Geist und Macht

Zwei Bü­cher über Alar­mis­mus und Kon­for­mi­tät deut­scher In­tel­lek­tu­el­ler nach 1945

Im­mer wenn po­li­ti­sche, so­zia­le oder öko­no­mi­sche Kri­sen ein Ge­mein­we­sen er­schüt­tern, wer­den sie ge­ru­fen, um Stel­lung zu be­zie­hen: Die In­tel­lek­tu­el­len. In der all­ge­mei­nen Mei­nungs­ka­ko­pho­nie sol­len sie Halt bie­ten, Aus­we­ge auf­zei­gen, die Un­über­sicht­lich­keit ord­nen und re­prä­sen­ta­tiv für die kri­ti­sche Mas­se ihr Wort er­he­ben. Wo frü­her Pfar­rer die Mo­ral vor­ga­ben, sind es heu­te die In­tel­lek­tu­el­len, die als »Ge­wis­sen der Na­ti­on« agi(ti)eren. Kaum ei­ne »Kulturzeit«-Woche ver­geht, in der sie nicht ge­ru­fen und um ih­re In­ter­ven­tio­nen ge­be­ten wer­den.

Günther Rüther: Die Unmächtigen

Gün­ther Rüt­her:
Die Un­mäch­ti­gen

Zwei neue Bü­cher spü­ren nun die­sen schein­bar so gro­ßen Zei­ten nach und be­schäf­ti­gen sich mit der Rol­le der In­tel­lek­tu­el­len in der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hunderts. Sie könn­ten un­ter­schied­li­cher nicht sein. Da ist zum ei­nen »Die Un­mäch­ti­gen«, ei­ne Chro­no­lo­gie des 1948 ge­bo­re­nen Po­li­tik­wis­sen­schaft­lers Gün­ther Rüt­her über »Schrift­stel­ler und In­tel­lek­tu­el­le seit 1945«, wie es et­was ir­re­füh­rend im Un­ter­ti­tel heißt, da er sich auf Deutsch­land und die DDR be­schränkt. Ei­ne Er­wei­te­rung auf eu­ro­päi­scher Ebe­ne oder auch nur auf den deutsch­spra­chi­gen Raum, hät­te das Vo­lu­men des Bu­ches ge­sprengt. Scha­de al­ler­dings, dass da­mit auch die In­ter­ven­tio­nen schwei­ze­ri­scher oder öster­rei­chi­scher Schrift­stel­ler zu deut­schen Be­find­lich­kei­ten feh­len.

Uwe Kolbe: Brecht

Uwe Kol­be: Brecht

Das an­de­re Buch ist von Uwe Kol­be und heißt fast ein we­nig un­schul­dig »Brecht«. Der 1957 in Ost-Ber­lin ge­bo­re­ne Schrift­stel­ler und Über­set­zer be­schäf­tigt mit den Ent­wick­lun­gen in der Kul­tur­sze­ne der DDR von Brechts An­kunft 1948 an. Kol­be kann hier­zu bis 1988, dem Jahr sei­ner Aus­rei­se, ei­ge­ne An­schau­un­gen bei­steu­ern.

Gleich zu Be­ginn fragt Kol­be, ob Brechts Wir­ken die Exi­stenz der DDR ver­län­gert ha­be. Die Fra­ge sei zwar »aus fak­ti­schen, aus hi­sto­ri­schen Grün­den ab­surd«, so Kol­be, denn nach Brechts Tod exi­stier­te der DDR noch mehr als drei Jahr­zehn­te. Aber er be­grün­det, war­um ihn den­noch da­mit ernst ist. Denn Brecht setz­te über sei­nen Tod hin­aus ein Zei­chen. Und rich­tig vi­ru­lent wird sie, weil Kol­be die »Nach­ge­bo­re­nen« Brechts mit in die ima­gi­nä­re Haf­tung nimmt. Haupt­säch­lich sind dies vier Per­so­nen, die nicht nur als in­tel­lek­tu­el­le Er­ben Brechts, son­dern auch in ih­rer po­li­ti­schen Hal­tung dem Vor­bild na­he­kom­men und es Kol­be ge­mäß so­zu­sa­gen fort­schrei­ben: Vol­ker Braun, Wolf Bier­mann, Hei­ner Mül­ler und Tho­mas Brasch. So un­ter­schied­lich die­se Per­sön­lich­kei­ten und ih­re Dis­si­den­zen mit dem SED-Staat auch wa­ren, so ver­blüf­fend zei­gen sich Über­ein­stim­mun­gen.

–> wei­ter­le­sen auf Glanz und Elend

12 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Vie­len Dank für die aus­führ­li­che Re­zen­si­on. Rüt­hers Buch scheint mir le­sens­wert. Noch ei­ne Fra­ge: wie steht es um die Ge­wich­tung der Zeit­räu­me, geht es über­haupt noch in die »Nuller«-Jahre hin­ein, oder greift da schon das na­tür­li­che Ver­schwin­den der In­tel­lek­tu­el­len?!
    Der Ver­gleich der Bü­cher hat mir ei­nen über­ra­schen­den Ein­druck be­schert. Es nimmt sich ge­gen die er­ste Ver­mu­tung so aus, dass die In­tel­lek­tu­el­len in der BRD eher zum Ty­pus Dis­si­dent neig­ten, als in der Zwangs-Ge­mein­de DDR. Die Di­stanz, der be­harr­li­che Ab­stand, den ich als Jung­spund noch als Adels­prä­di­kat oder we­nig­stens pro­fes­sio­nel­le Ei­gen­schaft bei den Alt­vor­de­ren im We­sten er­lebt ha­be, er­scheint nun in ei­nem an­de­ren Licht: als dis­so­zia­les Schick­sal in ei­ner zu­neh­mend kom­ple­xen und tech­no­kra­ti­schen Ge­sell­schaft. Ei­ne Ent­frem­dung, die man ei­ne Zeit lang als Ele­ganz in­ter­pre­tie­ren konn­te. Fühl­te mich er­in­nert an den Spruch von Fou­cault: ein­ge­sperrt ins Au­ßen.
    Be­ster Satz: ...blei­ben nur noch Jür­gen Ha­ber­mas und Ju­li Zeh.
    Da muss­te ich la­chen.

  2. Rüt­her greift schon in die 00er Jah­re hin­ein, so­gar bis zur Ge­gen­wart – Stich­wort: NSA, Ab­hör­skan­dal (da­her Ju­li Zeh) . Aber es wird im­mer kur­so­ri­scher.

    Bei­de Bü­cher sind auf ih­re Art le­sens­wert. Rüt­her bie­tet über wei­te Strecken ein Ach-so-war-das-Ge­fühl, was dann Lust macht, sich den ein oder an­de­ren Sach­ver­halt noch ein­mal ge­nau­er an­zu­se­hen. Und Kol­be ist ein­fach an­ders gut.

    Der Ein­druck, dass die BRD-In­tel­lek­tu­el­len die rich­ti­gen Dis­si­den­ten wa­ren, ist ex­akt der Rich­ti­ge. Die DDR-Dis­si­den­ten hat­ten An­lie­gen, kratz­ten aber (bis auf we­ni­ge Aus­nah­men) nicht am Sy­stem (nicht aus Zwang, son­dern weil sie es gut­hie­ßen). Die BRD-Dis­si­den­ten kri­ti­sier­ten den Ka­pi­ta­lis­mus bei Sekt und Ca­na­pés, nach­dem sie mit ih­ren Ver­le­gern noch 2%-Punkte mehr Ho­no­rar erstrit­ten hat­ten. (Das ist jetzt mei­ne Po­le­mik.)

  3. Der Ti­tel »Die Un­voll­ende­ten« hät­te mir noch bes­ser ge­fal­len, denn das ge­nui­ne Miss­ver­hält­nis zwi­schen Geist und Macht im We­sten ist ja nur un­ge­ord­net wei­ter ge­ge­ben wor­den. Au­ßer­dem hält sich hart­näckig der Ver­dacht der Kor­rup­ti­on, wie Sie ja sa­gen.
    Da­bei ist die­se Kor­rup­ti­on ge­nau­so »sy­stem­im­ma­nent« wie die un­ver­meid­li­che Nä­he zur Staats­macht im Osten. Of­fen­bar hat man die­se Ana­lo­gie lan­ge über­se­hen, und sich ge­sinn­nungs­ethisch ei­nen schlan­ken Fuß ge­macht, da man ja die mei­ste Zeit in Op­po­si­ti­on zu den Re­gie­ren­den stand. Das ist ja seit 2013 end­gül­tig pas­sé. Zur Mut­ti-Sym­bio­se ge­zwun­gen... So wä­re die Ge­schich­te wei­ter zu schrei­ben.
    Nein, ich glau­be, der Ty­pus hat sich er­le­digt. Da­mit will nie­man­den Vor­schrif­ten ma­chen, aber »es funk­tio­niert« nicht mehr. Das hat vie­le Grün­de.
    Bei Kol­be war ich et­was skep­tisch. Er scheint mir Hei­ner Mül­ler et­was ab­zu­kan­zeln, den ich stark ver­eh­re. Sind sei­ne Ein­schät­zun­gen da neu­tral oder päd­ago­gisch über­mo­ti­viert?!

  4. »Die Un­mäch­ti­gen« fin­de ich als Ti­tel wirk­lich gut. Er im­pli­ziert ja ne­ben der Vor­weg­nah­me der Macht­lo­sig­keit auch gleich das Be­dau­ern dar­über. Das legt Rüt­her trotz sei­ner Kom­men­tie­run­gen bis zum Schluss nicht ab.

    Ich bin mir nicht si­cher, ob sich das Prin­zip des in­tel­lek­tu­el­len Ge­wis­sens der Na­ti­on er­le­digt hat. Die Me­di­en, die ja auf Per­so­na­li­sie­rung be­stehen, wer­den es bis auf wei­te­res erst ein­mal ein­for­dern. Zu­wei­len sitzt ja ein In­go Schul­ze in Po­lit-Talk­shows wenn es um Ar­mut in Deutsch­land geht, oder ei­ne Ju­li Zeh wenn Bür­ger­rech­te ver­tei­digt wer­den sol­len, usw. Das Pro­blem, das Me­di­en ha­ben wer­den, be­steht dar­in, dass ir­gend­wann nie­mand mehr den Ur­sprung der Mar­ke »In­go Schul­ze« oder »Ju­li Zeh« kennt. Wo­bei Be­kannt­heit nicht be­deu­tet, dass man de­ren Bü­cher ge­le­sen ha­ben muss (das hat die Mehr­heit der Deut­schen auch bei Grass, Wal­ser oder gar Ha­ber­mas nicht – trotz­dem ha­ben sie um­fäng­li­che Be­kannt­heit er­reicht), son­dern dass sie im Dis­kurs­raum ei­nen Stand ha­ben müs­sen, der ih­nen ei­nen Au­ra des Ex­per­ten­tums ver­schafft.

    »In­tel­lek­tu­el­ler« war und ist schon im­mer syn­onym zu ei­nem be­stimm­ten Ur­teil in Be­zug auf die po­li­ti­sche, ge­sell­schaft­li­che An­sicht des-/der­je­ni­gen Per­son. Um ein »Aus­ster­ben« der Ge­wis­sens­ein­re­de zu ver­hin­dern, wird in Zei­ten von Bo­lo­gna-Stu­di­en­gän­gen der »In­tel­lek­tu­el­le« nun auf­ge­stockt durch den »Pro­mi­nen­ten«. Sein Vor­teil liegt in der brei­te­ren Po­pu­la­ri­tät. So er­scheint es plötz­lich re­le­vant, was ein Fern­seh­schau­spie­ler zur EU sagt.

    Zum Kol­be: Päd­ago­gisch ist er nicht, al­ler­dings zu­wei­len et­was schnei­dend in sei­nen For­mu­lie­run­gen. Die In­te­gri­tät der von ihm kri­ti­sier­ten Per­sön­lich­kei­ten bleibt aber er­hal­ten. Bei Hei­ner Mül­ler er­zählt er auch von des­sen Auf­tritt bei der Groß­kund­ge­bung am Ber­li­ner Alex­an­der­platz, als dann ir­gend­wann die Men­ge »Auf­hö­ren« rief (das rief sie aber, mei­ner Er­in­ne­rung nach, nicht nur bei Hei­ner Mül­ler). Ein­zig dass Kol­be nicht die höchst in­ter­es­san­ten Ge­sprä­che Hei­ner Mül­lers mit Alex­an­der Klu­ge ein biss­chen mehr be­rück­sich­tigt hat, wun­der­te mich.

  5. Hei­ner Mül­ler war am Alex be­trun­ken ge­we­sen, und hat sei­ner Aus­kunft nach ei­nen Ge­werk­schaf­ter-Text vor­ge­le­sen. Al­so be­sagt das »Auf­hö­ren!« wohl wirk­lich nicht viel.
    Ich se­he die »Ge­wis­sens­ein­re­de« auch nicht als ver­zicht­bar, aber wie Sie so non-chalant sa­gen: da müs­sen na­tio­na­le Wur­zeln vor­lie­gen, an­son­sten lässt man die Ge­wis­sens­ein­re­de am be­sten von pro­fes­sio­nel­len NGO-Spre­chern be­sor­gen (mo­ra­li­sche Ein­peit­scher).
    Das ist doch das selt­sa­me Spek­trum, das sich in­zwi­schen ge­bil­det hat: In­tel­lek­tu­el­le (old School), Pro­mi­nen­te und NGO-Ver­tre­ter, die man bos­haft schon »Lob­by­isten« nennt.
    Da­mit wird die al­te Mar­ke doch ver­wischt, fin­den Sie nicht?!
    Ich bin im­mer noch ehr­lich fas­zi­niert von die­sen Un­si­cher­hei­ten, die mit der »Öf­fent­li­chen Po­li­ti­schen Re­de« in­zwi­schen ver­bun­den sind. In den Stu­di­os oder auf den Sym­po­si­en su­chen vie­le nach ih­rer Spre­cher-Rol­le, wenn kein di­rek­tes Ver­tre­tungs­ver­hält­nis oder ein Man­dat vor­liegt. Die­se Ver­un­si­che­rung ist (so weit ich das be­ob­ach­ten konn­te) kein Me­di­en-Ef­fekt, son­dern rührt di­rekt an die Fra­ge von Selbst­bild und Ge­mein­schaft. Die­se Fra­ge hat der gu­te al­te Stan­dard »In­tel­lek­tu­el­ler« über­flüs­sig ge­macht. Aber sie stellt sich wie­der.

  6. Dass es ein Ge­werk­schafts­text war, steht bei Kol­be. Über sei­nen Al­ko­hol­pe­gel nichts. Wo­bei man sich schon fragt, war­um man ei­nen FDGB-Text vor­liest, aber egal...

    Für mich sind NGO-Ver­tre­ter selbst­re­dend »Lob­by­isten« (oder, um­ge­dreht, die als Lob­by­isten be­zeich­ne­ten Ver­tre­ter bspw. der Wirt­schaft sind dann eben­falls »NGOs«). Das merk­wür­di­ge ist, dass die »gu­ten« NGOs prak­tisch sa­kro­sankt sind; jeg­li­che Kri­tik an ih­nen kommt nur sehr do­siert vor und wenn es sich nicht mehr ver­mei­den läßt (sehr in­ter­es­sant in die­sem Zu­sam­men­hang bspw. die Cau­sa WWF). Ih­re Feh­ler wer­den ih­nen auch nicht jah­re­lang um die Oh­ren ge­hau­en. Das schnel­le und vor­aus­ei­len­de Ver­zei­hen kor­re­spon­diert mit dem Be­dürf­nis nach ei­ner letzt­be­grün­de­ten Au­to­ri­tät, was um so lie­ber an­ge­nom­men wird, je »rich­ti­ger« es da­her­kommt (Green­peace, Food­watch, Am­ne­sty...)

  7. Dan­ke für den Link zur WWF-Cau­sa. Ein ein­drucks­vol­les Bei­spiel. Ich bin mit dem Er­ha­ben­heits-Zer­ti­fi­kat ge­wis­ser NGO’s auf­ge­wach­sen, und se­he mich erst seit ein paar Jah­ren zu mehr Ge­nau­ig­keit ge­zwun­gen.
    Üb­ri­gens ist ih­re Be­spre­chung fast schon ei­ne ge­ne­rel­le Kri­tik an der Kor­rum­pier­bar­keit des Ge­wis­sens. Er­in­nert klar an Nietz­sche, der uns eben­falls das gu­te oder schlech­te Ge­wis­sen an­rü­chig ma­chen woll­te.
    Da­bei ist die ge­ring­fü­gi­ge In­tel­li­genz des sog. Ge­wis­sens schon das gan­ze Ge­heim­nis. Es muss schnell ge­hen, man braucht An­halts­punk­te für ei­ne Mei­nung, ei­ne Kauf­ent­schei­dung, da reicht ein Pan­da oder ein Sie­gel. Ich se­he den ge­hetz­ten aber noch im­mer ver­ant­wor­tungs­be­rei­ten Men­schen von heu­te als prä­de­sti­niert, dem Ge­wis­sen und sei­nen Ver­ein­fa­chun­gen zum Op­fer zu fal­len.
    War­um bin ich Mit­glied beim Lan­des­bund für Vo­gel­schutz?! Sie­he, ich woll­te auch zu den Gu­ten ge­hö­ren.
    Und das Ge­wis­sen, von dem die Ju­ri­sten re­den, oder die Ethi­ker?! Wer oder was hat das Ge­wis­sen ei­gent­lich so groß ge­macht, dass wir im­mer noch mit Ehr­furcht da­von re­den?!

  8. Es ist ein Un­ter­schied ob man beim Lan­des­bund für Vo­gel­schutz Mit­glied ist und da viel­leicht ein biss­chen mit­ar­bei­tet oder man als an­ony­mer Zahl­mensch bei Green­peace (vul­go: »För­der­mit­glied«) sei­ne Ab­lass­brief­chen er­wirbt. So rich­tig »mit­ma­chen« kann man bei den mei­sten NGOs ja eher nicht; es be­schränkt sich zu­meist aufs Ein­zah­len. Und dann darf man die Or­ga­ni­sa­ti­on und da­mit auch sich sel­ber be­wun­dern. Cha­ri­ty für den Mit­tel­stand.

  9. Cha­ri­ty und ein Schnäps­chen Grö­ßen­wahn. Man darf ja nicht über­se­hen, dass hier in­ter­na­tio­nal ge­wirkt wer­den soll. Ein Netz, das nicht nur die gan­ze Er­de um­spannt, son­dern po­li­tisch-psy­cho­lo­gisch be­trach­tet auch ein­fängt und »be­herrscht«.
    Aber um den klit­ze­klei­nen Wil­len zur Macht, den sich die Mit­tel­schicht gönnt, ist mir gar nicht ban­ge. Mich be­un­ru­higt eher die Ei­gen­schaft die­ser in­ter­na­tio­na­len NGOs, strom­li­ni­en­för­mi­ge und ein­di­men­sio­na­le Cha­rak­te­re zu se­lek­tie­ren.
    Wenn je­mand kaum et­was über Mo­ral ver­stan­den hat, dann doch so viel: mo­ra­li­sche Pro­ble­me sind Am­bi­va­len­zen. Das ver­steht man schon, be­vor man das Wort »Am­bi­va­lenz« buch­sta­bie­ren kann. Doch die Or­ga­ni­sa­tio­nen schicken ei­nen Funk­tio­närs-Typ ins Ren­nen, der kei­ne Ab­wä­gun­gen braucht noch kennt. Da­mit wird im­grun­de ei­ne exi­sten­zi­el­le Lern­erfah­rung von Mo­ral »pro­fes­sio­nell über­holt«.
    Das scha­det dem Selbst­ver­ständ­nis des Men­schen ins­ge­samt. Der Ri­go­ris­mus spot­tet sei­ner An­stren­gung...

  10. Die von Ih­nen ge­fürch­te­te Macht der NGOs wird ja durch die Mit­tel­schicht so­zu­sa­gen le­gi­ti­miert. Es ist im­mer er­staun­lich, wenn in öf­fent­lich-recht­li­chen Po­li­tik­sen­dun­gen die Stel­lung­nah­men der NGOs zu öko­no­mi­schen, öko­lo­gi­schen oder po­li­ti­schen Fra­ge­stel­lun­gen im­mer dra­ma­tur­gisch kor­rekt am En­de ste­hen, so­zu­sa­gen als Ur­teil.

    Dass man als NGO kei­ne Ab­wä­gun­gen braucht, ist ja im­ma­nent in dem Spiel zwi­schen »Gut und Bö­se«. Ge­nau­so we­nig wie der Ver­tre­ter von Nest­lé Am­bi­va­len­zen zu­lässt, wird dies bei dem Food­watch-Kri­ti­ker der Fall sein. Der me­dia­le Kon­su­ment hat nun die »Aus­wahl«. Da­bei ver­rät al­ler­dings zu­meist die jour­na­li­sti­sche Be­ar­bei­tung im stil­len die Rich­tung, in der die Mei­nung ge­hen soll (s.o.). Das Pro­blem sind nicht die NGOs an sich, son­dern die Jour­na­li­sten, die sie qua­si für un­fehl­bar hal­ten.

  11. Ja, mir scheint, die NGO’s ge­nie­ßen ei­nen Ver­trau­ens­vor­schuss. Wo­bei sich dar­in wie­der ein­mal das tie­fe Miss­trau­en der Mit­tel­schicht ge­gen­über Po­li­ti­kern und Wirt­schafts-Ver­tre­tern spie­gelt.
    Zu den Ab­stu­fun­gen der Ver­trau­ens­wür­dig­keit kommt dann beim Jour­na­lis­mus die ge­ne­rel­le Li­zenz zur Ver­ein­fa­chung. Mit­hin kann man nur noch von ei­nem »per­for­ma­tiv ge­präg­ten und schwach ra­tio­na­len po­li­ti­schen« Dis­kurs aus­ge­hen.
    Fund­stück ge­ra­de eben:
    http://www.nzz.ch/meinung/kommentare/politik-populismus-und-luege-die-krise-der-wahrheit-ld.15541
    Dar­in fin­det man die für Phi­lo­so­phen ty­pi­sche An­ti­no­mie zwi­schen Wahr­heit und Macht wie­der. Wor­auf ich mich aber nicht mehr ein­las­sen möch­te, weil sie von vor­ne her­ein ei­ne pes­si­mi­sti­sche Pro­gno­se ab­wirft. Wer­den wir die Macht je­mals zwin­gen kön­nen, die Wahr­heit zu sa­gen, oder aber sich ihr zu beu­gen?!
    Nein, wer­den wir nicht.
    Das ist mir zu dra­ma­tisch.
    Aber die Bür­ger­lich­keit muss ir­gend­wie die­sen »Zu­stel­lun­gen« trot­zen. Sonst geht’s ja nicht mehr wei­ter. Sonst geht die Po­li­tik voll­kom­men auf in die­sem ar­ti­fi­zi­el­len Spiel der Kräf­te: Par­tei-Funk­tio­nä­re, Lob­by­isten, Jour­na­li­sten. Es kommt mir bei­nah vor wie ei­ne un­be­setz­te Rol­le. Das Dra­ma oh­ne Bür­ger.

  12. Na­ja, ei­ne Dis­kus­si­on über den Schu­mats­ky-Ar­ti­kel möch­te ich nicht füh­ren. Sein Ein­druck des »Nie­der­gangs der po­li­ti­schen Wahr­heit« hin­ter­läßt bei mir den Nach­ge­schmack, dass er am En­de den (be­haup­te­ten) Nie­der­gang sei­ner Wahr­heit be­klagt. Das zeigt sich deut­lich, wenn er Jörg Bab­e­row­skis In­ter­pre­ta­ti­on in ei­nem Es­say (den Schu­mats­ky als »Po­le­mik« be­zeich­net) ei­nem »Wahr­heits­test« un­ter­zieht. Das ist na­tür­lich Un­sinn.

    Es gibt ver­mut­lich Le­gio­nen von Sprach­spiel­ana­ly­sen, wie me­dia­le Öf­fent­lich­kei­ten ge­täuscht und da­durch am En­de be­lo­gen wer­den. Ein »Dra­ma oh­ne Bür­ger« se­he ich da noch nicht. Eher im Ge­gen­teil: Die In­sze­nie­run­gen neh­men zu; der »Bür­ger« kommt als Adres­sat sehr wohl vor. Das gan­ze Thea­ter fin­det we­gen sei­ner Kreuz­chen auf ei­nem Stück Pa­pier statt.