Der Wald und die Bäu­me (III)

C+P‑Poetik

Auf der ei­nen Sei­te geht der Sinn für die Dif­fe­ren­zie­rung der Zeit in Ver­gan­gen­heit, Ge­gen­wart und Zu­kunft und da­mit die Fä­hig­keit des Er­zäh­lens ver­lo­ren, wenn sich Er­leb­nis­se und Er­eig­nis­se kei­nem Sinn­ho­ri­zont zu­ord­nen las­sen und das Ge­sche­hen in un­ver­bun­de­ne Ein­zel­tei­le zer­fal­len. Die­se Struk­tur, mehr Cha­os als Ord­nung, eig­net je­den­falls dem vir­tu­el­len Raum, der sei­ner­seits die Le­bens­wirk­lich­keit zu prä­gen be­ginnt. Auf der an­de­ren Sei­te be­schrän­ken sich die po­pu­lä­ren Er­zäh­lun­gen, für die wei­ter­hin ein Be­dürf­nis be­steht und die Nach­fra­ge durch die Kul­tur­in­du­strie hoch­ge­hal­ten wird, auf tra­dier­te kau­sal­chro­no­lo­gi­sche Mu­ster mit dem Ziel der Span­nungs­her­stel­lung. Die­se Spal­tung ist auch in dem längst mi­no­ri­tär ge­wor­de­nen Seg­ment der Li­te­ra­tur fest­zu­stel­len. Der nai­ve und ent­spre­chend schlam­pi­ge Um­gang mit Quel­len ist durch den so­ge­nann­ten Fall He­ge­mann in die Schlag­zei­len ge­kom­men, sei­ne Ver­brei­tung ist aber viel grö­ßer, man fin­det ihn auch bei re­spek­ta­blen Au­toren. Das Ver­fah­ren der Col­la­ge wur­de wie die Plu­ra­li­sie­rung der Iden­ti­tät von den eu­ro­päi­schen Avant­gar­den ent­wickelt. Durch die Ver­füg­bar­keit rie­si­ger Da­ten­men­gen und die Mög­lich­keit, die Da­ten je­der­zeit im Hand­umdrehen zu ver­viel­fäl­ti­gen, ist die­ses Ver­fah­ren zu ei­ner all­täg­li­chen, re­flex­haft prak­tizierten Ge­wohn­heit ge­wor­den. Das C+P‑Verfahren hat et­wa Mi­cha­el Sta­va­rič in sei­nem Ro­man Mag­ma weid­lich ge­nützt. Ein Kri­ti­ker schrieb da­zu: »Der Text hat und er­zeugt kei­nen Sinn für die Tie­fe von Ge­schich­te, er bleibt an der Ober­flä­che (…). Von den an­zi­tier­ten Fak­ten wird bei kei­nem Le­ser ir­gend­was hän­gen blei­ben, man kann sie ge­trost mit dem Zu­klap­pen des Buchs ver­ges­sen.« Im Prin­zip ähn­lich ver­hält es sich mit Fe­li­ci­tas Hop­pes Ro­man Jo­han­na, der die Hi­sto­rie be­müht, um je­de Dif­fe­renz zur Ge­gen­wart so­gleich in den mär­chen­haf­ten Text­raum hin­ein auf­zu­lö­sen: ein Spiel, das die Au­torin mit gro­ßer Ge­wandt­heit durch­führt. Ein Kri­ti­ker be­gann sei­ne Be­spre­chung in der Neu­en Zür­cher Zei­tung fol­gen­der­ma­ßen: »Jo­han­na von Or­leans ist ei­ne hi­sto­ri­sche Fi­gur. Ih­re Da­ten öff­nen sich im In­ter­net; ih­re Aus­sa­gen sind pro­to­kol­liert und im In­ter­net auf­be­rei­tet...« In Hop­pes Ro­man, fährt er fort, »herr­schen die tro­pi­schen Win­de der Gleich­zei­tig­keit.« Der Au­torin, Jahr­gang 1960, ist der Ab­stand zwi­schen der geschicht­lichen Epo­che, der Ge­gen­wart und der zeit­lo­sen Welt, die sie selbst schafft, offensicht­lich be­wußt. Bei Sta­va­rič, Jahr­gang 1979, drän­gen sich dies­be­züg­lich Zwei­fel auf.

© Leo­pold Fe­der­mair

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