
Paul Ginsborg: Wie Demokratie leben
Hier Mill, Entwickler und Verfechter des politischen Liberalismus, der sanfte, eher »sozialdemokratisch« argumentierende Reformer – dort Marx, der schonungslose Beschreiber der Entfremdung des Menschen im Kapitalismus, der wilde Revolutionär, der es leider versäumt habe, seine »Diktatur des Proletariats« ausreichend zu definieren: Kapitel für Kapitel rekurriert Ginsborg immer wieder auf die Thesen dieser beiden Gelehrten und das anfängliche Interesse der Ausarbeitung der Differenzen weicht irgendwann einem Unmut, da ständig aufgezeigt wird, welche zwar für damalige Zeiten bahnbrechende Ideen beide entwickelten, diese jedoch aus heutiger Sicht grosse Schwächen aufweisen. Aber dass aus programmatischen Schriften von vor mehr als 150 Jahren vieles nicht mehr in unsere Gesellschaft »passt« und dem damaligen Zeitgeist geschuldet sein muss – ist das nicht eine allzu triviale Erkenntnis, um sie in dieser Ausführlichkeit auszubreiten? Details dieser Art – einerseits die »Jugendsünden« des Liberalismus kulmulierend unter anderem in fünf Gründe[n] für den Ausschluss vom Wahlrecht, andererseits das Egalitäre der Marx-Doktrin – mögen vielleicht für Experten von Belang sein, aber zum versprochenen »Modell der teilnehmenden Demokratie«, welches in diesem Buch entwickelt werden soll, tragen sie nichts bei.
120 von 192
Die Minimalanforderungen an eine Demokratie beschreibt Ginsborg in einer Fussnote: Die moderne repräsentative Demokratie lässt sich…am besten als eine Staatsform definieren, die a) eine gewählte repräsentative Regierung besitzt, die b) von der gesamten erwachsenen Bevölkerung gewählt wird, deren Stimmen in c) regelmässigen Abständen, geheim und gleich eingeholt werden und die d) in ihrer Meinungsfreiheit keinerlei Einschränkungen oder Einschüchterungen…ausgesetzt sein darf. Die Zahl der nach diesen Kriterien demokratischen Länder auf der Welt betrug 1926 29, 1942 nur noch 12, 1988 66 (von insgesamt 177 Mitgliedsstaaten der UN) und 2000 120 (von 192). Ginsborg moniert nun, dass der Raum, der in diesen Demokratien theoretisch und praktisch der direkten Regierungsbeteiligung eingeräumt wird, minimal blieb. Die Demokratien blieben in jeder Hinsicht rein repräsentativ. Die Regierung und die Entscheidungsprozesse lagen in der Hand ihrer Vertreter, so Ginsborgs raunende Diagnose.
Abgesehen davon, dass derartige Aussagen eine Konvergenz der existierenden demokratischen Systeme impliziert, die gar nicht existiert, versäumt es der Autor merkwürdigerweise, dezidiert auf das passive Wahlrecht hinzuweisen – ein wesentlicher Faktor einer modernen Demokratie. Warum reduziert er die Möglichkeiten des Bürgers auf das aktive Wahlrecht, das Stimmrecht? Auch im weiteren Verlauf des Buches suggeriert Ginsborg durchgängig, dass die Mandatsträger in repräsentativen Demokratien eine Art Verschwörungskaste bilden, denen der Bürger praktisch hilflos ausgeliefert sei. Damit bedient er letztlich offen demokratiefeindliche Affekte. Zwar mag die Komplexität und die damit häufig verbundene Institutionalisierung und Bürokratisierung von Politik viele Bürger abschrecken und den Eindruck der Vergeblichkeit und des Verdrusses verstärken (und im ein oder anderen Fall durchaus rechtfertigen), aber Ginsborg wendet auch hier eine für einen Intellektuellen seiner Güte unzulässige Verallgemeinerungstechnik an, die zwar für ein populärwissenschaftliches Buch in bestimmten Grenzen notwendig ist, aber nicht auf einem derart schlichten Niveau.
Stimmt es denn, dass sich im Augenblick ihres globalen Siegeszuges….viele der grundlegenden Elemente der liberalen Demokratie als ungenügend und ebenso viele ihrer besonders gerühmten Vorzüge als inexistent erwiesen? Die Symptome, die Ginsborg zu dem Urteil kommen lassen, es gebe die Abneigung gegen die Demokratie in deren Hochburgen, ausgerechnet nach 1989, als die liberale Demokratie auf ganzer Linie über ihren Gegner, der längst für niemanden mehr attraktiv war reüssierte: Rückgang der Wahlbeteiligung…Mitgliederverlust der Parteien und – eine Behauptung – sinkendes Vertrauen in die Institutionen und die politische Klasse im allgemeinen.
Als Beispiel wird Schweden angeführt. Dort waren 1968 60% die Meinung, dass sich die politischen Parteien für die Meinung der Wähler, nicht nur für ihre Stimmen interessieren, 1994 wäre dieser Prozentsatz auf 25% gesunken. Abgesehen davon, dass die Aussage zum Interesse der Wählerstimme bei den Parteien nicht automatisch auf eine Skepsis der Demokratie gegenüber rückschliessen lässt, erwähnt Ginsborg weder, unter welchen Voraussetzungen diese Erhebungen stattgefunden haben, noch berücksichtigt er, dass die ökonomischen und sozialen Verhältnisse wesentliche Faktoren für Politikmüdigkeit bzw. –mobilisierung darstellen. So kämpfte Schweden zu Beginn der 90er Jahre mit einer schweren Wirtschaftskrise und stellte den vielgerühmten »Sozialstaat« um, was zu Verwerfungen führte, die sich dann in einem solchen Umfrageergebnis widerspiegeln. Dies mit den Zahlen von 1968 zu vergleichen, als eine allgemeine Politisierung in den westlichen Gesellschaften stattfand, ist ohne entsprechenden Hinweis verzerrend. Und es gibt übrigens durchaus andere Studien, die das politische Interesse in der Bevölkerung sukzessive ansteigend zeigen (wie beispielsweise in Österreich – PDF; Seite 151).
Und natürlich muss auch noch der Neoliberalismus für die unterstellte Demokratieverdrossenheit herhalten (den Begriff »Neoliberalismus« definiert Ginsborg nicht; er verwendet ihn als reine Phrase), garniert mit einer Prise Unterwerfung unter dem Massenkonsum, der die Bürger von der politischen Teilhabe ablenkt und einlullt und – nicht zu vergessen – einer Dämonisierung des Fernsehens. Womit dann alle gängigen kulturkritischen Klischees aufgefahren wären. Abermals fragt man sich, ob nicht ein bisschen mehr argumentative Sorgfalt notwendig gewesen wäre, statt solchen Gemeinplätzen derart formelhaft nachzugeben.
System der Verknüpfungen
In der Mitte des Buches sagt Ginsborg dann doch noch ein bisschen was dazu, wie nun sein Modell der teilnehmenden Demokratie, die im Buch deliberative Demokratie heisst, aussehen soll. Er plädiert dafür – Marx’ Diktion ähnlich -, die Individuen wenigstens für einen kleinen, aber wichtigen Augenblick aus der völligen Privatisierung ihres Lebens herauszureissen, immer weitere Kreise von Bürgern mit unterschiedlichen politischen Überzeugungen zu bilden, damit diese dann mit den Politikern auf der Grundlage von Gleichheit und gegenseitigem Respekt in Dialog treten.
Erreicht werden soll dies mit einem »System der Verknüpfungen«. Kernpunkt in seinem (kommunitaristisch angehauchtem) Denken ist die Familie, die in den modernen kapitalistischen Gesellschaften eine wichtigere und zentralere Rolle spielt als die Fabrik. Die Familie muss allerdings durch feste Netze von autonomen Vereinigungen mit der Zivilgesellschaft verknüft werden.
Und plötzlich kommt der Bürger ins Spiel: In allen drei Bereichen – in der Familie, in der Zivilgesellschaft und dem demokratischen Staat – spielen aktive und kritische Bürger eine überaus wichtige verbindende Rolle. Weiter heisst es: Sie – die Bürger – müssen die Familien aus ihrer Passivität aufrütteln, klug und diszipliniert die Zivilgesellschaft aufbauen und aktiv in der Politik mitarbeiten, ohne die demokratischen Institutionen nur als Vehikel zur Verfolgung persönlicher Ambitionen…zu missbrauchen. Die Zivilgesellschaft dann soll für die Aufteilung statt für die Konzentration von Macht sorgen, soll friedliche Mittel anstelle von Gewalt aufzeigen, die Gleichstellung der Geschlechter und soziale Gerechtigkeit fördern, horizontale statt vertikale Solidarität gewährleisten, Debatten und eigenständige Meinungen an die Stelle von Konformismus und Gehorsam setzen.
Schöne Worte für das Poesiealbum von Sonntagsrednern. Bis man merkt, dass da eine merkwürdige Kastengesellschaft mit einem fast vordemokratisches Verständnis gezimmert wird: Familie – Bürger – Zivilgesellschaft – Staat. Wo werden die Grenzen gezogen? Ist nicht etwa ein Bürger auch immer Bestandteil der Zivilgesellschaft und zwar unabhängig von dem politischen Mobilisierungsgrad? Welche Gegensätze zwischen Staat und Zivilgesellschaft werden da künstlich konstruiert, die in der Praxis weder durchzuhalten geschweige denn erstrebenswert sind? Ist es möglich, die einzelnen Individuen parallel in getrennten »Funktionen« wahrzunehmen?
Aber man lasse sich durchaus einmal auf dieses System einer abgestuften Gesellschaft ein: Wie soll dies technisch »funktionieren«?
Ginsborgs Antwort erschöpft sich in Varianten der athenischen agorà, der Versammlung der Bürger auf dem Marktplatz. Es sind Modelle lokaler Selbstverwaltung wie die amerikanische ‘Citizens’ Jury’ und das ‘Town Meeting’. Während in der Citizens’ Jury hauptsächlich Themen eines Mikrokosmos einer bestimmten Gemeinde verhandelt und diskutiert werden, handelt es sich beim Town Meeting um ein zahlenmässig ehrgeizigeres Verlangen, zu dem Hunderte oder gar Tausende Bürger zusammentreffen und über ein oder mehrere Themen einer Stadt diskutieren und abstimmen. Unterschiede gibt es über die Art und Weise der Zusammensetzung und Rekrutierung der jeweiligen Versammlungen, d. h. wie oft und zu welchen Themen eine Versammlung stattfinden und ob die Mitglieder benannt werden oder jeder uneingeschränkten Zugang hat, ob sie einer Rotation unterworfen sind, usw.
Auch wenn Ginsborg gelegentlich einen gewissen Sozialromantizismus pflegt (Die Teilnahme von Menschen mit niedrigem Einkommen und niedrigem Bildungsniveau erweist sich als besonders wertvoll.), benennt er doch die Probleme, die sich in der Praxis ergeben: Das Fehlen von (Teilnehmer-)Kontinuität, die profane Frage der Kosten für die Versammlungen (letztlich dürfte so etwas aber keine Rolle spielen) und die Tatsache, dass bei den zumeist in grösserer Zahl beispielsweise in den angelsächsischen Ländern abgehaltenen Versammlungen dieser Art Beschlüsse lediglich die Form nicht bindender Empfehlungen haben. Das hat offensichtlich damit zu tun, dass Citizens’ Jury oder Town Meeting keine institutionelle Verankerung in den jeweiligen (kommunal-)politischen Strukturen besitzen und somit letztlich nur beratende Funktion haben. Das Hauptproblem: Die Quantität der Teilnahme durch die Bürger an solchen Veranstaltungen bleibt stets weit hinter der üblicher Verfahren zurück, die immer noch mehr als die Hälfte der Bevölkerung in einen formalen, geheimen Wahlprozess einbezieht. Abermals stellt sich also die Legitimationsfrage.
Rätedemokratie oder Bürgerhaushalt
Ginsborgs Feststellung, dass diese Formen der Bürgerbeteiligungen…nur geringfügig zu[r] Schaffung immer weiter Kreise kritischer, informierter und engagierter Bürger beitragen, suggeriert, das andere Lösungen gefunden werden müssen. Leider versäumt er es vollständig zu erläutern, wie er die Beteiligung quantitativ (und auch qualitativ?) besser und umfassender organisieren möchte und gleichzeitig institutionell verankern will. Oder soll der kleine Exkurs am Beginn des Buches über die Rätedemokratie ein Wink mit dem Zaunpfahl sein? Falls ja, warum illustriert er das nicht?
Es folgt ein kurzer Abriss dessen, was partizipativer Haushalt oder auch »Bürgerhaushalt« heisst und (beispielsweise) über einen Zeitraum von fünfzehn Jahren in der brasilianischen Hafenstadt Porto Alegre entwickelt und praktiziert wurde (und durchaus Modellcharakter hat). Hier war mindestens teilweise so etwas wie eine Kultur der Partizipation entstanden, wie sie Ginsborg vorschwebt. Mit Unterstützung der brasilianischen Arbeiterpartei wurde bei der Kontrolle über einen Teil des städtischen Haushalts und über die gerechte Verteilung der geringen zur Verfügung stehenden Ressourcen entschieden. Zunächst werden auf unterster Ebene im ganzen Stadtgebiet vorbereitende Versammlungen einberufen. Dann werden die anstehenden Fragen auf gesamtstädtischen Versammlungen…diskutiert…und die achtundvierzig Delegierten für den OP-Rat (COP) zu wählen. Dieses Organ verbindet die partizipativen und repräsentativen Elemente des Modells…und legt die Prioritäten für die Ausgabenverteilung des städtischen Haushalts im folgenden Jahr fest.
Einige Monate später tritt dann der COP zusammen. Verwaltungsfachleute, Dezernenten und gewählte Delegierte legen gemeinsam das Wirtschaftsprogramm fest. Als letzter Akt…wird am Jahresende der Beteiligungshaushalt vom Stadtrat und Bürgermeister angenommen. Details über Verfahren und Prozesse – es handelt sich offensichtlich um eine vielschichtige Prozedur – erfahren wir nicht. Wie entstehen Mehrheiten? Oder ist Einstimmigkeit gefordert?
Und was bedeutet es, dass der ganze Prozess…begleitet und unterstützt wird von den einundzwanzig Mitgliedern des Koordinationskomitees für die Beziehungen der Bürgerschaft zur Gemeinde? Warum hat sich Ginsborg, wie er ausdrücklich angibt, auf eine knappe Zusammenfassung beschränkt? Warum illustriert der Autor nicht wenigstens exemplarisch detailliert die Abläufe und institutionellem Strukturen? Warum gibt es hierzu im entsprechenden Wikipedia-Artikel weitaus mehr Informationen? Über die Gründe, warum man in Porto Alegre von diesem Modell offensichtlich wieder abgewichen ist, erfahren wir auch nicht genug.
Und wenn Ginsborg Benjamin Constants These (von 1819) zurückweist, dass direkte Demokratien nur in kleinen Gemeinden praktikabel und in den komplexen modernen Gesellschaften und in grösserem Rahmen …nur eine repräsentative Regierung möglich seien – warum nicht wenigstens ein kursorischer Gegenentwurf statt sich in blumiger Rhetorik über
Wirtschaftsdemokratie auszulassen, deren Prämissen deutlich an Marxsche Enteignungsmodelle erinnern und in einem Kapitel über Demokratie und Gender die Frauenquote (politisch-korrekt) zu goutieren? Und warum das Subsidiaritätsprinzip der Europäischen Union als zu zentralistisch ablehnen, ohne wenigstens eine Alternative zu anzudenken, die mehr als nur aus dem Wort kosmopolitisch besteht?
Nein, ideologische Schlagworte und schön formulierte Sprüchlein von paradiesischen demokratischen Wunschzuständen – das reicht nicht, zumal man anderes versprach. Derart alleingelassen mit der Frage, wie sie denn nun aussehen könnte, diese partizipative Demokratie, welche die Qualität der Repräsentation gewährleistet, stimuliert und kontrolliert, beschleicht den Leser das Gefühl, dass da jemand nur einmal seinen Groll loswerden wollte, ohne sich wenigstens ein bisschen die Mühe zu machen, diesen fruchtbar werden zu lassen.
Die kursiv gedruckten Passagen sind aus dem besprochenen Buch.
Deliberative Demokratie kenne ich als feststehenden Begriff nur von Jürgen Habermas. Dessen demokratietheoretischer Entwurf ist aber scheinbar etwas stringenter ausgebaut. Es geht dabei um die Ergänzung des bestehenden demokratischen Prozesses um deliberative Elemente, an denen alle Bürger gleichberechtigt teilhaben können/sollen.
Falls sie sich mehr für Politische Theorie interessieren kann ich ihnen nur zu John Rawls’ »Eine Theorie der Gerechtigkeit« raten. Ihr Urteil würde mich sehr interessiern.
Vielleicht sogar »alter Wein in alten Schläuchen«? Ich bin nicht sicher, ob diese Charakterisierung von mir dann zu hart ist.
Tatsächlich erinnert vieles auch an gewisse diskursethische Prinzipien von Apel und Habermas (ohne diese jemals nur zur erwähnen).
Danke für den Literaturtip. In absehbarer Zeit komme ich vermutlich dazu nicht. Möchten Sie vielleicht eine kleine Skizze vornehmen?