Ro­land Schim­mel­p­fen­nig: An ei­nem kla­ren, eis­kal­ten Ja­nu­ar­mor­gen zu Be­ginn des 21. Jahr­hun­derts

Roland Schimmelpfennig: An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Ro­land Schim­mel­p­fen­nig:
An ei­nem kla­ren, eis­kal­ten Ja­nu­ar­mor­gen zu Be­ginn des 21. Jahr­hun­derts

Ein Wolf über­schrei­tet ei­nen ge­fro­re­nen Fluss. Drei Wo­chen spä­ter: To­masz fährt nach Ber­lin zu sei­ner Freun­din Agnieszka. Bei­de kom­men aus Po­len; er ar­bei­tet auf dem Bau, sie hat meh­re­re Jobs, als Putz­frau und Kin­der­mäd­chen, sechs Ta­ge in der Wo­che. Es schneit und es ist kalt und To­masz steht in ei­nem Stau, der meh­re­re Stun­den dau­ern soll. Er steigt aus und da sieht er den Wolf, macht ein Fo­to und das wird bald ganz Ber­lin elek­trisieren. Fast gleich­zei­tig ver­schwin­det ein Mäd­chen, das von sei­ner Mut­ter zu­wei­len ge­schla­gen wird. Sie ist abge­hauen mit dem Nach­bars­jun­gen. Der Bus­fah­rer be­merkt das Feh­len. Wäh­rend­des­sen ge­hen Mäd­chen und Jun­ge durch den Wald, fin­den ei­nen to­ten Jä­ger mit Ge­wehr. Der Va­ter des Jun­gen ist Al­ko­ho­li­ker, hat kürz­lich ei­nen Sui­zid ver­sucht und ist in der Psych­ia­trie. Die El­tern des Mäd­chens sind ge­schie­den; bei­de wa­ren oder sind Künst­ler (ge­we­sen). In wei­te­ren Rol­len: Char­ly und Jacky, ein Ehe­paar, das in Prenz­lau­er Berg ei­nen Ki­osk be­treibt und Dia­lo­ge führt wie in ei­ner RT­LII-Soap, ein Ex-Leh­rer, ei­ne Prak­ti­kan­tin, die über den Wolf für ei­ne Zei­tung et­was schrei­ben soll, ein Chi­le­ne, der Ru­mä­ne ist, ei­ne Frau, die ih­re so­eben ver­stor­be­ne Mut­ter noch ein­mal has­sen darf und da­her de­ren Ta­ge­bü­cher ver­brennt und ein al­tes Ehe­paar.

Es geht um all die­se Fi­gu­ren (und noch ein paar mehr) in Ro­land Schim­mel­p­fen­nigs »An ei­nem kla­ren, eis­kal­ten Ja­nu­ar­mor­gen zu Be­ginn des 21. Jahr­hun­derts«. Sie wer­den in ins­ge­samt 103, meist kur­zen sze­ni­schen Ein­spie­lern, ein paar Ta­ge im Fe­bru­ar 2003 in und um Ber­lin aus wech­seln­der Per­spek­ti­ve be­glei­tet. Kern des Bu­ches ist die Aus­reißergeschichte zwei­er Ju­gend­li­cher – des »Mäd­chens« und des »Jun­gen«. So wie die­se bei­den blei­ben vie­le an­de­re Fi­gu­ren in die­sem Buch na­men­los und wenn die Na­men dann doch – mehr oder we­ni­ger zu­fäl­lig – fal­len, wer­den sie nicht ver­wen­det. Da muss der Le­ser zwi­schen dem »Va­ter des Jun­gen«, »Va­ter des Mäd­chens«, »Mut­ter des Jun­gen« und »Mut­ter des Mäd­chens« un­ter­schei­den. Spä­ter kom­men un­ter an­de­ren noch ein Bru­der des Va­ters des Jun­gen und ei­ne Freun­din der Mut­ter des Mäd­chens hin­zu. Das klingt ver­wir­ren­der als es ist. Im Lau­fe des Bu­ches ent­steht dann ei­ne Rei­gen-Struk­tur. Es kommt zu kur­zen oder, sel­te­ner, län­ge­ren Be­geg­nun­gen der Fi­gu­ren mit­ein­an­der. Fast je­der be­kommt es ein­mal mit je­dem zu tun (so­gar das Ge­wehr macht die Run­de) und man könn­te si­cher­lich schö­ne Gra­phi­ken er­stel­len, wer wem wann be­geg­net – wenn es nicht so egal wä­re. Wei­ter­le­sen

Le­se­run­de trotz Fuß­ball-EM?

Vor zwei Jah­ren hat­te ich ver­sucht ei­ne Le­se­run­de zu eta­blie­ren. Ge­gen­stand war ein Fuß­ball-Buch, denn schließ­lich stand die Welt­mei­ster­schaft an. Die Re­so­nanz fand ich vor al­lem qua­li­ta­tiv nicht so schlecht. Das Buch stell­te sich als zwie­späl­tig her­aus, was ich vor­her nicht wuss­te.

Jan-Werner Müller: Was ist Populismus?

Jan-Wer­ner Mül­ler: Was ist Po­pu­lis­mus?

Ich möch­te jetzt wie­der zur ei­ner Le­se­run­de auf­ru­fen. Dies­mal hat es al­ler­dings nichts mit Fuß­ball zu tun. Es soll eher ein klei­nes Ge­gen­ge­wicht bil­den. Auf­grund der in den näch­sten Mo­na­ten sich be­stimmt noch zu­spit­zen­den po­li­ti­schen Si­tua­ti­on ha­be ich ein in­ter­es­san­tes, zur kon­tro­ver­sen Dis­kus­si­on ein­la­den­des Buch ent­deckt. Es ist von Jan-Wer­ner Mül­ler und heißt »Was ist Po­pu­lis­mus?«. Er­schie­nen ist es im Suhr­kamp-Ver­lag. Und hier gibt es ei­ne Le­se­pro­be.

Die er­sten 40 (von rd. 160 Sei­ten) sind viel­versprechend. Auch wenn ich mit ei­ni­gen Schluss­fol­ge­run­gen (noch?) nicht kon­form ge­he, ist es ein sehr an­re­gen­des Buch, so man­che Stan­dard­mei­nung er­schüt­tern­des Buch.

Mein Vor­schlag: Ich be­spre­che das Buch am 06. Ju­ni 08. Ju­ni in die­sem Blog. Von da an kön­nen dann die Kom­men­ta­re be­gin­nen. Soll­te al­ler­dings je­mand In­ter­es­se ha­ben, das Buch vor­her (oder auch par­al­lel) zu be­spre­chen, wür­de ich ihm ger­ne hier den Raum zur Ver­fü­gung stel­len. Dann wür­den meh­re­re Deu­tun­gen zur Dis­kus­si­on ste­hen.

Bit­te In­ter­es­se in den Kom­men­ta­ren an­mel­den. Na­tür­lich auch, wenn es Vor­schlä­ge gibt.

Ka­ka­ni­en ist ab­ge­sackt

Ich blick­te vom Buch auf, um mir ein poe­ti­sches Bild aus den Fleurs du mal vor Au­gen zu füh­ren (sto­isch und oh­ne zu kla­gen ge­hen Müt­ter durch das Cha­os der wim­meln­den Städ­te) als vom Platz her durch das som­mer­abend­li­che Fen­ster ein fer­nes Stim­mens­ir­ren zu schwel­len be­gann. Vö­gel, dach­te ich zu­erst, Am­seln, ein ver­irr­ter, ver­wirr­ter Schwarm... Dann fiel mir ein, daß es da drau­ßen nur noch Spat­zen gab. Und Krä­hen, die sich im Som­mer ver­zo­gen. Aber jetzt knack­te und knarr­te es schon im Luft­ge­fü­ge. Das Sir­ren kam nä­her und ver­wan­del­te sich in ein mensch­lich-weib­li­ches Krei­schen. Ich stand auf, schob mei­ne Sil­hou­et­te in den Fen­ster­rah­men. Der Lin­den­baum ruh­te wind­still in sei­nem stau­bi­gen Grün. Zwi­schen sei­nen Wur­zeln ni­ste­ten die Au­tos der An­rai­ner. Ei­ne un­glaub­lich dicke Frau wat­schel­te auf den Kin­der­spiel­platz zu, in ei­nem fort Flü­che und Be­schimp­fun­gen aus­sto­ßend, die ziel­si­cher auf ein Mäd­chen am Rand des Sand­ka­stens zu­flo­gen. Die­se dicke Frau, jün­ger, als ich beim er­sten An­blick dach­te, noch nicht drei­ßig, stieß mit dem Bauch ge­gen die nied­ri­ge Um­zäu­nung. Das Git­ter hielt ih­ren mas­si­gen Kör­per zu­rück, wäh­rend ihr Ge­kreisch an­schwoll und an­schwoll. Von dem, was sie schrie, ver­stand ich nichts au­ßer zwei Wör­tern, die sie wie ei­nen Re­frain wie­der­hol­te, wäh­rend ein hel­les Glöck­chen an ih­rer Hand­ta­sche den Rhyth­mus be­ton­te: »...tür­ki­sche Fut, du tür­ki­sche Fut...« Wei­ter­le­sen

Fab­jan Haf­ner

Fabjan Hafner - c Privat

Fab­jan Haf­ner – c Pri­vat

Ge­ra­de le­se ich wie zu­fäl­lig dass der Literatur­wissenschaftler, Über­set­zer und Dich­ter Fab­jan Haf­ner ver­stor­ben ist. Haf­ner wur­de nur 49 Jah­re alt. Sein Tod ist un­fass­bar für mich.

Na­tür­lich hat­te ich 2008 sein Buch »Pe­ter Hand­ke – Un­ter­wegs in Neun­te Land« ge­le­sen. In mei­ner Hy­bris schick­te ich ihm den Link zu mei­ner Be­spre­chung mit ei­ni­gen Kri­tik­punk­ten und er ant­wor­te­te so­gar. Be­rüh­rungs­äng­ste mit »Di­let­tan­ten« (mei­ne For­mu­lie­rung) hat­te Haf­ner nicht. End­lich lern­te ich ihn per­sön­lich auf ei­nem Hand­ke-Sym­po­si­um in Mürz­zu­schlag 2012 ken­nen. Er war sehr freund­lich und hei­ter, gänz­lich oh­ne Al­lü­ren – mor­gens um acht beim Früh­stück wie nachts um eins auf dem Weg zu­rück zum Ho­tel. Sei­ne Stim­me er­in­ner­te mich zu­wei­len an die des jun­gen Klaus-Ma­ria Bran­dau­er. Als ein Teil­neh­mer kurz­fri­stig aus­fiel, über­nahm er ei­nen Vor­trag. Der Text war der­art bril­lant, dass ich das Ma­nu­skript von ihm er­bat. Er be­dau­er­te je­doch und zeig­te auf das No­tiz­feld sei­nes Smart-Pho­nes. Dort wa­ren fünf, sechs Stich­punk­te hin­ein­ge­tippt. Der Rest war im­pro­vi­siert.

Haf­ner war ein groß­ar­ti­ger Ken­ner nicht nur der Li­te­ra­tur Pe­ter Hand­kes. Er über­setz­te mit Akri­bie und Hin­ga­be Au­toren wie Flor­jan Li­puš und Gu­stav Ja­nuš vom Slo­we­ni­schen ins Deut­sche und ent­deck­te auch so man­chen un­ver­dient-un­be­kann­ten Schrift­stel­ler für den deut­schen Sprach­raum. Er fun­gier­te als Her­aus­ge­ber (u. a. von Chri­sti­ne La­vant), schrieb Kri­ti­ken und li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­li­che Auf­sät­ze. Dün­kel wa­ren ihm fremd; er schrieb klar und ge­schlif­fen, woll­te ge­le­sen und auch ver­stan­den wer­den. Ge­ehrt wur­de Haf­ner auch als Ly­ri­ker für sei­ne mal dü­ste­ren, mal me­lan­cho­li­schen, mal hei­te­ren Ge­dich­te. Un­er­müd­lich sein Wir­ken um mehr über den Kärnt­ner Wi­der­stand zu er­fah­ren.

Wir blie­ben lo­se in Kon­takt und schick­ten uns zu­wei­len Grü­ße. Vor ge­ra­de ein­mal knapp ei­nem Jahr, am 23. April, traf ich ihn in Graz. Er war mit Jo­sef Wink­ler für ein paar Stun­den zu ei­nem Work­shop über Hand­ke­on­line ge­kom­men. Er er­klär­te sich be­reit, mei­ne Er­zäh­lung »Grin­del­wald« zu le­sen. Und was ich nicht hoff­te, trat dann ein: er schrieb mir ei­ne per­sön­li­che Kri­tik da­zu; lob­te und kri­ti­sier­te und er­mu­tig­te mich, wei­ter­zu­ma­chen.

Sein Gruß für 2016 war vol­ler En­thu­si­as­mus und Le­bens­freu­de. Oft hat­te ich ver­spro­chen nach Kla­gen­furt zu kom­men; tat­säch­lich plan­te ich ei­nen Be­such für den Spät­som­mer die­ses Jah­res ein. Die­ser wun­der­ba­re Fab­jan Haf­ner wird nicht mehr da sein. Ich hat­te noch so vie­le Fra­gen an ihn, woll­te noch so viel von ihm ler­nen, mich von sei­ner Lei­den­schaft für die Li­te­ra­tur an­spor­nen las­sen.

(Mehr und Bes­se­res kann ich im Mo­ment nicht schrei­ben. Der Schmerz ist zu groß)

c Fabjan Hafner

c Fab­jan Haf­ner

War­um ich kei­ne Li­te­ra­tur­kri­tik mehr schrei­be

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Daß ich über­haupt Li­te­ra­tur­kri­tik ge­schrie­ben und ver­öf­fent­licht ha­be, liegt dar­an, daß ich als jun­ger Mann auf den Be­sitz von Bü­chern ver­ses­sen war, aber nicht ge­nug Geld hat­te, mir wel­che zu kau­fen. Als Re­zen­sent hat man ein Recht auf sein Re­zen­si­ons­exem­plar, man läßt sich nicht mit lo­sen Druck­fah­nen ab­spei­sen. Spä­ter dann, als ich nach Ar­gen­ti­ni­en und von dort nach Ja­pan ging, trenn­te ich mich von mei­ner mitt­ler­wei­le statt­li­chen Bi­blio­thek. Schon vor­her wa­ren mir die Bü­cher mehr und mehr zur Last ge­wor­den: die Woh­nung ver­staub­te, und es wur­de im­mer schwie­ri­ger, ei­ne Ord­nung auf­recht­zu­er­hal­ten. Ich sag­te mir, das We­sent­li­che die­ser Ge­brauchs­ge­gen­stän­de, ih­ren In­halt so­zu­sa­gen, hät­te ich oh­ne­hin in mei­nem Kopf ge­spei­chert, und so ver­kauf­te ich die ge­sam­te Bi­blio­thek zu ei­nem Spott­preis (ab­ge­se­hen von ei­ni­gen Aus­nah­men wie der Plé­ia­de-Werk­aus­ga­be von Bor­ges). Ich fühl­te mich er­leich­tert und ha­be die­sen Schritt nie be­reut.

Mit mei­ner kri­ti­schen Tä­tig­keit fuhr ich fort, aus Träg­heit und an­hal­ten­der Neu­gier. Hat­te ich die Bü­cher ge­le­sen, ver­schenk­te ich sie oder ließ sie ir­gend­wo zu­rück. Das di­gi­ta­le Zeit­al­ter hat­te in­zwi­schen be­gon­nen, und ich war froh, daß mir die Ver­la­ge pdf-Da­tei­en schick­ten an­stel­le von Bü­cher­pa­ke­ten. Sie ta­ten es an­fangs mit ei­nem ge­wis­sen Miß­trau­en, ganz so, als kön­ne man mit di­gi­ta­lem Gut mehr Schind­lu­der trei­ben als mit ana­lo­gem. Daß ich auf die Zu­sen­dung ei­nes »ech­ten« Buchs ver­zich­te­te, ver­stan­den sie nicht; hart­näckig schick­ten sie mir das Re­zen­si­ons­exem­plar, das mir zu­stand.

Ei­gent­lich woll­te ich im­mer schon Schrift­stel­ler wer­den, aber es man­gel­te mir am nö­ti­gen Selbst­be­wußt­sein. So war ich über­rascht und glück­lich, als mir ge­gen En­de mei­nes Stu­di­ums, als ich no­lens vo­lens ir­gend­wel­che be­ruf­li­chen Schrit­te un­ter­neh­men muß­te, wo­zu ich gänz­lich un­fä­hig war, der Lei­ter ei­ner Li­te­ra­tur­sen­dung im Ra­dio auf mei­ne An­fra­ge zu­rück­schrieb, er wol­le mich un­ter sei­ne frei­en Mit­ar­bei­ter auf­neh­men. Kurz dar­auf er­gab sich für mich, nach­dem zwei an­de­re Be­wer­ber ab­ge­sagt hat­ten, die Mög­lichkeit, als Lek­tor an ei­ne Uni­ver­si­tät nach Frank­reich zu ge­hen, und ich ließ sie nicht ver­strei­chen. Erst ei­ni­ge Jah­re spä­ter, als ich im­mer­hin schon ei­nen Ro­man in der Schub­la­de hat­te und ein we­nig aus dem Fran­zö­si­schen über­setz­te, be­gann ich wirk­lich, Li­te­ra­tur­kri­tik zu schrei­ben, aus dem ein­gangs er­wähn­ten Grund, denn mein Brot­be­ruf war nie be­son­ders ein­träg­lich. Da­mals ging man noch per­sön­lich in Re­dak­tio­nen, um Text zu lie­fern, an­fangs tat­säch­lich noch auf Pa­pier, dann auf ei­ner Dis­ket­te, die ich in ei­nen Schlitz am Haupt­com­pu­ter der Zei­tung, für die ich schrieb, stecken muß­te.

Der zu­stän­di­ge Re­dak­teur frag­te mich da­mals, was ich sonst so tä­te. Ich wuß­te kei­ne rech­te Ant­wort, von mei­nen Schub­la­den woll­te ich nicht er­zäh­len, und so lau­te­te der Kom­men­tar des Re­dak­teurs zu mei­nem Ge­stot­ter: »Aber vom Ar­ti­kel­schrei­ben kann man doch nicht le­ben.« Dan­ke für die Aus­kunft, dach­te ich und war zu per­plex, um zu ant­worten. Auf die Idee, mir ir­gend­wel­che Hin­wei­se, ei­ne klei­ne Hand­rei­chung zu ge­ben, kam der Mann nicht. Um­ge­kehrt kam ich nicht auf die Idee, die mir auf ab­strak­ter Ebe­ne durch­aus be­kannt war, daß man näm­lich sei­ne Ell­bo­gen ein­set­zen muß, um sich im Me­di­en­be­trieb ein sei es auch noch so klei­nes Plätz­chen zu ver­schaf­fen (im Literatur­betrieb gilt das­sel­be, auch un­ter Über­set­zern). Bei der Wo­chen­end­bei­la­ge der­sel­ben Ta­ges­zei­tung be­kam ich nach an­nä­hernd zehn Jah­ren frei­er Mit­ar­beit Schwie­rig­kei­ten, weil ich in an­de­ren Or­ga­nen zu ver­öf­fent­li­chen be­gon­nen hat­te. Man er­war­te­te von uns Schrei­ber­lin­gen, daß wir dem Blatt treu blie­ben – so sah die Frei­heit aus. Aus­nah­men wur­den bei so­ge­nann­ten Be­rühmt­hei­ten ge­macht, die durf­ten ver­öf­fent­li­chen, wo sie woll­ten.

Die­se Ge­schich­ten spie­len in Öster­reich, ei­nem en­gen Länd­chen mit so­ge­nann­ter Pres­se­kon­zen­tra­ti­on, wo Ei­fer­süch­te­lei­en und Miß­trau­en gang und gä­be wa­ren. An­de­rer­seits: Vom Ar­ti­kel­schrei­ben kann man nicht le­ben – vor al­lem nicht, wenn man nur für ein Or­gan schreibt. Ich ver­such­te zu wech­seln, was mir auch nicht recht ge­lin­gen woll­te, und war froh, als sich die Mög­lich­keit er­gab, re­gel­mä­ßig für ei­ne Schwei­zer Zei­tung zu schrei­ben, die über sol­chen Klein­kram er­ha­ben war und ist, ob­wohl ja auch die Schweiz, nach dem Be­kun­den ei­ni­ger von dort stam­men­der Au­toren, ein en­ges Länd­chen ist: wahr­schein­lich doch, trotz der ver­bin­den­den Al­pen, mit et­was wei­te­rem Ho­ri­zont. Wei­ter­le­sen

Ro­nald Tho­den (Hrsg.): ARD & Co.

Ronald Thoden (Hrsg.): ARD & Co

Ro­nald Tho­den (Hrsg.): ARD & Co

»Wie Me­di­en ma­ni­pu­lie­ren« lau­tet der Un­ter­ti­tel des Sam­mel­ban­des »ARD & Co.« Her­aus­ge­ge­ben wur­de das Buch von Ro­nald Tho­den, V.i.S.d.P.-Redakteur des seit 2010 on­line ver­wai­sten Ma­ga­zins »Hin­ter­grund«, für das im Im­pres­sum ei­ne »Ver­lag Selb­rund GmbH« zeich­net. Wenn man nach dem Her­aus­ge­ber goo­gelt fin­det man ei­nen Be­richt über ein »Querdenker«-Forum 2003 zu den An­schlä­gen des 11. Sep­tem­ber 2001, or­ga­ni­siert von Tho­den. Dort wur­den teil­wei­se ab­sur­de Theo­rien zu den An­schlä­gen aus­ge­brei­tet. Im­mer­hin: Für das Buch »ARD & Co.«, im Selb­rund-Ver­lag er­schie­nen, konn­ten mit Ul­rich Til­g­ner, Kurt Grit­sch und Wal­ter von Ros­sum Au­toren ge­won­nen wer­den, de­ren Ur­tei­le ich durch­aus schät­ze (auch wenn ich ih­nen nicht im­mer zu­stim­me).

Lei­der ver­läuft die Lek­tü­re recht er­nüch­ternd, wenn man sich durch Ti­tel und Un­ter­ti­tel kon­di­tio­niert sub­stan­zi­el­le Me­di­en­kri­tik er­hofft. Die gibt es zwar auch – häu­fig zu Be­ginn der je­wei­li­gen Bei­trä­ge. Dann je­doch er­greift et­li­che Au­torin­nen und Au­toren zu oft das Bes­ser­wis­ser-Pa­thos, mit dem sie nicht nur die me­dia­len Er­schei­nun­gen be­leuch­ten und kri­ti­sie­ren, son­dern sich in fach­li­che Ge­gen­ar­gu­men­ta­tio­nen be­ge­ben.

So gei­ßelt Wolf­gang Bitt­ner in »Feind­bild Pu­tin« durch­aus be­rech­tigt die ein­sei­ti­ge Dä­mo­ni­sie­rung Pu­tins und Russ­lands in der Be­richt­erstat­tung um die Ukrai­ne-Kri­se von En­de 2013 bis heu­te. Aber er be­lässt es nicht da­bei, son­dern be­ginnt sei­ne ei­ge­nen Be­wer­tun­gen, sieht die Kri­se als In­sze­nie­rung der USA mit dem Hin­ter­grund ei­ner po­li­ti­schen De­sta­bi­li­sie­rung Russ­lands. Bitt­ner schreibt un­ter Be­ru­fung von Hen­ry Kis­sin­ger und sei­nem In­ter­view vom 2. Fe­bru­ar 2014 mit CNN, dass »der Re­gime Ch­an­ge in Kiew so­zu­sa­gen die Ge­ne­ral­pro­be für das sei, ‘was wir in Mos­kau tun möch­ten’ «. Als Quel­le wird der Link der »Neu­en Rhei­ni­schen Zei­tung« an­ge­ge­ben. Dort kann man al­ler­dings nach­le­sen, wie das Kis­sin­ger-Zi­tat von Bitt­ner sinn­ent­stel­lend ver­fälscht wur­de. Die Fra­ge des CNN-Re­por­ter lau­te­te: »Sie ken­nen Pu­tin gut. Sie ha­ben ihn häu­fi­ger ge­trof­fen als je­der an­de­re Ame­ri­ka­ner. Glau­ben Sie, dass er be­ob­ach­tet, was in der Ukrai­ne pas­siert, und denkt, der We­sten und die USA wür­den dies im Grun­de als Schritt zur Um­zin­ge­lung Russ­lands be­trei­ben?«. Kis­sin­gers Ant­wort: »Ich glau­be, dass er denkt, dass dies ei­ne Ge­ne­ral­pro­be ist, für das, was wir in Mos­kau tun möch­ten…« Kis­sin­ger hat al­so nicht ge­sagt, dass die USA ei­nen »Re­gime Ch­an­ge« in Russ­land plan­ten oder ihn ma­chen soll­ten, er hat le­dig­lich ei­ne Ver­mu­tung dar­über ge­äu­ßert, dass Pu­tin dies so emp­fin­den könn­te. Der Un­ter­schied ist frap­pie­rend. Wei­ter­le­sen

Der Frie­dens­kai­ser (3)

Teil 2

Ju­dith wohn­te al­lein in ei­ner Zwei­zim­mer­woh­nung, recht ge­räu­mig für ei­ne Stu­den­tin. Mar­tha, ih­re Freun­din, eben­falls Psy­cho­lo­gin, über­nach­te­te häu­fig bei ihr, sie wohn­te bei ih­ren El­tern in Brau­nau und der letz­te Zug ging früh am Abend. Wenn sie über Nacht blieb, schlie­fen die bei­den im Dop­pel­bett. In die­ser Nacht wa­ren wir zu dritt, Mar­tha ku­schel­te sich von hin­ten an mich, was mein auf Ju­dith fi­xier­tes Be­geh­ren – »Mutter­komplex«, er­klär­te Mar­tha am näch­sten Mor­gen beim Früh­stück – dros­sel­te. »Dann bin ich auch ein Zwangs­cha­rak­ter?«, sag­te ich mit Blick auf Ju­dith. Die­se Art Iro­nie, die den Spre­cher vor je­dem Ge­fühls­aus­druck schützt, hat­te ich von An­drás über­nom­men, ob­wohl sie nicht recht zu mir paß­te. »Du nicht«, sag­te sie sanft nach ei­ner Schwei­ge­pau­se, als hät­te sie sich die Fra­ge ernst­haft über­le­gen müs­sen. Sie leg­te mir die Hand auf den Nacken, schob sie un­ter das halb­lan­ge Haar. Ju­dith und Mar­tha ver­heim­lich­ten nicht, daß sie »ei­ne Be­zie­hung« hat­ten. Sie be­zeich­ne­ten sich als les­bisch, aber ich glau­be, das traf im ei­gent­li­chen Sinn nicht zu. (Zu­ge­ge­ben, ich hat­te und ha­be kei­ne Ah­nung, wor­in das ei­gent­lich Les­bi­sche be­steht; bei der männ­li­chen Ho­mo­se­xua­li­tät scheint die De­fi­ni­ti­on leich­ter zu fal­len.)

Die Sit­zun­gen der Par­al­lel­ak­teu­re wur­den zä­her und kür­zer, nach­dem An­drás und Ju­dith uns ver­las­sen hat­ten; auch die Zahl der Teil­neh­mer schrumpf­te. Mi­chel­an­ge­lo ver­such­te, die Lei­tung zu über­neh­men. Er schlug Ta­ges­ord­nun­gen vor, die von Franz und vom Jüng­ling durch­kreuzt wur­den. »Wir brau­chen hier kei­nen Füh­rer«, hör­te ich ein­mal, wäh­rend der an­de­re zi­tier­te: »Der Lei­ter ist ein Ab­strak­tum, das sich von selbst auf­löst«. In letz­ter Zeit hat­te Mi­chel­an­ge­lo auf Ver­mitt­lung von An­drás bzw. des­sen Va­ter an Aus­stel­lun­gen in Ga­le­rien teil­neh­men kön­nen, ein­mal so­gar wäh­rend der Fest­spiel­zeit. We­nig spä­ter hat­te er ei­nen ei­ge­nen Ga­le­ri­sten, und er ver­kauf­te ein paar von sei­nen in­frarea­li­sti­schen Öl­ge­mäl­den zu recht gu­ten Prei­sen an Samm­ler. Von Ame­ri­ka aus hat­te An­drás so­gar ei­ne neue Kunst­rich­tung er­fun­den, den In­frarea­lis­mus, ei­ne Art La­bel, un­ter dem Mi­chel­an­ge­lo Ober­may­er be­rühmt wer­den soll­te. Aufs gan­ze, al­so im nach­hin­ein, be­trach­tet, schei­ter­te das Vor­ha­ben. Die Samm­ler ver­lo­ren das In­ter­es­se, Mi­chel­an­ge­lo sei­nen Ga­le­ri­sten, die von ihm ge­mal­ten Bil­der wa­ren und blie­ben ein­falls­los, ra­di­kal nett auch und ge­ra­de dann, wenn sie sich um ei­nen ag­gres­si­ven – »hap­ti­schen« – Ge­stus be­müh­ten. Ja, rich­tig, Kon­trol­le der Ag­gres­si­on war ei­ner der Ti­tel, die sich das Ge­nie da­mals von An­drás ein­flü­stern ließ. Wei­ter­le­sen

Geist und Macht

Zwei Bü­cher über Alar­mis­mus und Kon­for­mi­tät deut­scher In­tel­lek­tu­el­ler nach 1945

Im­mer wenn po­li­ti­sche, so­zia­le oder öko­no­mi­sche Kri­sen ein Ge­mein­we­sen er­schüt­tern, wer­den sie ge­ru­fen, um Stel­lung zu be­zie­hen: Die In­tel­lek­tu­el­len. In der all­ge­mei­nen Mei­nungs­ka­ko­pho­nie sol­len sie Halt bie­ten, Aus­we­ge auf­zei­gen, die Un­über­sicht­lich­keit ord­nen und re­prä­sen­ta­tiv für die kri­ti­sche Mas­se ihr Wort er­he­ben. Wo frü­her Pfar­rer die Mo­ral vor­ga­ben, sind es heu­te die In­tel­lek­tu­el­len, die als »Ge­wis­sen der Na­ti­on« agi(ti)eren. Kaum ei­ne »Kulturzeit«-Woche ver­geht, in der sie nicht ge­ru­fen und um ih­re In­ter­ven­tio­nen ge­be­ten wer­den.

Günther Rüther: Die Unmächtigen

Gün­ther Rüt­her:
Die Un­mäch­ti­gen

Zwei neue Bü­cher spü­ren nun die­sen schein­bar so gro­ßen Zei­ten nach und be­schäf­ti­gen sich mit der Rol­le der In­tel­lek­tu­el­len in der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hunderts. Sie könn­ten un­ter­schied­li­cher nicht sein. Da ist zum ei­nen »Die Un­mäch­ti­gen«, ei­ne Chro­no­lo­gie des 1948 ge­bo­re­nen Po­li­tik­wis­sen­schaft­lers Gün­ther Rüt­her über »Schrift­stel­ler und In­tel­lek­tu­el­le seit 1945«, wie es et­was ir­re­füh­rend im Un­ter­ti­tel heißt, da er sich auf Deutsch­land und die DDR be­schränkt. Ei­ne Er­wei­te­rung auf eu­ro­päi­scher Ebe­ne oder auch nur auf den deutsch­spra­chi­gen Raum, hät­te das Vo­lu­men des Bu­ches ge­sprengt. Scha­de al­ler­dings, dass da­mit auch die In­ter­ven­tio­nen schwei­ze­ri­scher oder öster­rei­chi­scher Schrift­stel­ler zu deut­schen Be­find­lich­kei­ten feh­len.

Uwe Kolbe: Brecht

Uwe Kol­be: Brecht

Das an­de­re Buch ist von Uwe Kol­be und heißt fast ein we­nig un­schul­dig »Brecht«. Der 1957 in Ost-Ber­lin ge­bo­re­ne Schrift­stel­ler und Über­set­zer be­schäf­tigt mit den Ent­wick­lun­gen in der Kul­tur­sze­ne der DDR von Brechts An­kunft 1948 an. Kol­be kann hier­zu bis 1988, dem Jahr sei­ner Aus­rei­se, ei­ge­ne An­schau­un­gen bei­steu­ern.

Gleich zu Be­ginn fragt Kol­be, ob Brechts Wir­ken die Exi­stenz der DDR ver­län­gert ha­be. Die Fra­ge sei zwar »aus fak­ti­schen, aus hi­sto­ri­schen Grün­den ab­surd«, so Kol­be, denn nach Brechts Tod exi­stier­te der DDR noch mehr als drei Jahr­zehn­te. Aber er be­grün­det, war­um ihn den­noch da­mit ernst ist. Denn Brecht setz­te über sei­nen Tod hin­aus ein Zei­chen. Und rich­tig vi­ru­lent wird sie, weil Kol­be die »Nach­ge­bo­re­nen« Brechts mit in die ima­gi­nä­re Haf­tung nimmt. Haupt­säch­lich sind dies vier Per­so­nen, die nicht nur als in­tel­lek­tu­el­le Er­ben Brechts, son­dern auch in ih­rer po­li­ti­schen Hal­tung dem Vor­bild na­he­kom­men und es Kol­be ge­mäß so­zu­sa­gen fort­schrei­ben: Vol­ker Braun, Wolf Bier­mann, Hei­ner Mül­ler und Tho­mas Brasch. So un­ter­schied­lich die­se Per­sön­lich­kei­ten und ih­re Dis­si­den­zen mit dem SED-Staat auch wa­ren, so ver­blüf­fend zei­gen sich Über­ein­stim­mun­gen.

–> wei­ter­le­sen auf Glanz und Elend