C+P‑Poetik
Auf der einen Seite geht der Sinn für die Differenzierung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und damit die Fähigkeit des Erzählens verloren, wenn sich Erlebnisse und Ereignisse keinem Sinnhorizont zuordnen lassen und das Geschehen in unverbundene Einzelteile zerfallen. Diese Struktur, mehr Chaos als Ordnung, eignet jedenfalls dem virtuellen Raum, der seinerseits die Lebenswirklichkeit zu prägen beginnt. Auf der anderen Seite beschränken sich die populären Erzählungen, für die weiterhin ein Bedürfnis besteht und die Nachfrage durch die Kulturindustrie hochgehalten wird, auf tradierte kausalchronologische Muster mit dem Ziel der Spannungsherstellung. Diese Spaltung ist auch in dem längst minoritär gewordenen Segment der Literatur festzustellen. Der naive und entsprechend schlampige Umgang mit Quellen ist durch den sogenannten Fall Hegemann in die Schlagzeilen gekommen, seine Verbreitung ist aber viel größer, man findet ihn auch bei respektablen Autoren. Das Verfahren der Collage wurde wie die Pluralisierung der Identität von den europäischen Avantgarden entwickelt. Durch die Verfügbarkeit riesiger Datenmengen und die Möglichkeit, die Daten jederzeit im Handumdrehen zu vervielfältigen, ist dieses Verfahren zu einer alltäglichen, reflexhaft praktizierten Gewohnheit geworden. Das C+P‑Verfahren hat etwa Michael Stavarič in seinem Roman Magma weidlich genützt. Ein Kritiker schrieb dazu: »Der Text hat und erzeugt keinen Sinn für die Tiefe von Geschichte, er bleibt an der Oberfläche (…). Von den anzitierten Fakten wird bei keinem Leser irgendwas hängen bleiben, man kann sie getrost mit dem Zuklappen des Buchs vergessen.« Im Prinzip ähnlich verhält es sich mit Felicitas Hoppes Roman Johanna, der die Historie bemüht, um jede Differenz zur Gegenwart sogleich in den märchenhaften Textraum hinein aufzulösen: ein Spiel, das die Autorin mit großer Gewandtheit durchführt. Ein Kritiker begann seine Besprechung in der Neuen Zürcher Zeitung folgendermaßen: »Johanna von Orleans ist eine historische Figur. Ihre Daten öffnen sich im Internet; ihre Aussagen sind protokolliert und im Internet aufbereitet...« In Hoppes Roman, fährt er fort, »herrschen die tropischen Winde der Gleichzeitigkeit.« Der Autorin, Jahrgang 1960, ist der Abstand zwischen der geschichtlichen Epoche, der Gegenwart und der zeitlosen Welt, die sie selbst schafft, offensichtlich bewußt. Bei Stavarič, Jahrgang 1979, drängen sich diesbezüglich Zweifel auf.
© Leopold Federmair