Paul Gins­borg: Wie De­mo­kra­tie le­ben

Paul Ginsborg: Wie Demokratie leben
Paul Gins­borg: Wie De­mo­kra­tie le­ben
Aus­ge­hend von ei­nem fik­ti­ven Tref­fen zwi­schen John Stuart Mill und Karl Marx, den bei­den ver­mut­lich wich­tig­sten po­li­ti­schen Den­kern der vik­to­ria­ni­schen Ära, ent­wirft Paul Gins­borg zu Be­ginn sei­nes Bu­ches »Wie De­mo­kra­tie le­ben« ei­ne kur­ze Kul­tur­ge­schich­te di­ver­ser Strö­mun­gen und Mo­del­le der li­be­ra­len De­mo­kra­tie bis hin­ein ins 21. Jahr­hun­dert. Al­ler­dings sind – und blei­ben in al­len Ka­pi­teln des Bu­ches – Mill und Marx die An­ti­po­den, an de­nen sich der Au­tor teil­wei­se zwang­haft »ab­ar­bei­tet«. Am En­de gibt es dann noch­mals ei­nen fik­ti­ven Dia­log der bei­den, Epo­che: Heu­te auf ei­ner Wol­ke über Eu­ro­pa.

Hier Mill, Ent­wick­ler und Ver­fech­ter des po­li­ti­schen Li­be­ra­lis­mus, der sanf­te, eher »so­zi­al­de­mo­kra­tisch« ar­gu­men­tie­ren­de Re­for­mer – dort Marx, der scho­nungs­lo­se Be­schrei­ber der Ent­frem­dung des Men­schen im Ka­pi­ta­lis­mus, der wil­de Re­vo­lu­tio­när, der es lei­der ver­säumt ha­be, sei­ne »Dik­ta­tur des Pro­le­ta­ri­ats« aus­rei­chend zu de­fi­nie­ren: Ka­pi­tel für Ka­pi­tel re­kur­riert Gins­borg im­mer wie­der auf die The­sen die­ser bei­den Ge­lehr­ten und das an­fäng­li­che In­ter­es­se der Aus­ar­bei­tung der Dif­fe­ren­zen weicht ir­gend­wann ei­nem Un­mut, da stän­dig auf­ge­zeigt wird, wel­che zwar für da­ma­li­ge Zei­ten bahn­bre­chen­de Ideen bei­de ent­wickel­ten, die­se je­doch aus heu­ti­ger Sicht gro­sse Schwä­chen auf­wei­sen. Aber dass aus pro­gram­ma­ti­schen Schrif­ten von vor mehr als 150 Jah­ren vie­les nicht mehr in un­se­re Ge­sell­schaft »passt« und dem da­ma­li­gen Zeit­geist ge­schul­det sein muss – ist das nicht ei­ne all­zu tri­via­le Er­kennt­nis, um sie in die­ser Aus­führ­lich­keit aus­zu­brei­ten?

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De­mut und Wut

Preis­ver­ga­be. Und ei­ni­ge un­we­sent­li­che Be­mer­kun­gen.

Hart­näckig wei­ger­te sich der neue Ju­ry­vor­sit­zen­de Burk­hard Spin­nen ein Pau­schal­ur­teil über den ak­tu­el­len »Jahr­gang« beim Bach­mann­preis 2008 ab­zu­ge­ben. Das kön­ne man nicht, so Spin­nen, wenn über­haupt müs­se man zehn, fünf­zehn Jah­re ab­war­ten; es sei­en ja schliess­lich kei­ne Wein­jahr­gän­ge.

Spin­nen stiehlt sich da aus ei­nem Ur­teil her­aus. Das über­rascht nur vor­der­grün­dig. Wür­de er zu­ge­ben, dass das Ni­veau schwach war, kri­ti­siert er auch im­pli­zit die Ju­ro­ren und auch sich sel­ber. Die Ju­ry aber – die­sen Ein­druck be­kam man sehr schnell – ist ziem­lich kri­tik­re­si­stent.

Hin­ter der jo­via­len Fas­sa­de des Mo­de­ra­tors Die­ter Moor (der mit sei­ner zwang­haf­ten Ge­sprächs­füh­rungs­rhe­to­rik nicht nur stör­te, son­dern auch ge­le­gent­lich in un­zu­läs­si­ger Wei­se in den Wett­be­werb ein­griff) schlum­mer­ten die längst aus­ge­tüf­tel­ten Be­wer­tungs­fall­bei­le bei­spiels­wei­se des Wich­tig­tu­ers Ijo­ma Man­gold, der teil­wei­se voll­kom­men ver­wirr­ten (und text­un­si­che­ren) Ur­su­la März und ei­nes fast zwang­haft den Clown ge­ben­den Klaus Nüch­tern.

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»Vo­ted No. Not en­ough in­for­ma­ti­on.« – Ir­lands Ab­sa­ge an den Lis­sa­bon-Ver­trag

In sei­nem Buch »De­mo­kra­tie – Zu­mu­tun­gen und Ver­spre­chen« (Zi­ta­te hier­aus kur­siv) stellt Chri­stoph Möl­lers drei De­fi­zi­te des EU-Mi­ni­ster­rats her­aus, die man durch­aus als re­prä­sen­ta­tiv für die EU ins­ge­samt auf­füh­ren könn­te:

  • Kein eu­ro­päi­sches Ge­mein­wohl
    Die Ver­tre­ter der Staa­ten ver­tre­ten die In­ter­es­sen ih­res Staa­tes, nicht der EU im Gan­zen.
  • Kei­ne Öf­fent­lich­keit
    Der Mi­ni­ster­rat ent­schei­det im Er­geb­nis wie ein Ge­setz­ge­ber, doch oh­ne je­de Öf­fent­lich­keit sei­ner Dis­kus­sio­nen. Die Rech­te des eu­ro­päi­schen Par­la­ments sind höchst un­ter­ent­wickelt aus­ge­prägt; sie di­ver­gie­ren je nach Po­li­tik­feld. Das ist wahr­lich ein vor­de­mo­kra­ti­sches Prin­zip.
  • Kein nach­voll­zieh­ba­rer Aus­gleich zwi­schen Sach­in­ter­es­sen
    Die ein­zel­nen Res­sorts re­geln vor sich hin; der Mi­ni­ster­rat be­steht aus vie­len Ein­zel­mi­ni­ster­rä­ten, die oft ge­nug ge­gen­ein­an­der statt mit­ein­an­der ar­bei­ten.

Ins­ge­samt kann das po­li­ti­sche Ent­schei­dungs­sy­stem der EU nicht nur als au­sser­or­dent­lich kom­pli­ziert, son­dern auch als ziem­lich in­trans­pa­rent be­zeich­net wer­den. Al­lei­ne die verwirr­enden Be­zeich­nun­gen für die ein­zel­nen Gre­mi­en ist nicht un­be­dingt an­ge­tan, Klar­heit zu schaf­fen: EU-Rat – EU-Mi­ni­ster­rat – Eu­ro­päi­scher Rat – Eu­ro­pa­rat – na, wis­sen Sie auf An­hieb, wel­cher Be­griff für was steht? Hier ein Ver­such ei­ner Klä­rung – mit Ani­ma­ti­on.)

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Chri­stoph Möl­lers: De­mo­kra­tie – Zu­mu­tun­gen und Ver­spre­chen

Christoph Möllers: Demokratie - Zumutungen und Versprechen
Chri­stoph Möl­lers: De­mo­kra­tie – Zu­mu­tun­gen und Ver­spre­chen

Wohl kaum ein Be­griff wird im po­li­ti­schen Dis­kurs in­zwischen der­art stra­pa­ziert und in­stru­men­ta­li­siert wie der der De­mo­kra­tie. Da­bei scheint fast je­der ei­ne an­de­re Vor­stellung da­von zu ha­ben, was De­mo­kra­tie ei­gent­lich be­deutet. Ist es ei­ne Art Volks­herr­schaft, in der die Bür­ger ple­biszitär über al­le wich­ti­gen Be­lan­ge di­rekt ent­schei­den? Oder wird die Volks­herr­schaft bes­ser an­hand von Institut­ionen auf ei­ner re­prä­sen­ta­ti­ven Ebe­ne (Par­la­men­te) in­di­rekt vor­ge­nom­men?

Ei­ni­gen er­scheint die De­mo­kra­tie so­gar als ein Export­produkt, wel­ches mög­lichst schnell al­len Men­schen Glück und Wohl­stand brin­gen soll. An­de­rer­seits pla­gen skep­ti­sche Zeit­ge­nos­sen Zwei­fel, ob und wie sie im Zeit­al­ter (soge­nannter) öko­no­mi­scher und po­li­ti­scher Glo­ba­li­sie­rung über­haupt noch funk­tio­nie­ren kann und nicht durch in­ter­national agie­ren­de Un­ter­neh­men und/oder Or­ga­ni­sa­tio­nen un­ter­höhlt und zum Sub-Sy­stem des Ka­pi­ta­lis­mus de­gra­diert wird.

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Ul­la Ber­ké­wicz: Üb­er­leb­nis

Ulla Berkéwicz: Überlebnis
Ul­la Ber­ké­wicz: Üb­er­leb­nis

Die ein­zi­ge Angst, die ich jetzt noch ha­be, ist die, zu ver­ges­sen. So be­ginnt die­ses Buch. Jen­seits des Ver­ges­sens ist die Zeit­lo­sig­keit. Und jen­seits der Zeit die Ewig­keit. Aber schon im Er­in­nern, dem Ver­such, nicht zu ver­ges­sen, steckt die Ge­fahr der Ver­schol­len­heit: Ist die Er­in­ne­rung ent­rückt, in den Ge­dächt­nis­kam­mern ein­ge­schlos­sen? Die Er­in­ne­rung an den un­wirk­lich­sten Som­mer zwei­tau­send­zwei. Und der »Preis« für die Er­in­ne­rung: Geht der [Som­mer] im­mer und nie vor­bei?

Trost­lo­sig­keit – Ver­ges­sen ist ein mat­ter, halt­lo­ser Land­strich, der zu nichts führt – und Hoff­nung, dass hin­ter je­nem Land­strich noch ein zwei­ter läuft, wie al­les noch ein Zwei­tes hat, viel­leicht so­gar sein Drit­tes, Vier­tes. Ein and­rer Land­strich in ei­nem and­ren Land, wo das Ver­ges­sen sich sam­melt, kon­zen­triert, be­sinnt.

Ul­la Ber­ké­wicz um­kreist das Ver­ges­sen in die­sem Buch – und na­tür­lich nicht nur das. Es geht ums Ster­ben und den Tod (und da­mit um das Le­ben) und es geht – de­zent und dis­kret – um Lie­be. Aber es ist mehr als ein Lebens‑, Liebes‑, To­des- oder To­ten­buch, mehr als som­nam­bu­le (und dann doch ge­le­gent­lich af­fek­tier­te) Li­ta­nei ei­ner Wit­we, mehr als me­ta­phy­si­sche (Selbst-)Tröstung, mehr als ei­ne Kri­tik an den Ver­hält­nis­sen un­se­rer Kran­ken­häu­ser, mehr als ex­pres­sio­ni­stisch-as­so­zia­ti­ve Kla­ge­re­de (mit Spucke auf ei­nem Stein statt lu­the­ri­schem Tin­ten- oder can­ter­vill­schem Blut­fleck). Ja, es ist al­les das. Und eben mehr. Viel mehr.

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Wal­ter van Ros­sum: Die Ta­ges­show

Walter van Rossum: Die Tagesshow
Wal­ter van Ros­sum: Die Ta­ges­show

Wer ein Buch mit dem Un­ter­ti­tel Wie man in 15 Mi­nu­ten die Welt un­be­greif­lich macht schreibt, soll­te min­de­stens in der La­ge sein, die­se Be­haup­tung ar­gu­men­ta­tiv zu be­le­gen. Oder meint der Au­tor – was auch zi­tiert wird -, dass die Nach­rich­ten­sen­dun­gen für den »nor­ma­len Zu­schau­er« schlicht­weg nicht mehr zu ver­ste­hen sind? Wenn ja: Was hat das dann mit der Sen­de­dau­er zu tun? Hat es viel­leicht et­was mit der in den Sen­dun­gen ver­wand­ten Spra­che zu tun (viel­leicht zu vie­le Fremd­wör­ter?) oder mit der Rezeptions­fähigkeit des Pu­bli­kums? Fra­gen über Fra­gen.

Wal­ter van Ros­sum macht zu­nächst neu­gie­rig. Aber manch­mal ist das so ei­ne Sa­che mit dem An­spruch und der Wirk­lich­keit. Früh merkt der Le­ser: Da hat ei­gent­lich je­mand über­haupt kein In­ter­es­se an ei­ner auch nur halb­wegs se­riö­sen me­di­en­kri­ti­schen Ana­ly­se der Nach­rich­ten­sen­dun­gen, spe­zi­ell und über­wie­gend der »Ta­ges­schau« und den »Ta­ges­the­men«. Statt­des­sen ge­fällt sich der Au­tor in der Po­se des All­wis­sen­den, der dem Re­dak­ti­ons­team von »ARD-ak­tu­ell« mal so rich­tig die Mei­nung sagt. Das ge­schieht in ei­ner Mi­schung zwi­schen Über­le­gen­heits­ge­stus ei­nes Mi­cha­el Moo­re-Adep­ten und der Wut ei­nes ab­ge­blitz­ten Tanz­stun­den-Ver­eh­rers.

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Mit Scheu­klap­pen

Der er­ste Ap­pe­tit scheint ge­stillt. Die Po­stil­len wen­den sich vor­über­ge­hend wie­der an­de­ren The­men zu. Min­de­stens ei­ne ent­blö­de­te sich nicht vom »In­zest-Mon­ster« zu spre­chen. Aus­ge­rech­net sie, die ei­nen gan­zen Schwarm von Lü­gen­mon­stern be­schäf­ti­gen, mit ih­rem Men­tor Kai Diek­mann. Ich spre­che von Deutsch­land; das öster­rei­chi­sche Me­di­en­ge­wit­ter ha­be ich nicht mit­be­kom­men. Viel­leicht ist das gut so.

Ich stel­le die The­se auf: Sie ha­ben Jo­sef F. ge­braucht. Nein: Sie brau­chen ihn. Im­mer noch. Sie ver­zeh­ren sich nach ihm. Wenn es ihn nicht gä­be – so ver­rückt und lüg­ne­risch kön­nen sie gar nicht sein, ihn zu er­fin­den. Sie freu­en sich, dass je­mand ein noch schlim­me­rer Mensch ist, als ih­re Phan­ta­sie es hät­te er­fin­den kön­nen. Sie suh­len sich im Elend sei­ner Op­fer. Sie wei­den sich an ih­nen und ver­brä­men dies mit ei­nem schmie­ri­gen Be­trof­fen­heits­thea­ter.

Ein öster­rei­chi­sches Ge­richt be­ging ei­nen Lap­sus. Es nann­te Jo­sef F.s Frau in ei­nem öf­fent­li­chen Do­ku­ment nicht Ro­se­ma­rie, son­dern »Ma­ria«. Welch’ ein Witz: Jo­sef und Ma­ria in Am­stet­ten. Ihr Kind hat nun ge­lit­ten. Es hat für uns ge­lit­ten. Für un­se­re Sen­sa­ti­ons­gier. Zu un­se­rem Plai­sir. »Thrill« nennt man das im Eng­li­schen. Und jetzt müs­sen sie al­le noch ein­mal lei­den. Mit dem At­tri­but­ge­wit­ter der üb­li­chen Ver­däch­ti­gen.

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Xa­ver Bay­er: Heu­te könn­te ein glück­li­cher Tag sein / Die Alas­ka­stra­ße

Xaver Bayer: Heute könnte ein glücklicher Tag sein
Xa­ver Bay­er: Heu­te könn­te ein glück­li­cher Tag sein
Der Ich-Er­zäh­ler in »Heu­te könn­te ein glück­li­cher Tag sein« bleibt na­men­los. Er ist Stu­dent, wohnt in Wien (was ist de­pri­mie­ren­der als Wien?), aber man er­fährt nicht, was er stu­diert. Da ziem­lich viel von Li­te­ra­tur die Re­de ist und ei­ne me­lan­cho­li­sche Fas­zi­na­ti­on für das Bild des to­ten Ro­bert Wal­ser im Schnee be­steht, ver­mu­tet man ir­gend­wann, dass es Li­te­ra­tur oder Ger­ma­ni­stik ist. Die Vor­le­sun­gen be­sucht er so gut wie nie. Sein Lern­plan ist chao­tisch; selbst­ge­steck­te Zie­le hält er nicht ein. Trotz­dem macht der die »Schei­ne« und ist ir­gend­wann fer­tig. Er be­ginnt sei­ne Di­plom­ar­beit, die je­doch von sei­nem »Be­treu­er« als es­say­istisch und nicht wis­sen­schaft­lich ge­nug ab­ge­lehnt wird. Wie es dann wei­ter­geht, bleibt un­aus­ge­spro­chen.

Zwar nimmt er spo­ra­disch mo­nats­wei­se Jobs an, aber die öko­no­mi­sche Ver­sor­gung ist ne­bu­lös. Er geht sehr oft aus, kon­su­miert Al­ko­hol und Dro­gen in be­trächt­li­chem Aus­mass; un­ter­hält ein Au­to und reist ge­le­gent­lich. Es bleibt un­klar, wie er die­sen Le­bens­wan­del fi­nan­ziert.

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