Ein Mann fährt mit dem Nachtzug von Norwegen nach Schweden, um sich dort medizinisch behandeln zu lassen. Offenbar leidet er an einer schweren Krankheit. Im Zug trifft er einen ehemaligen Mitschüler, an den er sich kaum erinnert. Sie erzählen und trinken ein Bier, als der Mann ans Telefon gerufen wird – seine Frau ist besorgt, sie hat Angst um die Zukunft, aber er kann sie beruhigen. Als er zum Speisewagen zurückkommt, ist dieser verwaist. Und auch in seinem Abteil ist der ehemalige Mitschüler nicht anzutreffen.
In einer anderen Geschichte arbeitet ein Ich-Erzähler als Helfer des Bestatters. Frau Seland, die er von früher kannte, ist gestorben. Durch eine Ungeschicklichkeit fällt ihm die Leiche hin. Eine klumpige, stinkende Flüssigkeit tritt aus und die vorher mühsam angezogene Leichenbluse ist verschmutzt. Um den Geruch zu bannen, holt er Chlorpulver und versucht, das Kleidungsstück zu säubern. Kurze, belanglose Gespräche mit und zwischen den Trauernden. Nur die Bestatter wissen am Ende, dass die unrettbar verdreckte Bluse zwischen Frau Selands kalten Füßen zusammengeknüllt liegt. Oder eine Party, die die Genesung der Gastgeberin feiern soll, aber Abgründe zwischen dem Paar offenbart, in dem im Mann eine Lawine abgeht. Die letzte Geschichte: Abermals ein offenbar schwerkranker Mann, der in einer Sektenveranstaltung urplötzlich geheilt zu werden scheint.
Es sind insgesamt sieben Erzählungen, die Bjarte Breiteig in dem Buch »Von nun an« versammelt hat. Alle haben diese phantastisch-surrealen Wendepunkte. Fast immer ist der Motor der Geschichten ein zufälliges Wiedersehen von Menschen; oft aus der Schulzeit. Es sind selten die »guten« Bekanntschaften, die sich da wiedertreffen. Eher die distanzierten; manchmal war einer ein heimliches Vorbild. Der Gescheiterte erinnert sich an den Erfolgreichen und nicht umgekehrt, sagt der Mann im Zug, »Knirps« genannt, der den Ich-Erzähler Tor früher bewunderte und von dem Punkt erzählt, als diese Bewunderung aufhörte und er begann, an Gott zu glauben.
Gott? Der Leser stutzt. Auch die Schlusserzählung, eine Art Wunderheilung (»Wenn der Tag vorüber ist«), suggeriert zunächst spirituelle Tröstung. Aber diese Zustände der Besänftigung oder gar Hoffnung sind nur ephemer, werden eher nüchtern rezipiert (wie von Knirps) oder durch eine andere Person auf der Stelle konterkariert, in dem beispielsweise die Freundin des Geheilten in den religiösen Beschwörungen nur Phrasen erkennt. In der Beerdigungsgeschichte (»Menschen im Regen«) bemerkt der Pfarrer ungefragt und knapp Ich halte es nicht mehr aus und kündigt sein Aufhören in einigen Monaten an. Hier drängt sich eine Paraphrase zu Wittgenstein (»Tractatus«, 6.43) auf: Die Welt des Gläubigen ist eine andere als die des Ungläubigen. Breiteigs Figuren sind in diesem Sinne Weltenbummler.
Es ist typisch für diese Erzählungen, dass es keine Begründungen oder weiterführende Erläuterungen gibt. Der Leser ist zunächst Zeuge einer bestimmten Situation, die zwischen den Protagonisten evoziert und reflektiert wird. Viele Bezugspunkte aus der Vergangenheit bleiben dem Leser dauerhaft verborgen.
So etwa in der Erzählung »Dann werdet ihr verstehen«. Ein Ich-Erzähler, inzwischen Lehrer (oder, ob seiner Religiosität, vielleicht sogar unterrichtender Priester?), begegnet seinem Teenagerschwarm Astrid, die aufgrund des Verhaltens ihres Sohnes Gordon zum Schuldirektor bestellt wurde. Es gab in Gordons vorheriger Schule die Sache mit dem Messer (welcher Art diese Sache war, wird nicht aufgeklärt). Gleich zu Beginn verblüfft der Erzähler mit dem Wissen, dass Astrid nur eine Brust hat (obwohl es nicht sichtbar ist). Dies hat jedoch ihrer Attraktivität nicht geschadet; der Leser hat den Eindruck, dass der Lehrer noch immer verliebt in Astrid isr. Er bemüht sich um Zugang zu Gordon, vielleicht um mit ihr in Kontakt zu kommen. Vielleicht auch aus anderen Gründen.
Zwischenzeitlich immer wieder Erinnerungen an Astrid und die gemeinsame Schülerzeit im Bibelkreis; er in kurzen Hosen. Diese Erinnerungen verschwimmen mit der Gegenwart, wenn er mit Astrid und Gordon in ihrer Wohnung am Küchentisch sitzt. Dann der Satz, der die ganze Erzählung noch mysteriöser macht: Ich fragte, ob wir beten wollten, ob sie für mich beten wollte. Sie mussten für mich beten, weil ich etwas Schreckliches getan hatte. Auch der abschließende, knappe Dialog mit dem Direktor, der mit ihm am nächsten Tag sprechen möchte, lässt mehr offen, als er klarstellt. Was ist das Schreckliche? Ist es eine Tat aus der Schulzeit oder eher der jüngeren Vergangenheit? Warum bekennt er dem Direktor Ich habe nichts Falsches getan? Und geht es tatsächlich nur um Gordons Kontaktstörungen und woher kommen sie?
Merkwürdig dabei: Diese Form des verrätselten Erzählens kommt weder effekthascherisch noch als Masche daher. Hier soll explizit nicht einfach Neugier erzeugt dann die »Lösung« ausgebreitet werden. Es gibt so wenig eine Linearität wie ein richtig oder falsch. Die Epiphanien der Protagonisten erweisen sich als fragil und werden sogar dekonstruiert. Selbst die Mystik als Ausweg »funktioniert« nicht mehr. Breiteigs Figuren sind vom Leben desillusionierte, deren Gewissheiten immer nur vermeintlich sicher waren. Da sie von dieser Unsicherheit wissen, schwingt in ihnen immer ein Unbehagen an der Welt mit, welches sich auf den Leser überträgt.
Dabei handelt es sich nicht um die kunstvolle Decouvrierung von Lebenslügen, wie man dies vielleicht bei einem Landsmann Ibsens denken könnte. Es geht tiefer, weil der Leser nicht nur bloß Zuschauer oder Zeuge bleibt, sondern irgendwann in das Geschehen hineingezogen wird. Da spielt auch das Alter der Figuren keine Rolle, wie sich in der Geschichte »Jørgen« zeigt, als der Jugendliche Narve bei einer Trauerfeier des Freundes (eben jener Titelfigur – nur dieses eine Mal fällt der Name) seiner ehemaligen Mitschülerin Ylva wieder begegnet, mit ihr und ihrer Freundin Lill-Kathrin nach dem Trauergottesdienst an einen FKK-Badesee fährt und mit schwimmen geht. Es kommt zu kleinen, versteckten Zärtlichkeiten zwischen Narve und Ylva, aber sicher ist nichts, so dass am Ende Ylvas Frage lautet Sind wir jetzt zusammen? Und er antwortete nicht. Er spürte ihre Haut, die ein wenig kühler war als seine. Er war auf dem besten Weg, sich einen Sonnenbrand zu holen. Damit endet diese Geschichte.
Zwar trägt »Von nun an« (der norwegische Titel des Buches »Folk har begynt å banke på« kann ungefähr mit »Die Menschen haben begonnen, anzuklopfen« übersetzt werden) die Gattungsbezeichnung »Erzählungen«, tatsächlich handelt es sich jedoch zumeist um Novellen, vor allem wenn man das Wort »seltsam« berücksichtigt, welches Goethe in seiner Prosaerzählung »Novelle« als zusätzliches Attribut zum »unerhörten Ereignis« nannte. Novellen sind manche Erzählungen tatsächlich sogar im doppelten Sinne: Zunächst wird ein vormaliges »unerhörtes Ereignis« reflektiert bzw. wieder-holt, und dann sogar, wie in der Titelgeschichte oder auch »Jetzt tanzen wir« wird dieses lange Zeit lebens-konstituierende Ereignis abermals durch eine neues, »seltsames« Ereignis abgelöst oder mindestens variiert. Es ist, wie der norwegische Titel nahelegt, der Beginn von etwas Neuem oder, genauer vielleicht, der Beginn eines Beginns.
Kafkas inzwischen inflationär genannter Anspruch an Literatur, die Axt für das gefrorene Meer in uns zu sein, erfüllen Breiteigs Novellen zwar nicht. Dennoch sind sie Nadelstiche, in einigen Fällen auch durchaus scharf wie ein Ice-Pin, mit dem der Barmann Eisstückchen aus einem großen Block heraussticht. Der kuscheligen »Short-Story«-Rubrizierung allzu schreibschulhafter Simulation von Lakonie (die noch nicht einmal »Coolness« ist) widersetzen sich diese Geschichten. Da zeigt sich, dass nicht jede reduktionistisch-sublime Prosa automatisch »lakonisch« ist.
»Von nun an« ist ein Buch, mit dem man, wenn man es verschenkt, Freunde gewinnen kann. Aber man kann auch welche dadurch verlieren. Dann jedoch sollte man sich fragen, ob es wirklich Freunde waren.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Das Buch habe ich mir doch direkt bestellt. – Vor kurzem hatte ich die »Wir fliegen« Erzaehlungen von Peter Stamm in der Hand und die paar, die ich gelesen habe, fand ich sehr gelungen (wahrscheinlich werden diese Kurzerzaehlungen aber nichts gemein haben.. ausser dass sie mir hoffentlich beide gefallen) – Wenn dieses Buch eintrifft und ich doch endlich mal etwas anderes gelesen haben werde als Rechnungen und Philosophen, gebe ich gern meinen Leseeindruck wieder. So lange, schon einmal vielen Dank fuer den Tip! (selektiv neue Rechtschreibung ignoriert – sogar das »Captcha« liefert ein schoenes Wort: Er »labt« sich daran.)
»selektiv neue Rechtschreibung ignoriert«
Ja? Oh. Ich schreibe inzwischen (fast) wie ich will, da ich die ganzen ß, ss und Gross- und Kleinschreibungen nicht mehr lernen will. Das ist einerseits ignorant – andererseits kann man seine Faulheit auch ein bisschen als avantgardistisch ausgeben.
Dieser »Tipp« wollte mir einfach nicht von der Tastatur. Da sträubte sich etwas in mir. Eine Art physische Blockade, als hätten die Typenhebel der Schreibmaschine sich ineinanderverhakt, weil sie in zu schneller Folge bzw. fast gleichzeitig gedrückt worden waren (die Metapher hängt zwar wieder schief, aber dieses Phänomen zu beschreiben und das Wort »Typenhebel« nachzuschauen war’s mir wert) . –
Ihren Widerwillen gegenüber der neuen Schreibung hatten Sie andernorts schon einmal erwähnt (deswegen auch der Seitenkommentar). Diesem Avantgardismus muss man von Zeit zu Zeit einfach frönen,.. man könnte ja auch wie Stefan George alles klein schreiben – doch ist dieser Avantgardismus schon wieder allzu aufgebraucht, vielleicht zurück zu Zeiten Kants oder Kafka und die Fremdwörter‑C’s resubstituieren (Proceß und transcendentale Ideen?)
[Bei mir gibt es aber auch eine gewisse Ignoranz, eher in dem Sinne von Unwissenheit, ja sogar Unsicherheit, besonders was das Auseinander- oder Zusammenschreiben einiger Verben betrifft. Babylonische Rechtschreibverwirrung und das ganz ohne konservatorische Rechtschreibbewahrer a la FAZ?.. die ja doch einknickte, sehr schön hier die Überschrift
– und jetzt endlich mal still...]
Selbst im verlinkten Text schränkt die FAZ ja ein: »...weitgehend...« Ich erinnere mich, dass auch DIE ZEIT mindestens zeitweise eine eigene Rechtschreibung hatte.
Alles kleinschreiben finde ich schlimm. Telegrammprosa (bis auf wenige Ausnahmen, bspw. die »frühe« Jelinek).
Kleinschreibung
finde ich für Prosa auch eher grauslich. (Irgendwo meine ich mal gelesen zu haben, dass das Erkennen von Substantiven sogar dem Sinnerfassen derart hilft, dass man Texte mit herkömmlicher Rechtschreibung schneller lesen kann).. aber z.B. bei Lyrik? Wären Sie auch da so rigoros?
Als Hobby-Typophiler (soll’s man verschweigen, dass Teile der Bibliophilie auch auf Haptik und Optik zielen.. neben dem Inhalt?) denk ich da an ebenjenen George, finde leider aber nur das:
http://www.textkritik.de/technik/stefan_george_schrift.htm
(das »weitgehend« hatte ich mal großzügig überschaut,.. grob würde ich wahrscheinlich auch Richtung Wahrig und FAZ-Schreibung tendieren, zumindest anhand der gegebenen Beispiele..)
Kleinschreibung
Ich dachte eher an Prosa. Kleinschreibung in Lyrik? ich weiss nicht, wozu es dienen sollte...
In der konkreten Poesie z.B., aber auch sonst könnte ich mir vorstellen, das man damit bestimmte »Effekte«, Eindrücke, Assoziationen erzielen kann (konnte).
Ausschließlich klein geschriebene Prosa lese ich sehr ungern.
Natürlich hat das alles seine »Berechtigung«, aber letztlich ist es selten mehr als nur ein (kurzfristiger) Effekt.
Ja, diese äußeren Effekte sollten den (sprachlichen) Inhalt nicht ersetzen.
Eugen Gomringers »Schweigen« –
http://lyrikline.org/index.php?id=162&L=1&author=eg00&show=Poems&poemId=177&cHash=ac87c43e19 – Es kratzt so sehr ich das auch mag, doch (gefühlt) nur an der Oberfläche. In Anschluss ließe sich aber auch die Frage nach der Nachhaltigkeit von Lyrik überhaupt stellen. Wenn man sie als Schnappschüsse (Momentaufnahmen), Stimmungsbilder usw. begreift, dann wäre sie vielleicht eingeschränkt?
Wobei ich schon glaube, dass auch die Lyrik Widerhaken (dauerhafte Wirkung) haben kann. Dieses Wort wollte ich gerade für die Geschichten Breiteig verwenden (ich habe zwar erst die ersten beiden gelesen, aber diese fiese Zweite, hat sich schon in meinem Kopf verhakt).
PS. In der Zeit gab es eine wohl recht positive Besprechung, die dieses Bild auch in den Titel setzte:
http://www.zeit.de/kultur/literatur/2010–06/kurzprosa
Verrätselung
Zwar bin ich immer noch nicht durch, doch wollte ich schon einmal sagen, dass ich Ihrer Rezension im Großen und Ganzen zustimmen kann.
Die Sprache und der Stil sind eisklar wie ein kleiner Gebirgsbach (man darf doch annehmen, dass dies für das Original ebenso gilt), die Schilderungen knapp und präzise.. und doch bleiben auch immer Leerstellen und Irritationen. – Diese Unaufgeklärtheiten haben mich bei »Jetzt tanzen wir« und »Dann werdet ihr verstehen« schon beinahe etwas gestört, weil etwas möglicherweise schon sehr Ekelhaftes, Gewalttätiges angedeutet wird, dann aber in der Schwebe gelassen wird, wieviel davon nun wahr ist.
Bei »Dann werdet ihr verstehen« verwischt der Erzähler die Modalitäten auch ein bisschen, (aber vielleicht auch in Ihrer Rezension?), so würde ich z.B. sagen, dass der Erzähler die Küchenszene sich nur vorstellt oder sogar träumt, während er im Auto vor sich hindämmert. – Die Antwort des Schuldirektors auf das merkwürdige Ich habe nichts Falsches getan, hätten Sie eventuell auch aufnehmen können: »Du warst immer einer unser Besten.« (Hervorhebung von mir) – Wird hier die Entlassung angedeutet? – Uns fehlt ja einfach der Teil der Unterhaltung, nach dem vermutlich durch das Auto des Erzählers klar geworden ist, dass dieser Gordon mitgenommen hat (hat der Lehrer etwas mit Gordon gemacht? – doch dafür gibt es eigentlich keinen Hinweis, nur eine böse, dumpfe Befürchtung?).
(In »Jetzt tanzen wir« hatte ich das Gefühl, dass es sich noch um Jugendliche handelt, obwohl ja auch von der »alten Truppe« die Rede ist, die wieder zusammengerufen wird, also wieder das Motiv der alten Schulfreunde.. also vielleicht haben Sie da recht, wenn Sie dort »Mann« schreiben)
- Gerade hatte ich die Assoziation zu »Blue Velvet«, wo es ja auch die Kleinstadt ist, unter der die Abgründe schlummern. (Nur sind sie hier vielleicht nicht so dämonisiert,.. und es wird erst gar keine Idylle zur Konterkarierung entgegengesetzt..)