Der Wald und die Bäu­me (III)

C+P‑Poetik

Auf der ei­nen Sei­te geht der Sinn für die Dif­fe­ren­zie­rung der Zeit in Ver­gan­gen­heit, Ge­gen­wart und Zu­kunft und da­mit die Fä­hig­keit des Er­zäh­lens ver­lo­ren, wenn sich Er­leb­nis­se und Er­eig­nis­se kei­nem Sinn­ho­ri­zont zu­ord­nen las­sen und das Ge­sche­hen in un­ver­bun­de­ne Ein­zel­tei­le zer­fal­len. Die­se Struk­tur, mehr Cha­os als Ord­nung, eig­net je­den­falls dem vir­tu­el­len Raum, der sei­ner­seits die Le­bens­wirk­lich­keit zu prä­gen be­ginnt. Auf der an­de­ren Sei­te be­schrän­ken sich die po­pu­lä­ren Er­zäh­lun­gen, für die wei­ter­hin ein Be­dürf­nis be­steht und die Nach­fra­ge durch die Kul­tur­in­du­strie hoch­ge­hal­ten wird, auf tra­dier­te kau­sal­chro­no­lo­gi­sche Mu­ster mit dem Ziel der Span­nungs­her­stel­lung. Die­se Spal­tung ist auch in dem längst mi­no­ri­tär ge­wor­de­nen Seg­ment der Li­te­ra­tur fest­zu­stel­len. Der nai­ve und ent­spre­chend schlam­pi­ge Um­gang mit Quel­len ist durch den so­ge­nann­ten Fall He­ge­mann in die Schlag­zei­len ge­kom­men, sei­ne Ver­brei­tung ist aber viel grö­ßer, man fin­det ihn auch bei re­spek­ta­blen Au­toren. Das Ver­fah­ren der Col­la­ge wur­de wie die Plu­ra­li­sie­rung der Iden­ti­tät von den eu­ro­päi­schen Avant­gar­den ent­wickelt. Durch die Ver­füg­bar­keit rie­si­ger Da­ten­men­gen und die Mög­lich­keit, die Da­ten je­der­zeit im Hand­umdrehen zu ver­viel­fäl­ti­gen, ist die­ses Ver­fah­ren zu ei­ner all­täg­li­chen, re­flex­haft prak­tizierten Ge­wohn­heit ge­wor­den. Das C+P‑Verfahren hat et­wa Mi­cha­el Sta­va­rič in sei­nem Ro­man Mag­ma weid­lich ge­nützt. Ein Kri­ti­ker schrieb da­zu: »Der Text hat und er­zeugt kei­nen Sinn für die Tie­fe von Ge­schich­te, er bleibt an der Ober­flä­che (…). Von den an­zi­tier­ten Fak­ten wird bei kei­nem Le­ser ir­gend­was hän­gen blei­ben, man kann sie ge­trost mit dem Zu­klap­pen des Buchs ver­ges­sen.« Im Prin­zip ähn­lich ver­hält es sich mit Fe­li­ci­tas Hop­pes Ro­man Jo­han­na, der die Hi­sto­rie be­müht, um je­de Dif­fe­renz zur Ge­gen­wart so­gleich in den mär­chen­haf­ten Text­raum hin­ein auf­zu­lö­sen: ein Spiel, das die Au­torin mit gro­ßer Ge­wandt­heit durch­führt. Ein Kri­ti­ker be­gann sei­ne Be­spre­chung in der Neu­en Zür­cher Zei­tung fol­gen­der­ma­ßen: »Jo­han­na von Or­leans ist ei­ne hi­sto­ri­sche Fi­gur. Ih­re Da­ten öff­nen sich im In­ter­net; ih­re Aus­sa­gen sind pro­to­kol­liert und im In­ter­net auf­be­rei­tet...« In Hop­pes Ro­man, fährt er fort, »herr­schen die tro­pi­schen Win­de der Gleich­zei­tig­keit.« Der Au­torin, Jahr­gang 1960, ist der Ab­stand zwi­schen der geschicht­lichen Epo­che, der Ge­gen­wart und der zeit­lo­sen Welt, die sie selbst schafft, offensicht­lich be­wußt. Bei Sta­va­rič, Jahr­gang 1979, drän­gen sich dies­be­züg­lich Zwei­fel auf.

© Leo­pold Fe­der­mair

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Er kann es ein­fach nicht

Man nennt es »Mi­ran­da-Ur­teil« oder ein­fach nur »die Rech­te«. In Hun­der­ten von Kri­mis wur­den sie dem schein­bar oder tat­säch­lich über­führ­ten Mör­der vor­ge­le­sen. Sie be­gin­nen mit »Sie ha­ben das Recht zu schwei­gen…«. Das Recht, die Aus­sa­ge zu ver­wei­gern, ist ein es­sen­ti­el­les Recht ei­nes Ver­däch­ti­gen oder An­ge­klag­ten. Mit dem Schwei­gen ver­hin­dert er un­ter an­de­rem, sich in Wi­der­sprü­che zu ver­wickeln, die dann als He­bel der Be­weis­füh­rung ge­gen ihn die­nen könn­ten, was sich im zwei­ten Satz zeigt: »Al­les was Sie sa­gen, kann und wird vor Ge­richt ge­gen Sie ver­wen­det wer­den«. Da das Recht zu schwei­gen auch be­deu­tet, dass man auf Aus­sa­gen zur Ent­la­stung ver­zich­tet, ge­hen Lai­en zu­meist da­von aus, dass Schwei­gen ei­nem Tat-Ein­ge­ständ­nis gleich- oder min­de­stens na­he­kommt.

Auch Chri­sti­an Wulff muss die­ser Mei­nung sein. Nicht, dass er bei sei­nem Pro­zess ge­schwie­gen hat. Aber im Pro­zess ging es nicht um das, was ihn nach wie vor um­treibt: Die Me­di­en­kam­pa­gne ge­gen ihn und ge­gen sei­ne da­ma­li­ge Frau Bet­ti­na. Chri­sti­an Wulff schweigt da­zu nicht. Er schreibt dar­über ein Buch. Da­bei hat er wo­mög­lich den zwei­ten Satz sei­ner Rech­te nicht be­dacht.

Der El­der Sta­tes­man

Wulff ta­stet sich in dem Buch an die Kam­pa­gne um sei­nen Rück­tritt als Bun­des­prä­si­dent her­an. Da­bei wech­selt er stän­dig zwi­schen der Be­trach­tung der di­ver­sen Pha­sen des Skan­da­lons und sei­ner po­li­ti­scher Bio­gra­phie. Bei letz­te­rem ver­fällt er schnell in ei­nen sal­bungs­voll-pa­sto­ra­len El­der-Sta­tes­man-Ton. Po­li­tik ma­che ihm »Freu­de« liest man da und wir er­fah­ren, er füh­re sei­ne Her­de lie­ber von hin­ten (wie er es von Nel­son Man­de­la ge­hört ha­be). »Ich ha­be schon im­mer gern un­ter­schied­li­che Men­schen zu­sam­men­ge­führt und mo­ti­viert« steht da und der Kä­se ist dann end­gül­tig ge­schmol­zen. Von sei­ner Zeit als Mi­ni­ster­prä­si­dent schwelgt Wulff in den höch­sten Tö­nen. Selbst­lob ist durch­aus sei­ne Sa­che. Dass aus der ge­plan­ten feind­li­chen Über­nah­me von VW durch Por­sche der Volks­wa­gen-Kon­zern ge­stärkt her­aus­ging, bucht er groß­zü­gig auf sei­ne Sei­te. Bemerkens­wert sein Po­li­tik­ver­ständ­nis die­ses Am­tes. Als de­mo­kra­tisch ge­wähl­ter Po­li­ti­ker sieht er es als sei­ne Auf­ga­be an, Un­ter­neh­men »Hil­fe auf dem Weg zu neu­en Absatz­märkten« zu lei­sten. Viel­leicht kann mir je­mand die­se Stel­le in der nie­der­säch­si­schen Ver­fas­sung ein­mal zei­gen? Ich ha­be nur §37 Ab­satz 1 ge­fun­den und dort steht un­ter an­de­rem: »Die Mi­ni­ster­prä­si­den­tin oder der Mi­ni­ster­prä­si­dent be­stimmt die Richt­li­ni­en der Po­li­tik und trägt da­für die Ver­ant­wor­tung.«. So­gar der Bun­des­prä­si­dent ist für Wulff ne­ben sei­nen re­prä­sen­ta­ti­ven und pro­to­kol­la­ri­schen Pflich­ten haupt­säch­lich da­zu da, »den Zusammen­halt und die Wett­be­werbs­fä­hig­keit un­se­rer Ge­sell­schaft« zu för­dern. So­mit hat­te die Bull­shit-Phra­se »Wett­be­werbs­fä­hig­keit« mit Wulff Ein­zug ins Bel­le­vue und in das Amt des Bun­des­prä­si­den­ten ge­hal­ten. Wei­ter­le­sen

»Fragment/e über ei­ni­ge po­pu­lä­re Songs« (3)

(Nicht) in Stein ge­hau­en

Und die Mu­sik? Das ist die, die wir auch sonst aus un­se­ren Nacht­fahr­ten hö­ren: 60er. Kei­ne Far­ben mehr, ich will, dass sie al­le zu schwarz wer­den. Als hät­ten wir, auch mu­si­ka­lisch Hei­mat­lo­se, da noch ir­gend­wel­che An­schlüs­se zu schaf­fen. (Da­bei san­gen wir längst laut­hals mit. Es war das ein biss­chen wie mit dem eher we­nig ge­schätz­ten, aber dir ein­zig ver­trau­ten Song in der Juke­box, und wenn ihn dann ei­ner drückt, kannst du sei­ne Ein­gän­gig­keit nicht ver­wei­gern.)

Weit­hin ra­gen­de Turm­auf­bau­ten über der Land­schaft, schwarz. Schwarz ver­wu­cher­te Ve­ge­ta­ti­on der Gleis­an­schlüs­se. Auf den Roll­stahl­tü­ren der Fa­bri­ken ein schwar­zer Auf­trag, der so­gar die Graf­fi­tis ver­schluckt. Noch das Quarz­glas der Ober­lich­ter in den Ma­schi­nen­hal­len war schwarz an­ge­lau­fen ge­we­sen, und je­der ver­irrt in die Au­gen tref­fen­de Licht­strahl wie ein Trä­ger der Idee, er müss­te aus jung­fräu­li­che­ren Wel­ten sein. Mit schwar­zen Fin­ger­rän­dern.

Klar, dass ei­nem auch die Gif­te, dau­ernd ein­ge­speist, zu ho­möo­pa­thi­schen Le­bens­stof­fen wer­den, nach de­nen es ei­nen ver­lan­gen muss, wer­den sie ei­nem dann ent­zo­gen. Und dass ei­ner je­der sei­nem Ver­fall auch sei­ne ei­ge­ne Poe­sie ab­ge­win­nen muss. Ra­di­um ge­win­nen. Bil­der ka­men mir von öl-schlicki­gen Herz­kam­mern mit vor Drang schwarz quel­len­dem Blut, von un­term ko­chend­hei­ßen Was­ser­strahl damp­fen­den Män­nern, die wie­der zu wei­ßen wer­den, wal­speckig wie Mana­tis, ei­ne See­kuh­art. Und zum Schicht­wech­sel ein Glei­ßen wie auf Schwarz­te­er­schin­deln an ei­nem Frost­mor­gen, wie der Glanz auf den Schu­hen, die Ma­ja­kow­ski auf der Rodt­schen­ko-Se­rie von ’24 trägt. – Aber auch das wohl schon zu pre-post re­tro-avant. Ge­sang von der Stra­ße, und dann flo­gen schon Stei­ne in un­se­re Fen­ster ... Wei­ter­le­sen

Frank Schirr­ma­cher

Ge­stern ist Frank Schirr­ma­cher ge­stor­ben, was mich sehr be­wegt hat. Die Art und Wei­se sei­nes To­des, die Un­ver­hoff­t­heit, die­ses Aus-dem-Le­ben-ge­ris­sen-wer­den schockiert, weil es das ist, was man sich mit 54 Jah­ren nicht wünscht, höch­stens dann ir­gend­wann mit 80. Ich kann­te Schirr­ma­cher nicht per­sön­lich, las sei­ne Ar­ti­kel und Bü­cher, sah ihn gelegent­lich im Fern­se­hen und war er­staunt über sei­ne Rast­lo­sig­keit und Um­trie­big­keit. Bü­cher schrei­ben sich nicht mal eben so. Er war der Kas­san­dra­ru­fer was das In­ter­net an­geht und über­zog »sein« Feuil­le­ton in den letz­ten Mo­na­ten mit ei­ner heid­eg­ger­schen Tech­nik­kri­tik ge­gen die Vor­macht­stel­lung der gro­ßen Play­er des Net­zes. Gleich­zei­tig twit­ter­te er und in sei­nem letz­ten Buch »Ego – Das Spiel des Le­bens« stell­te ich er­staun­li­cher­wei­se fest, dass er fast 90% sei­ner zi­tier­ten Quel­len über den Kind­le be­zo­gen hat­te.

Schirr­ma­chers Art Dis­kus­sio­nen ein­zu­brin­gen war fast von An­fang an be­glei­tet durch die ent­spre­chen­de me­dia­le Auf­merk­sam­keit. Wenn es al­so heisst, dass er wie kein an­de­rer De­bat­ten an­ge­sto­ssen ha­be, so hat das auch da­mit zu tun, dass kein an­de­rer Feuilleton­journalist ein der­ar­ti­ges Fo­rum im Main­stream­fern­se­hen und –rund­funk be­kam wie Schirr­ma­cher. Die wirk­li­chen Dis­kur­se, das Pro und Con­tra, fan­den dann in den Feuil­le­tons der Zei­tun­gen statt und wie üb­lich un­ter weit­ge­hen­dem Aus­schluß der von ihm bei »Beck­mann« an­ge­reg­ten und er­reg­ten Ge­sell­schaft. Im­mer­hin: Be­rüh­rungs­äng­ste hat­te Schirr­ma­cher nicht; der El­fen­bein­turm war nicht sei­ne Be­hau­sung. Sei­ne Art zu­zu­spit­zen war den­noch nie tri­vi­al oder platt.

Schirr­ma­cher war ein Ver­fech­ter der Wer­te der al­ten Bon­ner Bun­des­re­pu­blik, der in den tech­ni­schen und öko­no­mi­schen Re­vo­lu­tio­nen, die En­de des 20. Jahr­hun­derts mit der Glo­ba­li­sie­rung über die­ses so wun­der­bar pro­vin­zi­el­le Land ein­ge­fal­len wa­ren, nicht nur furcht­bar ha­der­te, son­dern zu­wei­len fast lust­voll in Ver­schwö­rungs­theo­rien schwelg­te, in dem er die Ver­strickung des post­mo­der­nen Men­schen in der von Al­go­rith­men be­stimm­ten Welt als un­ab­än­der­li­ches Fa­tum von fast tra­gö­di­en­haf­tem Aus­mass sah. Es ist un­end­lich scha­de, dass die­se The­se mit ihm nicht mehr dis­ku­tiert wer­den kann.

Das Feuil­le­ton be­klagt zu Recht den Tod Schirr­ma­chers, der in die­ser Ge­sell­schaft von zu­meist mit­tel­mä­ssi­gen Fi­gu­ren erst recht als ein Leucht­turm her­aus­rag­te. Die idea­li­sier­ten Ver­klä­run­gen und zu­wei­len auch lä­cher­li­chen Ana­lo­gien (et­wa, ihn mit Ernst Jün­ger zu ver­glei­chen), wer­den hof­fent­lich bald auf­hö­ren. Da der Deut­sche sei­nen früh ver­stor­be­nen In­tel­lek­tu­el­len be­son­ders schätzt, ja liebt, wer­den sei­ne The­sen, sei­ne Bü­cher auch wei­ter­hin de­bat­tiert wer­den. Und das ist gut so.

Der Wald und die Bäu­me (II)

Strö­me von Schei­ße

Ein Bei­spiel für die um sich grei­fen­de Ver­blö­dung durch Such­ma­schi­nen sind die Pä­do­­phi­lie-Vor­wür­fe, die ge­gen Da­ni­el Cohn-Ben­dit um 2012/13 mas­siv er­ho­ben wur­den. Mas­siv, das heißt im di­gi­ta­len Zeit­al­ter: durch das In­ter­net in Win­des­ei­le un­kon­trol­lier­bar ver­viel­facht, ver­mil­lio­nen­facht. Man mag zu der hi­sto­ri­schen Fi­gur Cohn-Ben­dit ste­hen, wie man will; be­strei­ten wird man nicht kön­nen, daß er ein klu­ger Kopf mit ei­ner hoch­interessanten Le­bens­ge­schich­te ist, der durch sei­ne öf­fent­li­chen, oft un­kon­ven­tio­nel­len Stel­lung­nah­men zum Den­ken an­regt. Das Den­ken ist als ge­sell­schaft­li­ches Phä­no­men frei­lich ins Hin­ter­tref­fen ge­ra­ten, wäh­rend der heu­te ver­brei­te­te Po­li­ti­ker­ty­pus rhe­to­ri­sche Flos­keln ab­son­dert, die nichts zu den­ken ge­ben, son­dern Rei­ze be­die­nen. Noch im Jahr 2014, als Cohn-Ben­dit ei­ner öster­rei­chi­schen Ta­ges­zei­tung in­ter­viewt wur­de, äu­ßert sich die »Com­mu­ni­ty« der »Po­ster« zum al­ler­größ­ten Teil nach dem Reiz-Re­ak­ti­ons­sche­ma, das durch Goog­le vor­ge­ge­ben ist: Cohn-Ben­dit ist am mei­sten – am mas­siv­sten – mit dem Be­griff Kin­der­schän­der (vul­go »Pä­do­phi­ler«) ver­knüpft, und nach sol­chen Ver­knüp­fun­gen funk­tio­nie­ren mitt­ler­wei­le die Ge­hir­ne. Im er­wähn­ten In­ter­view blickt der sieb­zig­jäh­ri­ge Cohn-Ben­dit auf sein Le­ben, das Le­ben sei­ner Fa­mi­lie und die Ent­wick­lun­gen der ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­te zu­rück. Die Kom­men­ta­re der mei­sten »Nut­zer« (vul­go »User«) zei­gen ein völ­li­ges Des­in­ter­es­se an die­sen In­hal­ten; ver­mut­lich wer­den län­ge­re Ar­ti­kel der In­ter­net­aus­ga­be der Zei­tung nur über­flo­gen oder auf Reiz­wörter ab­ge­ta­stet, viel­leicht mit­hil­fe ei­ner Such­ma­schi­ne. Die Wir­kung der allgegen­wärtigen Such­ma­schi­nen geht da­hin, daß de­ren Nut­zer sich kei­ner­lei Sor­gen um den Wahr­heits­ge­halt von Da­ten, die Be­rech­ti­gung von Vor­wür­fen, die Trif­tig­keit von Ur­tei­len mehr ma­chen. Was auf die­se Wei­se ver­lo­ren­geht, ist der Sinn für die An­nä­he­rung an Wahr­heit, für die Kom­ple­xi­tät von Er­kennt­nis­pro­zes­sen, ist die ge­bo­te­ne Vor­sicht beim Ur­tei­len. Un­ter sol­chen Vor­aus­set­zun­gen ist es kein Wun­der, daß im In­ter­net, und das heißt: in den Köp­fen der Men­schen, Pa­ra­noia und Verschwörungs­theorien so stark wu­chern wie noch nie. Die­sen ex­trem ver­kür­zen­den Er­klä­rungs­mo­del­len (die den Na­men »Er­klä­rung« nicht mehr ver­die­nen) ent­spricht als Em­pö­rungs­re­ak­ti­on das, was seit ei­ni­gen Jah­ren als shits­torm be­zeich­net wird. Dort, wo man frü­her »Kri­tik« ge­übt hät­te, gießt man Jau­che über die Ge­gen­stän­de der Ab­nei­gung. Es liegt auf der Hand, daß sol­che Ver­hältnisse das Hoch­kom­men von au­to­ri­tä­ren Po­li­ti­kern so­wie von Po­pu­li­sten jeg­li­cher Cou­leur be­gün­stigt; Per­so­nen, die ab­wä­gen, Ge­dan­ken­gän­ge er­läu­tern, Auf­fas­sun­gen von Geg­nern mit­be­den­ken und ei­ge­ne Irr­tü­mer ein­ge­ste­hen, ha­ben da­ge­gen we­nig Chan­cen. Auf deutsch klingt der Be­fund im­mer noch deut­li­cher als im Glo­ba­li­sie­rungs­eng­lisch: an der Stel­le von Dis­kur­sen und Dia­lo­gen fließt ver­ba­le Schei­ße. Es wä­re ge­nau­er, von »Strö­men« zu re­den, nicht von luf­ti­gen Stür­men. Scheiß­flüs­se ha­ben die Ten­denz, sich in Main­streams zu ver­wan­deln. Auch dies ein Me­cha­nis­mus des In­ter­nets, sei­ner Such‑, Ver­knüp­fungs- und As­so­zi­ie­rungs­ma­schi­nen. Wei­ter­le­sen

Mar­tin Ge­ss­mann: Mit Nietz­sche im Sta­di­on

An­mer­kung zur Le­se­run­de:

Der Text zu Ge­ss­mann ist viel­leicht et­was lang ge­wor­den. Un­ge­dul­di­gen sei ge­sagt, dass der Pro­log »Fuß­ball und Po­li­tik« nicht zwin­gend für das Ver­ständ­nis der Äu­ße­run­gen zum Ge­ss­mann-Buch ist. Es ist viel­leicht auch ein biss­chen un­fair, noch ein zwei­tes Buch ins Spiel zu brin­gen, aber ich konn­te nicht wi­der­ste­hen. Wer möch­te, kann den Pro­log über­sprin­gen und so­fort auf Auf­tritt der Phi­lo­so­phen klicken.

Pro­log: Fuß­ball und Po­li­tik (Nor­bert Seitz)

Als bei der Fuß­ball-WM 1998 Gast­ge­ber Frank­reich Welt­mei­ster wur­de, in­iti­ier­te Da­ni­el Cohn-Ben­dit, da­mals Mo­de­ra­tor der Schwei­zer Li­te­ra­tur­sen­dung »Li­te­ra­tur­club«, ei­ne »Spe­zi­al­sen­dung«, die dann tat­säch­lich ei­nen Tag nach dem End­spiel aus­ge­strahlt wur­de. Am Ort, an dem nor­ma­ler­wei­se über li­te­ra­ri­sche Neu­erschei­nun­gen dis­ku­tiert wur­de, lud der sicht- wie hör­bar auf­ge­wühl­te Mo­de­ra­tor vier Gä­ste ein, um über Par­al­le­len zwi­schen Fuß­ball und Po­li­tik und den viel­leicht hier­aus re­sul­tie­ren­den Kon­se­quen­zen zu disku­tieren.1 Cohn-Ben­dit führ­te die Run­de ziel­ge­rich­tet in ei­ne Dis­kus­si­on um ein Buch von Nor­bert Seitz mit dem Ti­tel »Dop­pel­päs­se«. Seitz’ Buch wur­de sei­ner­zeit stark re­zi­piert Der Ti­tel ist dop­pel­deu­tig. Zum ei­nen geht um den Dop­pel­pass zwi­schen Fuß­ball und Po­li­tik (das, was man hoch­tra­bend In­ter­de­pen­den­zen nen­nen könn­te), zum an­de­ren wird auf die Mög­lich­keit der dop­pel­ten Staats­bür­ger­schaft an­ge­spielt, die En­de der 1990er Jah­ren in Deutsch­land für gro­ße Dis­kus­sio­nen sorg­te. Ver­kürzt lau­tet die The­se des Bu­ches, dass sich der Zu­stand und die po­li­ti­sche La­ge ei­ner Ge­sell­schaft (vul­go: Na­ti­on) in de­ren Fuß­ball­spiel spie­gelt (und um­ge­kehrt!). Wei­ter­le­sen


  1. Zu Gast waren die Historikerin Christiane Eisenberg, der Theaterregisseur und –intendant Stephan Müller, Johnny Klinke, der als "Lebenskünstler" vorgestellt wurde (er betreibt ein Varieté-Theater in Frankfurt, der Heimatstadt Cohn-Bendits) und der Schriftsteller Thomas Hürlimann

Der Wald und die Bäu­me (I)

Se­cond li­ves

Im Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten pri­vi­le­giert Mu­sil das, was er »Mög­lich­keits­sinn« nennt, ge­gen­über dem Wirk­lich­keits­sinn. Er tut es häu­fi­ger am Be­ginn des Ro­mans als in spä­te­ren Pas­sa­gen; die Pro­ble­ma­tik tritt mit dem sta­gnie­ren­den Fort­schritt der Be­ge­ben­hei­ten in den Hin­ter­grund. Mu­sil schrieb in ei­ner Zeit, da die Aus­rich­tung auf die Wirk­lich­keit und die Be­dacht­nah­me auf die Wir­kung des ei­ge­nen Han­delns noch selbst­ver­ständ­lich, viel­leicht all­zu selbst­ver­ständ­lich wa­ren. Im drit­ten Ka­pi­tel de­fi­niert die Er­zähl­in­stanz des Ro­mans die mit Mög­lich­kei­ten spie­len­den (oder ar­bei­ten­den) Ideen als »noch nicht ge­bo­re­ne Wirk­lich­kei­ten«, er geht al­so da­von aus, daß das Mög­li­che frü­her oder spä­ter ver­wirk­licht wer­de. Ul­rich, die Zen­tral­fi­gur des Ro­mans, bleibt zwar lang­fri­stig bei sei­ner Nei­gung, Hy­po­the­sen auf­zu­stel­len und de­ren Im­pli­ka­tio­nen zu durch­den­ken, ver­liert aber mehr und mehr das von An­fang an kärg­li­che In­ter­es­se, aus dem, was er denkt, auch »et­was zu ma­chen«. Er ver­läuft sich ge­wis­ser­ma­ßen in sei­ner plu­ra­len Welt der Möglich­keiten und ver­liert die Lust, sich um Ver­wirk­li­chun­gen zu be­mü­hen (was als Se­kre­tär der Par­al­lel­ak­ti­on ei­gent­lich sei­ne Auf­ga­be wä­re). Wei­ter­le­sen

Es ist ein Jam­mer

Al­so jetzt noch ei­ne Be­spre­chung von Akif Pi­rin­çcis »Deutsch­land von Sin­nen«? Noch ein Text, der die Men­schen­ver­ach­tung die­ses Bu­ches her­vor­hebt, die scheuß­li­che Spra­che gei­ßelt? Die­se tat­säch­lich fürch­ter­li­chen fast 230 Sei­ten, auf de­nen Pi­rin­çci auf die »links­versiffte Pres­se« schimpft, die »Fi­gu­ren aus dem Ku­rio­si­tä­ten­ka­bi­nett« (Po­li­ti­ker), »Mul­ti­kul­ti-En­gel aus dem Rot­wein­gür­tel« (die »Kindersex«-Grünen, die­ser »kom­plett über­flüs­si­ge Ver­ein«), die »so­zi­al­päd­ago­gi­sche Witz­ju­stiz« (spä­ter leicht va­ri­iert zur »deutsche[n] Au­gen­zu­drück-Ju­stiz«) und das EU-»Gesindel«. Die­ser Rausch des Au­tors, wenn es um den Is­lam geht (»ge­walt­a­ffi­ne und lei­stungs­feind­li­che Ideo­lo­gie«, die seit Jahr­hun­der­ten kei­ne Er­fin­dung mehr zu­stan­de ge­bracht ha­be [En­zens­ber­ger lässt grü­ßen] und Deutsch­land un­wei­ger­lich in ein schreck­li­ches »Eu­ra­bia« stür­zen wird), die »Geistes­krankheit na­mens Gen­der Main­stream« (nebst »Kampf­les­ben«) und die »Ver­got­tung« der Ho­mo­se­xua­li­tät. Al­so noch ein lang­wei­lig-selbst­ge­rech­ter Ge­gen­text, der sich am En­de in der Ge­wiss­heit suhlt, ir­gend­wie doch auf der rich­ti­gen (vul­go: der an­de­ren) Sei­te zu ste­hen und den Au­tor à la »heu­te show« mit ähn­li­chem Duk­tus zer­rupft wie er dies mit der von ihm so ver­hass­ten Ge­sell­schaft, dem jour­na­li­sti­sche Estab­lish­ment, prak­ti­ziert?

Und wenn man dies ver­mei­den möch­te – was dann? Ist Pi­rin­çci ein Wie­der­keh­rer des ta­xi­fah­ren­den Tre­vis Bick­le, der sich aus lau­ter Ekel vor dem »Ab­schaum«, der ihm be­geg­net in Selbst­ju­stiz flüch­tet und da­für ur­plötz­lich in der Öf­fent­lich­keit als Held ver­ehrt wird? Oder nur ein rhe­to­ri­scher Amok­läu­fer, ein Al­fred Tetzlaff rel­oa­ded, je­ner »Ekel Al­fred« ge­nann­ten Fi­gur aus der An­ti-Fa­mi­li­en­se­rie der 1970er Jah­re »Ein Herz und ei­ne See­le«, die in­zwi­schen ei­nen Kult­sta­tus er­reicht hat? Wolf­gang Men­ge, der die Idee zu die­ser Se­rie aus Groß­bri­tan­ni­en über­nom­men und auf deut­sche Ver­hält­nis­se an­ge­passt hat­te, in­sze­nier­te die Fol­gen wie ein Kam­mer­spiel auf der Büh­ne vor Pu­bli­kum. Tetzlaff wur­de zur ex­em­pla­ri­schen Spie­ßer-Fi­gur, der schon op­tisch ein­stimm­te: klein, fast im­mer mit Pan­tof­feln, meist lie­der­lich im Un­ter­hemd her­um­sit­zend, vor al­lem je­doch mit sei­nem spe­zi­el­len Ober­lip­pen­bart und der Fri­sur durch­aus (und ge­wollt) von Fer­ne an Adolf Hit­ler er­in­nernd. Die Ge­sin­nung Al­freds war schon auf den er­sten Blick klar. Wei­ter­le­sen