuren, der werfe ... usw.
Du hast grundsätzlich recht. Aber Finanztransaktionssteuern sind zumindest aus zwei Gründen bedenkenswert: a) Weil sie ein Steuerungsmöglichkeit darstellen, und eventuell (man weiß es vorher natürlich nicht) die Häufigkeit von Transaktionen senken können (was entschleunigend wirkt), und b) weil es nicht ungerechtfertigt ist, »den Finanzsektor«, der von der Allgemeinheit alimentiert wurde, um seinen Anteil zu bitten.
Sommermärchen 2010?
Was zwei Stimmen mehr bei den Linken auslösen können ...
... ein Gegenvorschlag, falls Runde 3 eingeläutet wird ...
Ich hoffe sehr, dass Wulff Stil zeigt und aussteigt, wenn es ihm im zweiten Wahlgang nicht reichen sollte.
Gauck als BP wäre dann in diesem Sommer wirklich ein Sommermärchen.
Im dritten Wahlgang als »dritter Mann« zum ersten Mann Deutschlands gewählt;
lebendige Demokratie.
Ich habe mir sehr einen anderen Ausgang gewünscht.
Dass Wulff aussteigt, war natürlich weltfremd. Ein Tweet hat’s meiner Meinung nach sehr gut getroffen: Als ihr altes Land nicht mehr wollte, sind sie davongelaufen und als ihr neues Land sie brauchte, haben sie gekniffen. Danke LINKE. von Peter Hellinger.
Ja, ein wirklicher Treffer: voll ins Schwarze, das Twitter-Zitat.
Und es war mir schon ziemlich klar, dass Wulff weitermachen wird, ging in diesem ganzen Krimi ja auch nicht anders. Es hätte jedoch ein wenig Größe gezeigt, wenn er ..., aber da wünsche ich mir immer noch irgendwo etwas in unserer Politik, was einfach nicht ist, vor allem nicht bei der jetzigen Regierungskonstellation.
Ich habe mir schon Westerwelle nicht auf dem Aussenministerposten vorstellen können, und nun kommt CW als BP dazu, dass ist nicht meine Welt! Ich seh’ schon die Bilder, Hochglanz und teuer!
Ich hoffe, dass uns Joachin Gauck auf irgendeine Art und Weise im politischen Leben erhalten bleibt.
Oh, was für ein Dilemma und dort oben wird alles weggelächelt.
Den einen mag das beruhigen, den anderen noch weiter verunsichern: Es ist bei uns nicht anders. Der gemeinsame Nenner von Rot und Schwarz scheint der »der beiden nützt«, zu sein. Ach ja: Und gelächelt wird auch. Das ist in.
Man kann den Herrschaften nur weiter auf die Finder schauen, mit allem anderen täte man ihnen nur einen Gefallen.
Ja, schade, dass es mit Gauck nicht geklappt hat.
Ich fand es schon amüsant, wie breit und hoch der Zuspruch zu Gauck ausfiel (Spiegel und FAZ, die Süddeutsche..) – Eine wirkliche Meinung zu den Kandidaten kann ich mir aber nicht amaßen.. dann schon eher zu ihren Lektüren (s.u.).
Gaucks Lektüre wollte ich schon tadeln bis ich festgestellt habe, dass er »For whom the bells tolls« und nicht »A Farewell to Arms« meinte, das ich so schlecht fand, dass ich bisher nichts mehr von Hemingway angerührt habe.
Amusement? Spaßfaktor? Weit gefehlt!
Egal auf welch einem sozialen Podest der Bürger steht, ein Staat, sprich der Bürger, die Gesellschaft, braucht eine Orientierung, Werte und Normen. In meinen Augen lässt es sich ohne diese Fundamente menschlich nicht auskommen. Und wenn es in den letzten Wochen eine Person gegeben hat, die als Vorbild Werte vermittelt hat, dann war und ist es Joachim Gauck.
Bei der gestrigen Bundespräsidentenwahl ist ein Mann angetreten, der von Anfang an wusste, dass er diese Wahl nicht gewinnen wird.
Aber- und nun kommt das berühmte aber: Aber in meinen Augen hatte er Hoffnung. Hoffnung darauf, dass vieles in einer Demokratie möglich ist, auch die Wahl einer Person, die angetreten ist, das höchste Amt in unseren Landen auszufüllen und eigentlich keine Chancen darauf hat. Das dies dann tatsächlich scheitern sollte und zwar wegen der sturköpfigen Haltung einer mittlerweile nicht mehr kleinen Partei, das erschüttert mich und lässt mich stark an den Fähigkeiten dieser hochdotierten Berufspolitiker zweifeln.
Und der Mensch, Joachim Gauck, hat genau das, was der Bürger sich hier wünscht: Visionen, Erfahrungen und diese nicht nur politisch, vor allem auch menschlich ( diese möchte ich Christian Wulff allerdings nicht absprechen, hat er doch, lt. Biographie aus den Medien, einen Großteil seiner Jugend die MS-kranke Mutter gepflegt ), und Gauck weiß genau, was Freiheit bedeutet und wie sehr wir uns diese erhalten, erarbeiten müssen. Und das kommt nicht aus der Retorte sondern aus Lebenserfahrung und die bringt Joachim Gauck mit, säckeweise.
Ein Land muss unbedingt auch von Innen gefühlt und verstanden werden. Das ist wie in einer Zweierbeziehung, da kommt es nicht auf das Make-up und den Lippenstift an, nicht auf das After-Shave oder die Pomade, sondern auf, wie es doch so schön heißt: auf das Herz – und den Verstand. Chr. Wulff werde ich obiges nicht absprechen, aber setzt man beide ehemalige Kandidaten auf die Waage, dann schlägt die Anzeige weit weit für Gauck aus.
Das haben sehr sehr viele auf Wahlebene nicht erkennen wollen, weil das Machtstreben sie schon blind gemacht hat. Die Rechnung wird kommen.
Ich bedaure es auch heute immer noch sehr, dass Joachim Gauck nicht unser neuer Bundespräsident geworden ist. Aber wenn ich seine Videobotschaften richtig verstanden habe, dann bleibt er uns als öffentlicher Mensch erhalten und füllt seine Rolle für uns mit Leben aus. Vielleicht erreicht er da sogar mehr als in der Rolle eines Bundespräsidenten.
Hermann Hesse lässt in Siddharta diese Worte so schön klingen: „Weisheit ist nicht mitteilbar. Weisheit, welche ein Weiser mitzuteilen versucht, klingt immer wie Narrheit.”
Gauck teilt sie nicht mit, er lebt sie.
@lou-salome
Gaucks Nominierung war natürlich auch Teil eines Machtspiels – eines Machtspiels der rot-grünen. Hätten sie die Mehrheit gehabt, wäre Gauck von ihnen nie aufgestellt worden. Gauck wusste das – und er ahnte, dass er mit grösster Wahrscheinlichkeit nicht gewählt wird. Die Möglichkeiten waren da, aber nur arithmetisch. Und die »Linke« ist in die Falle getappt.
Wenn ich phorkyas richtig interpretiere, war er über das fast einhellige Echo in den so unterschiedlichen Medien wie FAZ, SZ, Spiegel, usw. »amüsiert«. Das war ich übrigens auch. Gauck war – so unterschiedlich die politischen Lager sind – für viele eine Projektionsfläche.
Viele haben die Wahl als »Sternstunde der Demokratie« bezeichnet. Ich empfand das nicht. Ich empfand es eher als peinliche Inszenierung von Leuten, die ihren (berechtigten? Unberechtigten?) Ärger auf ihre Führung in der Wahlkabine an einer sach-fremden Entscheidung auslebten. Das kann man machen. Aber es zeigt, wie schlecht es um demokratische, oder, besser: pluralistische Strukturen in den Parteien bestellt ist. Man traut sich nicht mehr, mit offenem Visier zu widersprechen. Sonst ist man irgendwann weg vom Fenster. Merkels Machterhaltungstrategien sind erfolgreich, aber opferreich. Schon jetzt ist niemand weit und breit zu entdecken, der ihr einmal nachfolgen könnte.
Ich glaube im übrigen nicht, dass unsere Politiker zu gut bezahlt sind. Sie sind gut bezahlt; allenfalls an den Pensionsregelungen muss man etwas ändern. Jemand hat ausgerechnet, dass Wulff, wenn er denn mit 61 (also nach zwei Wahlzeiten) in Pension ginge und 85 Jahre alt wird, rund 7,5 Millionen Euro in diesen fast 25 Jahren erhielte. Das ist zweifelsohne sehr viel. Aber es ist das, was ein Balltreter wie Ballack in einem Jahr bekommt. Merkwürdigerweise hält sich die Empörung hierüber immer wieder in Grenzen.
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Mit Gauck wurde auch eine Chance vertan, einen »Bürgerrechtler« in ein politisch wichtiges Amt zu bringen. Die meisten sind von den Parteien mit der Zeit aufgesogen worden und agieren fast nur noch auf folkloristischer Ebene. Das war einmal anders. Und zwar 1969. Als mit Willy Brandt ein Emigrant Bundeskanzler wurde. Da begann die Bundesrepublik. Langsam. Das »vereinigte Deutschland« hat noch nicht begonnen.
Die Welt, kompakt
Sehr schön, wirklich sehr schön gesagt: Wulff hat eine lupenreine Parteikarriere vorzuweisen. Joachim Gauck ein Leben. Die machttaktischen Hintergrundspielchen habe ich verdrängt; vermutlich bin ich deshalb so über alle Maße enttäuscht. Gauck war von vornherein ein Kandidat, während Wulff sich bisher nur als Strohpuppe profiliert hat. Ich fühle mich – ohne Übertreibung – ganz so, als ob Frau Merkel die schallende Ohrfeige, die ihr jetzt von allen Seiten ins Gesicht geschrieben wird, ohne Zögern weitergereicht hat: an mich persönlich. Ich fühle mich tatsächlich geohrtfeigt – dafür, dass ich ernstlich dachte, die Zeitzeichen sprächen deutlich genug für eine parteilagerunabhängige Wahl.
Vor allem aufgrund seiner Rede im DT habe ich für Gauck gehofft und gebrannt wie schon lange nicht mehr für eine politische Figur – und damit ja auch irgendwo noch Raum gelassen für eine Wende zur Vernunft ... Der politische Vergleich könnte unpassender nicht sein, aber ich dachte nach der Wahl Wulffs im ersten Augenblick an eine Angela Putin, die sich ihren Medwedew ins Amt gehievt hat. Die Wahl hat (wieder einmal, aber doch viel deutlicher als in der Vergangenheit) Einblick gegeben in eine Parallelgesellschaft, die statt der politischen Gestaltung politische Verdrossenheit übt.
@lyam
Also zunächst einmal ist es schön, von Dir zu hören. Die ganze Bundespräsidentensache korrespondierte bei mir mit meiner Lektüre des Buches »Repräsentation in Demokratien« von Jürgen Petersen. Diese Lektüre zog sich aus verschiedenen Gründen – plötzlich war das allerdings sehr aktuell und fesselnd.
Ich werde hier am Sonntag meine Besprechung zu diesem Buch veröffentlichen und würde mich freuen, Deine Diskussionsbeiträge/Einschätzungen hierzu zu lesen.
Zu Gauck: Auch ich war fast elektrisiert (zumal mir bei der Demission Köhlers neben einier parteitaktischer CDU-Spielchen – Rüttgers? – auch sofort Gauck einfiel. Allerdings kaum als Kandidat der SPD/Grünen.
Wir werden nie wissen, wie Gauck als BP gewesen wäre (häufig fallen solche Hoffnungsträger ja auch tief). Für mich ist Wulff vorerst nur Symbol für eine fast oligarchisches Verständnis von Politik. Das ist auch ein bisschen bequem: Man verschafft sich selber die Lizenz zum Nörgeln und neigt dazu, ungerecht zu sein.
Leidenschaft
@lou-salome: Sie könnten mir in der Tat wohl Hildebrandts Ausspruch vorwerfen: „Ich hoffe, Sie verzeihen mir meine Leidenschaft, ich hätte Ihnen die Ihre auch gerne verziehen.“
- Das medialen Wellen waren mir mal wieder zu hoch, dass ich abgeschaltet habe und nur willkürlich diesen Lektürenvergleich herauspickte. In der Tat war die Projektionsflächenwirkung so groß, dass ich auch schon fast für Gauck war, obwohl ich doch unbeteiligt bleiben wollte (nur schon aus intellektueller Zugehörigkeit?). Das war schon ganz richtig herausgelesen,..
In politischem bin ich leider so unbewandert (oder auch bewusst ignorant?), dass ich mich eines Urteils eigentlich ganz enthalten wollte – nur der Artikel von Adam Soboczynsky »Wir glauben euch doch eh nicht« in der Zeit möchte ich noch empfehlen. Es geht auch um die Präsidentendebatte:
»Natürlich sei auch Wulffs Gegenkandidat Joachim Gauck von der SPD vor allem deshalb ausgewählt worden, da dieser von Merkel geschätzt werde und sie damit in ein unschönes Dilemma gebracht worden sei. Wohin man schaute, glaubte man das allerscheußlichste Machtkalkül zu erblicken.«
Und später:
»Der Analyse von politischen Prozessen liegt genau jenes negative Menschenbild zugrunde, das bebend beklagt wird.«
(Ein Gedanke, der mir auch schon lange auf der Zunge lag.)
@ phorkyas; Ich hoffe doch sehr, es bleibt nicht beim ‘hätten’, ich hoffe, diese Leidenschaft ist mir verziehen :).
Wann gab es das letzte Mal soviel Interesse für Politik? Und zwar richtig spürbar, wie am 30.06.2010?
Bei den Landtagswahlen? Bei der KanzlerInnenwahl?
Das muss man (der Politprofi) doch erkennen und anpacken und festhalten. Und da hätte ‘man’ sie doch endlich im Gespräch, die junge/jüngere Generation, die, nicht nur, im Netz zu tausenden unterwegs waren, um für ihren Kandidaten zu plädieren. Politikverdrossenheit? Keine Spur.
Dieses deutliche Zeichen, das Gauck heisst, wurde von entscheidener Seite nicht vereinahmt, nein, es wurde, ich zitiere einen Teil des obigen Satzes von G.K.: ‘Die meisten sind von den Parteien mit der Zeit aufgesogen und agieren fast nur noch auf folkloristischer Ebene.’ ( Das ist ja wieder ein Bild ...). Wie lange wird JG brauchen, um Mitglied im Folkloreverein zu werden? Parteimitglied ist er ja nicht und das lässt hoffen ...
„Das Benutzen der Person Gauck...“, hier spricht er im Interview mit Claus Kleber u.a. darüber
Im Beitrag von lyam finde ich mich wieder und die eingefügten Links ( und deren Links und deren Links,...) führen auf sehr gute und interessante Artikel.
@Phorkyas
Zum ZEIT-Artikel wäre einiges zu sagen – ich halte ihn für schwach (und eines Feuilletons der ZEIT tatsächlich nicht würdig). Wenn man Strömungen als machttaktisch herausarbeitet, hilft es nicht, dies als Politik zu »verkaufen« oder gar zu beschweigen.
Und: »Der Analyse von politischen Prozessen liegt genau jenes negative Menschenbild zugrunde, das bebend beklagt wird« kann man wenden: »Der Analyse von medialen Prozessen liegt genau jenes negative Menschenbild zugrunde, das man selber beklagt.«
Darüber kann man sicherlich diskutieren. Sehr inspiriert erscheint er mir tatsächlich nicht, aber momentan (es mag auch an einer gewissen Übersättigung liegen), aber die letzen Feuilletons von FAZ (Samstagszeitung) und Zeit haben mich nicht wirklich vom Hocker gerissen. Aber nicht ablenken. – Kommt es nun so weit, dass ich Herrn Soboczynsky verteidige, der doch auch gern gegen ‘das anti-intellektuelle Internet’ provozierte? Wohl doch. Dass ich so gut wie nichts über die Wahl lesen wollte lag primär daran, dass die Kommentatoren so auf das Machtkalkül abfuhren. Der innerparteiliche Konkurrent Wulff sollte weg,.. und was würde das für die Position Merkels bedeuten, wenn Wulff überzeugend oder mit Schwierigkeiten gewählt würde. So hat man sich die Interpretationsfährte im Vorhinein schon ausgelegt. – Der Soboczynskysche Einwurf mag nicht sehr originell und nicht sehr wohl ausgeführt sein... aber er drängte sich mir doch auf.
Wie sollte man also kommentieren? Wie Herr Nonnenmacher:
»Diese Lesart rückt die Wahl, vor allem bei einem Sieg von Christian Wulff (warum eigentlich nur in diesem Fall?), in die Nähe verfassungspolitischer Illegitimität.
Das ist eine Anmaßung, die auf die Forderung hinausläuft, die Diskussion über mögliche politische Auswirkungen der Wahl vorher stillzulegen – eine seltsame Vorstellung von Demokratie und Meinungsfreiheit«
(Davor schwurbelt und insinuiert er sich noch einen ab – und so sehr ich ihm in der Sache gerne zugestimmt hätte, dass das nicht die geschickteste Argumentation für Gauck war – so muss man doch auch gerade dieses Totschlagargument gegen es selbst wenden – Ok, aber bevor es so ins Detail geht, sollte ich mir vielleicht doch auch Biedenkopfs Einlassung anschauen.. Und dann fische ich doch beinahe lieber im Trüben mit Herrn Soboczynsky?)