Der Frie­dens­kai­ser (3)

Teil 2

Ju­dith wohn­te al­lein in ei­ner Zwei­zim­mer­woh­nung, recht ge­räu­mig für ei­ne Stu­den­tin. Mar­tha, ih­re Freun­din, eben­falls Psy­cho­lo­gin, über­nach­te­te häu­fig bei ihr, sie wohn­te bei ih­ren El­tern in Brau­nau und der letz­te Zug ging früh am Abend. Wenn sie über Nacht blieb, schlie­fen die bei­den im Dop­pel­bett. In die­ser Nacht wa­ren wir zu dritt, Mar­tha ku­schel­te sich von hin­ten an mich, was mein auf Ju­dith fi­xier­tes Be­geh­ren – »Mutter­komplex«, er­klär­te Mar­tha am näch­sten Mor­gen beim Früh­stück – dros­sel­te. »Dann bin ich auch ein Zwangs­cha­rak­ter?«, sag­te ich mit Blick auf Ju­dith. Die­se Art Iro­nie, die den Spre­cher vor je­dem Ge­fühls­aus­druck schützt, hat­te ich von An­drás über­nom­men, ob­wohl sie nicht recht zu mir paß­te. »Du nicht«, sag­te sie sanft nach ei­ner Schwei­ge­pau­se, als hät­te sie sich die Fra­ge ernst­haft über­le­gen müs­sen. Sie leg­te mir die Hand auf den Nacken, schob sie un­ter das halb­lan­ge Haar. Ju­dith und Mar­tha ver­heim­lich­ten nicht, daß sie »ei­ne Be­zie­hung« hat­ten. Sie be­zeich­ne­ten sich als les­bisch, aber ich glau­be, das traf im ei­gent­li­chen Sinn nicht zu. (Zu­ge­ge­ben, ich hat­te und ha­be kei­ne Ah­nung, wor­in das ei­gent­lich Les­bi­sche be­steht; bei der männ­li­chen Ho­mo­se­xua­li­tät scheint die De­fi­ni­ti­on leich­ter zu fal­len.)

Die Sit­zun­gen der Par­al­lel­ak­teu­re wur­den zä­her und kür­zer, nach­dem An­drás und Ju­dith uns ver­las­sen hat­ten; auch die Zahl der Teil­neh­mer schrumpf­te. Mi­chel­an­ge­lo ver­such­te, die Lei­tung zu über­neh­men. Er schlug Ta­ges­ord­nun­gen vor, die von Franz und vom Jüng­ling durch­kreuzt wur­den. »Wir brau­chen hier kei­nen Füh­rer«, hör­te ich ein­mal, wäh­rend der an­de­re zi­tier­te: »Der Lei­ter ist ein Ab­strak­tum, das sich von selbst auf­löst«. In letz­ter Zeit hat­te Mi­chel­an­ge­lo auf Ver­mitt­lung von An­drás bzw. des­sen Va­ter an Aus­stel­lun­gen in Ga­le­rien teil­neh­men kön­nen, ein­mal so­gar wäh­rend der Fest­spiel­zeit. We­nig spä­ter hat­te er ei­nen ei­ge­nen Ga­le­ri­sten, und er ver­kauf­te ein paar von sei­nen in­frarea­li­sti­schen Öl­ge­mäl­den zu recht gu­ten Prei­sen an Samm­ler. Von Ame­ri­ka aus hat­te An­drás so­gar ei­ne neue Kunst­rich­tung er­fun­den, den In­frarea­lis­mus, ei­ne Art La­bel, un­ter dem Mi­chel­an­ge­lo Ober­may­er be­rühmt wer­den soll­te. Aufs gan­ze, al­so im nach­hin­ein, be­trach­tet, schei­ter­te das Vor­ha­ben. Die Samm­ler ver­lo­ren das In­ter­es­se, Mi­chel­an­ge­lo sei­nen Ga­le­ri­sten, die von ihm ge­mal­ten Bil­der wa­ren und blie­ben ein­falls­los, ra­di­kal nett auch und ge­ra­de dann, wenn sie sich um ei­nen ag­gres­si­ven – »hap­ti­schen« – Ge­stus be­müh­ten. Ja, rich­tig, Kon­trol­le der Ag­gres­si­on war ei­ner der Ti­tel, die sich das Ge­nie da­mals von An­drás ein­flü­stern ließ.

Für in­tel­lek­tu­el­le Dis­kus­sio­nen war Mi­chel­an­ge­lo, der Hap­ti­sche, frei­lich zu dumpf. Nicht dumm, aber dumpf: gei­stig trä­ge. In sei­nen Re­ak­tio­nen tapp­te er im­mer ein Stück hin­ter dem her, wo­von ge­ra­de die Re­de war. An­drás ver­kör­per­te die Avant­gar­de, Franz stol­per­te ihm manch­mal vor­aus, Mi­chel­an­ge­lo blieb im­mer die Nach­hut. So oder so, un­se­re Par­al­lel­ak­ti­on hat­te sich er­schöpft, war ge­nau­so er­geb­nis­los ver­san­det wie die ech­te, fik­ti­ve, die ka­ka­ni­sche Par­al­lel­ak­ti­on. In je­dem Fall scheint es ihr Schick­sal zu sein, die Din­ge und sich selbst auf­zu­schie­ben. Wir be­gan­nen, auf An­drás’ Rück­kehr zu war­ten, doch wer zu­erst zu­rück­kehr­te, schon zu Weih­nach­ten, nach nicht ein­mal drei Mo­na­ten, war Ju­dith. Sie ha­be es in die­sem Land, wo sich An­drás ih­ren An­ga­ben nach wohl­fühl­te und sei­ne Be­rühmt­heit als Bot­schaf­ter der Kul­tur des al­ten Kon­ti­nents ge­noß, gar nicht ein­le­ben kön­nen (wo­bei zwei­fel­los auch ih­re Mü­he mit der eng­li­schen Spra­che ei­ne Rol­le spiel­te), und ihr Gat­te – in ih­rer Stim­me klang sei­ne Iro­nie mit – war so gut wie nie zu Hau­se, er hat­te so viel zu tun. Als An­drás im Spät­som­mer schließ­lich leib­haf­tig zu­rück­kehr­te, gin­gen das Ehe­paar aufs Stan­des­amt, um sich schei­den zu las­sen. Ju­dith hat­te ei­nen Mann ken­nen­ge­lernt, ei­nen rund­köp­fi­gen deut­schen Schrift­stel­ler mit grau­em Haar und schwar­zen, Schat­ten wer­fen­den Schlä­fen, der ihr ei­ne Zeit­lang als Stüt­ze dien­te. Spä­ter scheint er dem Al­ko­hol ver­fal­len zu sein und Ju­dith, ih­rer Dar­stel­lung nach, ge­schla­gen zu ha­ben, so daß sie sich ein zwei­tes Mal schei­den ließ. Von der Par­al­lel­ak­ti­on war nach An­drás’ Rück­kehr über­haupt nicht mehr die Re­de. Das er­ste Buch von Franz In­ner­ho­fer war er­schie­nen, er ge­wann da­mit ei­nen be­deu­ten­den Li­te­ra­tur­preis. Und An­drás, wie ein­gangs be­merkt, mach­te sich rar.

Bei der Preis­ver­lei­hung in Rau­ris, un­weit vom Dorf, aus dem In­ner­ho­fer stamm­te, war An­drás je­doch zu­ge­gen (eben­so ich, als Zaun­gast). Er hat­te so­gar den För­der­preis er­hal­ten – ein we­nig lä­cher­lich, denn mit sei­ner ho­hen Stirn, dem an­ge­grau­ten Haar und der ner­vös-pro­fes­so­ren­haf­ten Ge­bär­den­spra­che wirk­te er viel äl­ter als der uri­ge, voll­bär­ti­ge In­ner­ho­fer, fast schon ein we­nig be­tagt. Ir­gend et­was hat­te ihn in den USA aus der Bahn ge­wor­fen – oder um­ge­kehrt, auf die Bahn ge­bracht. Je­den­falls war die­ser An­drás ein an­de­rer, ei­ner von vie­len an­de­ren, aus de­nen er seit je­her be­stand. Oder der ei­ne An­de­re, der sich hin­ter all den an­de­ren ver­steckt hat­te, wie da­mals auf dem Re­si­denz­platz. Der ei­ne An­de­re, der uns lang­sam ent­schwand. Wäh­rend sich die Jour­na­li­sten und Kamera­leute um In­ner­ho­fer dräng­ten, las An­drás in der Stu­be ei­nes Bau­ern­hau­ses vor »aus­erlesenem Pu­bli­kum« (iro­ni­scher Un­ter­ton, aber in Wahr­heit, glau­be ich, nei­de­te er Franz den Er­folg) ei­nen Pro­sa­text, ei­ne Art Er­zäh­lung, die ich noch recht ge­nau in Er­in­ne­rung ha­be, so tief war der Ein­druck, den sie auf mich mach­te. Tags dar­auf teil­te er ei­nem ge­lang­weil­ten Jour­na­li­sten der Salz­bur­ger Nach­rich­ten mit, er ha­be den Text ab­ge­schrie­ben, die däm­li­che Ju­ry ha­be es nicht be­merkt. Skan­dal, wenn auch nur ein klei­ner, viel klei­ner als die Schwein­chen­ak­ti­on, die lang­sam ins kol­lek­ti­ve Ver­ges­sen ab­glitt. In der Fol­ge, nach meh­re­ren Ju­ry-Sit­zun­gen, wur­de ihm der Preis ab­erkannt. Sei­ne Er­zäh­lung, die nie ir­gend­wo ver­öf­fent­licht wur­de, trug den Ti­tel Blau­au­ges neb­li­ger Herbst: Va­ria­ti­on ei­ner frü­hen, fast un­be­kann­ten Er­zäh­lung Mu­sils, wie ich her­aus­fand. Mei­ner Mei­nung nach, und so­weit mich mein Ge­dächt­nis nicht trügt, be­zog sich aber nur der Ti­tel auf Mu­sil, und viel­leicht die Per­spek­ti­ve, die Grund­hal­tung des Er­zäh­lens, nicht aber der In­halt, nicht die ei­gent­li­che Ma­te­rie sei­ner Er­zäh­lung, die durch­aus ori­gi­nal und ori­gi­nell war. Es han­del­te sich um ei­ne Vor­weg­nah­me von In­ner­ho­fers Schick­sal: ein dü­ste­rer, aber son­nen­klar kom­po­nier­ter Me­ta­text zu den Schö­nen Ta­gen, die Franz be­sten Glau­bens als sein Erst­lings­werk prä­sen­tier­te. Ein »nai­ves, be­rüh­ren­des, er­schüt­tern­des« Werk: so die Flos­keln der Jour­na­li­sten.

Was An­drás da­zu be­wo­gen hat­te, sich die Kar­rie­re, die er im­mer­hin in die We­ge ge­lei­tet hat­te, schon mit dem näch­sten Schritt zu ver­bau­en, kann ich nicht wis­sen, ich kann es nur ver­mu­ten, und die Er­zäh­lung hier, die­se Er­zäh­lung ei­ner Er­zäh­lung und ei­nes Ge­dichts, ist nichts an­de­res als der Aus­druck ei­ner dies­be­züg­li­chen Ah­nung. An­drás be­herrsch­te vie­ler­lei Kün­ste halb­wegs, ei­ni­ge so­gar ziem­lich gut, doch am be­sten war er in der Kunst, sich Knüp­pel zwi­schen die Bei­ne zu wer­fen. Er säg­te zeit­le­bens am ei­ge­nen Ast . . .

Schon wie­der re­de ich so, als sei er ge­stor­ben. In der Zeit, als er sich noch mit Ky­ber­ne­tik be­faß­te, et­wa ein Jahr nach sei­ner Rück­kehr aus Ma­ry­land, fand in der theo­lo­gi­schen Fa­kul­tät ein Kon­greß statt, bei dem er über Steue­rungs­me­tho­den zur Ge­ne­rie­rung so­zia­ler Uto­pien re­fe­rie­ren soll­te (der ei­gent­li­che Ti­tel lau­te­te »Be­frei­ung von der Ar­beit«). Ich saß da­mals im halb lee­ren Hör­saal, hör­te ei­nen sich in die Län­ge zie­hen­den Vor­trag und war­te­te, als er zu En­de war, ver­geb­lich auf An­drás’ Auf­tritt. Auf dem Po­di­um be­rat­schlag­te sich der Mo­de­ra­tor mit ei­nem Kol­le­gen, und es wur­de be­schlos­sen, sei­nen Vor­trag spä­ter zu rei­hen. Ich ver­ließ den Saal, um in ei­nem na­hen Ca­fé auf den neu­en Ter­min zu war­ten, und stieß in der Nä­he der Uni­ver­si­täts­bi­blio­thek auf ei­nen halb zer­streut, halb ent­setzt wir­ken­den An­drás. Er sei in die­sem ver­win­kel­ten Bau­werk um­her­ge­lau­fen, ha­be den Hör­saal aber nicht fin­den kön­nen. Als ich ihm sag­te, sein Vor­trag sei ver­scho­ben, starr­te er mich ent­gei­stert an und mein­te, jetzt sei es auf al­le Fäl­le zu spät. In der näch­sten oder über­näch­sten Se­kun­de seufz­te er er­leich­tert, und wir ver­lie­ßen ge­mein­sam den altehr­würdigen Ort (die Uni­ver­si­tät hat­te hier ih­ren Ur­sprung). In dem klei­nen Ca­fé hin­ter der Pfer­de­schwem­me gab er mir um­ständ­lich ge­sti­ku­lie­rend ei­ne Ein­füh­rung in die Prin­zi­pi­en der Ky­ber­ne­tik, de­nen ich müh­sam zu fol­gen ver­such­te.

Vor­fäl­le die­ser Art häuf­ten sich, im­mer öf­ter kam er zu spät zu Ver­ab­re­dun­gen oder er­schien gar nicht. Im Lauf der Jah­re er­fuhr ich von ver­schie­de­ner Sei­te, daß sei­ne Nach­läs­sig­keit – so wur­de sein Ver­hal­ten in­ter­pre­tiert – auf wach­sen­den Un­mut stieß, so daß am En­de nie­mand mehr mit ihm zu tun ha­ben woll­te. Ich selbst ver­mied es fort­an, ihn für Ta­gun­gen und Pro­jek­te vor­zu­schla­gen. Trotz­dem be­warb er sich bei di­ver­sen Ge­le­gen­hei­ten, ließ sie aber ver­strei­chen oder gab ein ver­wor­re­nes State­ment aus dem Steg­reif, lie­fer­te ein ei­lig zu­sam­men­ge­schu­ster­tes Pa­pier, das bei wei­tem nicht auf der Hö­he sei­ner Mög­lich­kei­ten war. Spä­ter er­fuhr ich, daß er schon seit län­ge­rem in Ita­li­en leb­te. Als ich in Wien auf der Stra­ße zu­fäl­lig dem Ori­gi­nal­ge­nie be­geg­ne­te, Mi­cha­el ali­as Mi­chel­an­ge­lo Ober­may­er, er­zähl­te er mir, An­drás ha­be vor ei­ni­gen Jah­ren ge­hei­ra­tet (»ei­ne rei­che Frau!«), er zie­he zwei Kin­der groß, ko­che gern und fah­re ei­nen Al­fa Ro­meo. Ich hielt das zu­nächst für ei­nen Scherz, bis ich mich er­in­ner­te, daß Mi­cha­el zu der­lei gar nicht fä­hig war; frü­her hat­te er le­dig­lich zwang­haf­te Witz­chen ge­macht, um sich An­drás an­zu­pas­sen, der mit sei­nem Iro­nie­stil glänz­te. An­drás un­ter­rich­te­te an ei­ner Provinz­universität – wel­ches Fach, wuß­te Mi­cha­el nicht zu sa­gen. Wenn sein Be­richt zu­traf, hat­te sich An­drás von je­dem Par­al­lel­ak­tio­nis­mus be­kehrt. Wie Can­di­de hat­te er sich ins pri­va­te Lust­gärt­lein zu­rück­ge­zo­gen. War­um auch nicht, letz­ten En­des tun das die mei­sten Men­schen. Man muß nicht so en­den wie Franz In­ner­ho­fer, mit die­ser ent­setz­li­chen Kon­se­quenz. Selbst Ul­rich An­ders war, so ge­se­hen, nur ein Durch­schnitts­typ.

Da­nach ha­be ich An­drás noch ein­mal ge­se­hen, nicht nur im Er­zähl­bild, son­dern leib­haf­tig ge­se­hen, wenn auch nur aus der Fer­ne. Aus ge­rin­ger Di­stanz, um ge­nau zu sein, denn der Raum in der Al­ten Schmie­de, der mich an die Werk­statt er­in­ner­te, die die re­vo­lu­tio­nä­ren Mar­xi­sten in der Stein­gas­se ge­mie­tet hat­ten, bot nur ei­nem klei­nen, eli­tä­ren Pu­bli­kum Platz. An­drás hat­te in Ita­li­en ei­nen Ge­dicht­band ver­öf­fent­licht, den er nun in der Nacht der Ly­rik – ne­ben an­de­ren Dich­tern mit an­de­ren Ge­dicht­bü­chern – vor­stel­len soll­te. Ich ha­be das Buch da­mals er­wor­ben: ei­ne selt­sa­me Pu­bli­ka­ti­on, in Ca­ta­nia er­schie­nen, et­wa sieb­zig Sei­ten stark (oder schwach), und drei­spra­chig. Als ich vor nun­mehr fünf­zehn Jah­ren fast al­le mei­ne Bü­cher ver­schleu­der­te, war auch die­ses dar­un­ter, aber ich er­in­ne­re mich, daß auf den lin­ken Sei­ten der ita­lie­ni­sche Text ge­druckt war, rechts in viel klei­ne­rer Schrift, manch­mal wie in den Rah­men ge­stopft, die deut­sche zu­sam­men mit der un­ga­ri­schen Ver­si­on. Die deut­sche ent­sprach der ita­lie­ni­schen an­nä­hernd, manch­mal mehr, manch­mal we­ni­ger; in zwei oder drei Fäl­len schien mir, daß es sich um ein an­de­res Ge­dicht han­del­te. Der ita­lie­ni­sche Ti­tel des Ban­des lau­te­te pa­ne posto sas­so, der deut­sche brot statt stein, die Buch­sta­ben wa­ren aus­nahms­los klein ge­schrie­ben, wie An­drás es im­mer ge­macht hat­te. In der Nacht der Ly­rik las er nur ein ein­zi­ges Ge­dicht, die­ses aber mehr­mals, und nur die ita­lie­ni­sche Ver­si­on. Im Raum, in dem sich fast nur Dich­ter be­fan­den, wur­de es un­ru­hig, bei der vier­ten oder fünf­ten Wie­der­ho­lung wur­den so­gar Ru­fe laut, »Ü‑­ber-se-tzen, ü‑­ber-se-tzen!« und »Auf deutsch! Auf deutsch!«, rhyth­misch wie ein Sprech­chor. An­drás griff sich an die Bril­le – er trug jetzt ei­ne ecki­ge Bril­le und hat­te fast kei­ne Haa­re mehr, sah aber gut aus mit sei­nen ho­hen Backen­kno­chen und schat­ti­gen Wan­gen, ähn­lich wie Pier Pao­lo Pa­so­li­ni, als hät­te er sich auch äu­ßer­lich sei­ner Wahl­hei­mat (Wahl­hei­mat?) an­ge­gli­chen – und blick­te ins Buch, als su­che er dort nach et­was, blick­te dann auf und trug ein fünf­tes oder sech­stes Mal, oh­ne den Text an­zu­se­hen, die ita­lie­ni­sche Ver­si­on vor, ehe er vom Le­se­tisch auf­stand und ins Hin­ter­zim­mer ging.

Gott­fried Benn ver­trat be­kannt­lich die Auf­fas­sung, ein Dich­ter kön­ne im Le­ben un­ge­fähr sechs oder sie­ben wirk­lich gu­te Ge­dich­te schrei­ben, mehr sei nicht mög­lich; An­drás hat­te die­sen Satz in den Zei­ten der Par­al­lel­ak­ti­on mehr­mals zi­tiert. Wenn er zu­trifft, hat An­drás mit sei­nem schma­len Ge­dicht­band ge­nug ge­tan – vor­aus­ge­setzt, die dar­in ent­hal­te­nen Ge­dich­te stel­len tat­säch­lich die Es­senz von et­was dar: ei­ner Viel­zahl von Tex­ten, die nicht der Re­de wert sind; ei­nes un­ter­grün­di­gen Werks oder zu­neh­men­den Schwei­gens. Ich emp­fin­de es fast als Ver­rat, wenn ich das in der Al­ten Schmie­de vor­ge­tra­ge­ne Ge­dicht hier auf deutsch wie­der­ge­be. Lei­der bin ich nicht im­stan­de, das ita­lie­ni­sche Ori­gi­nal treu zu er­in­nern und wie­der­zu­ge­ben, doch die Über­set­zung ha­be ich zu Hau­se, als ich noch ein Zu­hau­se be­saß, oft und oft ge­le­sen, sie ist mir Buch­sta­be für Buch­sta­be im Ge­dächt­nis ge­blie­ben. Ich ge­be sie hier wie­der, weil ich – oh­ne je­de Iro­nie – der An­sicht bin, daß die­ses Ge­dicht ein ver­säum­tes Dich­ter­le­ben recht­fer­tigt:

    fo­re­ver young

    für im­mer ruhst du nun
    mein al­l­ermü­des herz
    die letz­te täu­schung schwand
    mir, der mich ewig wähn­te
    doch un­ter­ge­he, un­ter­ging
    und spür noch den be­trug
    in un­sern fah­len sin­nen
    nicht wunsch ist tot, doch lust
    und ewig ru­he jetzt
    ge­nug ge­schla­gen
    mich und, und für nichts
    ist wür­dig auch die er­de nicht
    der bit­ter­keit und lan­gen wei­le
    quillt nun nur schlamm
    sei ru­hig jetzt
    ver­zweif­le noch ein letz­tes mal
    an un­serm schick­sal
    das nur tod schenkt
    ver­ach­te jetzt, und end­lich
    ver­ach­tet der na­tur
    gro­tes­ke macht
    die all­hier wal­ten­de
    end­lo­se nich­tig­keit des en­des

Was ich hier wie­der­ge­ge­ben ha­be, ist An­drás’ ei­ge­ne Über­set­zung sei­nes Ge­dichts oder kommt ihr zu­min­dest na­he; mög­lich, daß ich selbst ei­ni­ges ab­ge­än­dert, Lücken er­gänzt ha­be. Das al­les lie­ße sich nach­prü­fen, in­dem mich ich mir ein Ex­em­plar des Buchs be­sor­ge und die Druck­fas­sung mit dem Out­put mei­nes Ge­dächt­nis­ses ver­glei­che, aber es drängt mich ge­nau­so­we­nig da­nach, wie dies bei der Par­al­lel­ak­ti­on – der Zeit­schrift, mei­ne ich – der Fall ist. Im In­ter­net ha­be ich lust­los ei­ni­ge Ka­ta­lo­ge hie­si­ger Bi­blio­the­ken durch­stöbert, oh­ne Er­geb­nis. Wahr­schein­lich müß­te ich nach Ita­li­en rei­sen, aber selbst dort wä­re es schwie­rig, ein Ex­em­plar des in win­zi­ger Auf­la­ge an ei­nem ent­le­ge­nen Ort ver­öf­fent­lich­ten und zwei­fel­los längst ver­grif­fe­nen Buchs auf­zu­trei­ben. Hin­zu kommt, daß ich mich, wie er­wähnt, von je­der Bi­blio­phi­lie be­freit ha­be. Wich­tig ist mir, was in den Bü­chern steht, aber nicht, wie sie aus­se­hen oder sich an­füh­len. Wich­tig ist, was in un­se­ren Köp­fen ge­schieht: was wir dar­in be­hal­ten, um­schich­ten, tun.

Und die Wirk­lich­keit, das heißt, die Par­al­lel­ak­teu­re, was ist aus ihr, aus ih­nen ge­wor­den? Mi­cha­el ali­as Mi­chel­an­ge­lo, dem ich die letz­ten Nach­rich­ten über un­se­ren Haupt­ak­teur ver­dan­ke, ist heu­te Zei­chen­leh­rer an ei­nem Gym­na­si­um. Er malt, wie er mir bei un­se­rer Be­geg­nung auf der Stra­ße ge­stand, »flei­ßig wei­ter«, zeigt sei­ne Bil­der aber nur spo­ra­disch auf Sam­mel­aus­stel­lun­gen. Ju­dith, die we­gen ei­ner kör­per­li­chen Be­ein­träch­ti­gung kei­ne Kin­der be­kom­men kann, ar­bei­tet als Kin­der­psy­cho­lo­gin und lebt mit ei­nem Arzt zu­sammen, der ne­ben­her in ei­nem »fast pro­fes­sio­nel­len Or­che­ster« (so Mi­cha­el) Kla­ri­net­te (!) spielt. Ajax, ih­ren Hund, hat­te Ju­dith ein­schlä­fern las­sen, kurz be­vor ich die Stadt un­se­rer Hoff­nun­gen ver­ließ. In­ner­ho­fers Ge­schich­te ist be­kannt, man kann sie in sei­nen lie­fer­ba­ren Bü­chern nach­le­sen; von sei­nem En­de ha­be ich an an­de­rer Stel­le er­zählt.


© Leo­pold Fe­der­mair