Paul Gins­borg: Wie De­mo­kra­tie le­ben

Paul Ginsborg: Wie Demokratie leben

Paul Gins­borg: Wie De­mo­kra­tie le­ben

Aus­ge­hend von ei­nem fik­ti­ven Tref­fen zwi­schen John Stuart Mill und Karl Marx, den bei­den ver­mut­lich wich­tig­sten po­li­ti­schen Den­kern der vik­to­ria­ni­schen Ära, ent­wirft Paul Gins­borg zu Be­ginn sei­nes Bu­ches »Wie De­mo­kra­tie le­ben« ei­ne kur­ze Kul­tur­ge­schich­te di­ver­ser Strö­mun­gen und Mo­del­le der li­be­ra­len De­mo­kra­tie bis hin­ein ins 21. Jahr­hun­dert. Al­ler­dings sind – und blei­ben in al­len Ka­pi­teln des Bu­ches – Mill und Marx die An­ti­po­den, an de­nen sich der Au­tor teil­wei­se zwang­haft »ab­ar­bei­tet«. Am En­de gibt es dann noch­mals ei­nen fik­ti­ven Dia­log der bei­den, Epo­che: Heu­te auf ei­ner Wol­ke über Eu­ro­pa.

Hier Mill, Ent­wick­ler und Ver­fech­ter des po­li­ti­schen Li­be­ra­lis­mus, der sanf­te, eher »so­zi­al­de­mo­kra­tisch« ar­gu­men­tie­ren­de Re­for­mer – dort Marx, der scho­nungs­lo­se Be­schrei­ber der Ent­frem­dung des Men­schen im Ka­pi­ta­lis­mus, der wil­de Re­vo­lu­tio­när, der es lei­der ver­säumt ha­be, sei­ne »Dik­ta­tur des Pro­le­ta­ri­ats« aus­rei­chend zu de­fi­nie­ren: Ka­pi­tel für Ka­pi­tel re­kur­riert Gins­borg im­mer wie­der auf die The­sen die­ser bei­den Ge­lehr­ten und das an­fäng­li­che In­ter­es­se der Aus­ar­bei­tung der Dif­fe­ren­zen weicht ir­gend­wann ei­nem Un­mut, da stän­dig auf­ge­zeigt wird, wel­che zwar für da­ma­li­ge Zei­ten bahn­bre­chen­de Ideen bei­de ent­wickel­ten, die­se je­doch aus heu­ti­ger Sicht gro­sse Schwä­chen auf­wei­sen. Aber dass aus pro­gram­ma­ti­schen Schrif­ten von vor mehr als 150 Jah­ren vie­les nicht mehr in un­se­re Ge­sell­schaft »passt« und dem da­ma­li­gen Zeit­geist ge­schul­det sein muss – ist das nicht ei­ne all­zu tri­via­le Er­kennt­nis, um sie in die­ser Aus­führ­lich­keit aus­zu­brei­ten? De­tails die­ser Art – ei­ner­seits die »Ju­gend­sün­den« des Li­be­ra­lis­mus kul­mu­lie­rend un­ter an­de­rem in fünf Gründe[n] für den Aus­schluss vom Wahl­recht, an­de­rer­seits das Ega­li­tä­re der Marx-Dok­trin – mö­gen viel­leicht für Ex­per­ten von Be­lang sein, aber zum ver­spro­che­nen »Mo­dell der teil­neh­men­den De­mo­kra­tie«, wel­ches in die­sem Buch ent­wickelt wer­den soll, tra­gen sie nichts bei.

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Die Mi­ni­mal­an­for­de­run­gen an ei­ne De­mo­kra­tie be­schreibt Gins­borg in ei­ner Fuss­no­te: Die mo­der­ne re­prä­sen­ta­ti­ve De­mo­kra­tie lässt sich…am be­sten als ei­ne Staats­form de­fi­nie­ren, die a) ei­ne ge­wähl­te re­prä­sen­ta­ti­ve Re­gie­rung be­sitzt, die b) von der ge­sam­ten er­wach­se­nen Be­völ­ke­rung ge­wählt wird, de­ren Stim­men in c) re­gel­mä­ssi­gen Ab­stän­den, ge­heim und gleich ein­ge­holt wer­den und die d) in ih­rer Mei­nungs­frei­heit kei­ner­lei Ein­schrän­kun­gen oder Einschüchterungen…ausgesetzt sein darf. Die Zahl der nach die­sen Kri­te­ri­en de­mo­kra­ti­schen Län­der auf der Welt be­trug 1926 29, 1942 nur noch 12, 1988 66 (von ins­ge­samt 177 Mit­glieds­staa­ten der UN) und 2000 120 (von 192). Gins­borg mo­niert nun, dass der Raum, der in die­sen De­mo­kra­tien theo­re­tisch und prak­tisch der di­rek­ten Re­gie­rungs­be­tei­li­gung ein­ge­räumt wird, mi­ni­mal blieb. Die De­mo­kra­tien blie­ben in je­der Hin­sicht rein re­prä­sen­ta­tiv. Die Re­gie­rung und die Ent­schei­dungs­pro­zes­se la­gen in der Hand ih­rer Ver­tre­ter, so Gins­borgs rau­nen­de Dia­gno­se.

Ab­ge­se­hen da­von, dass der­ar­ti­ge Aus­sa­gen ei­ne Kon­ver­genz der exi­stie­ren­den de­mo­kra­ti­schen Sy­ste­me im­pli­ziert, die gar nicht exi­stiert, ver­säumt es der Au­tor merk­wür­di­ger­wei­se, de­zi­diert auf das pas­si­ve Wahl­recht hin­zu­wei­sen – ein we­sent­li­cher Fak­tor ei­ner mo­der­nen De­mo­kra­tie. War­um re­du­ziert er die Mög­lich­kei­ten des Bür­gers auf das ak­ti­ve Wahl­recht, das Stimm­recht? Auch im wei­te­ren Ver­lauf des Bu­ches sug­ge­riert Gins­borg durch­gän­gig, dass die Man­dats­trä­ger in re­prä­sen­ta­ti­ven De­mo­kra­tien ei­ne Art Ver­schwö­rungs­ka­ste bil­den, de­nen der Bür­ger prak­tisch hilf­los aus­ge­lie­fert sei. Da­mit be­dient er letzt­lich of­fen de­mo­kra­tie­feind­li­che Af­fek­te. Zwar mag die Kom­ple­xi­tät und die da­mit häu­fig ver­bun­de­ne In­sti­tu­tio­na­li­sie­rung und Bü­ro­kra­ti­sie­rung von Po­li­tik vie­le Bür­ger ab­schrecken und den Ein­druck der Ver­geb­lich­keit und des Ver­drus­ses ver­stär­ken (und im ein oder an­de­ren Fall durch­aus recht­fer­ti­gen), aber Gins­borg wen­det auch hier ei­ne für ei­nen In­tel­lek­tu­el­len sei­ner Gü­te un­zu­läs­si­ge Ver­all­ge­mei­ne­rungs­tech­nik an, die zwar für ein po­pu­lär­wis­sen­schaft­li­ches Buch in be­stimm­ten Gren­zen not­wen­dig ist, aber nicht auf ei­nem der­art schlich­ten Ni­veau.

Stimmt es denn, dass sich im Au­gen­blick ih­res glo­ba­len Siegeszuges….viele der grund­le­gen­den Ele­men­te der li­be­ra­len De­mo­kra­tie als un­ge­nü­gend und eben­so vie­le ih­rer be­son­ders ge­rühm­ten Vor­zü­ge als in­exi­stent er­wie­sen? Die Sym­pto­me, die Gins­borg zu dem Ur­teil kom­men las­sen, es ge­be die Ab­nei­gung ge­gen die De­mo­kra­tie in de­ren Hoch­bur­gen, aus­ge­rech­net nach 1989, als die li­be­ra­le De­mo­kra­tie auf gan­zer Li­nie über ih­ren Geg­ner, der längst für nie­man­den mehr at­trak­tiv war re­üs­sier­te: Rück­gang der Wahlbeteiligung…Mitgliederverlust der Par­tei­en und – ei­ne Be­haup­tung – sin­ken­des Ver­trau­en in die In­sti­tu­tio­nen und die po­li­ti­sche Klas­se im all­ge­mei­nen.

Als Bei­spiel wird Schwe­den an­ge­führt. Dort wa­ren 1968 60% die Mei­nung, dass sich die po­li­ti­schen Par­tei­en für die Mei­nung der Wäh­ler, nicht nur für ih­re Stim­men in­ter­es­sie­ren, 1994 wä­re die­ser Pro­zent­satz auf 25% ge­sun­ken. Ab­ge­se­hen da­von, dass die Aus­sa­ge zum In­ter­es­se der Wäh­ler­stim­me bei den Par­tei­en nicht au­to­ma­tisch auf ei­ne Skep­sis der De­mo­kra­tie ge­gen­über rück­schlie­ssen lässt, er­wähnt Gins­borg we­der, un­ter wel­chen Vor­aus­set­zun­gen die­se Er­he­bun­gen statt­ge­fun­den ha­ben, noch be­rück­sich­tigt er, dass die öko­no­mi­schen und so­zia­len Ver­hält­nis­se we­sent­li­che Fak­to­ren für Po­li­tik­mü­dig­keit bzw. –mo­bi­li­sie­rung dar­stel­len. So kämpf­te Schwe­den zu Be­ginn der 90er Jah­re mit ei­ner schwe­ren Wirt­schafts­kri­se und stell­te den viel­ge­rühm­ten »So­zi­al­staat« um, was zu Ver­wer­fun­gen führ­te, die sich dann in ei­nem sol­chen Um­fra­ge­er­geb­nis wi­der­spie­geln. Dies mit den Zah­len von 1968 zu ver­glei­chen, als ei­ne all­ge­mei­ne Po­li­ti­sie­rung in den west­li­chen Ge­sell­schaf­ten statt­fand, ist oh­ne ent­spre­chen­den Hin­weis ver­zer­rend. Und es gibt üb­ri­gens durch­aus an­de­re Stu­di­en, die das po­li­ti­sche In­ter­es­se in der Be­völ­ke­rung suk­zes­si­ve an­stei­gend zei­gen (wie bei­spiels­wei­se in Öster­reich – PDF; Sei­te 151).

Und na­tür­lich muss auch noch der Neo­li­be­ra­lis­mus für die un­ter­stell­te De­mo­kra­tie­ver­dros­sen­heit her­hal­ten (den Be­griff »Neo­li­be­ra­lis­mus« de­fi­niert Gins­borg nicht; er ver­wen­det ihn als rei­ne Phra­se), gar­niert mit ei­ner Pri­se Un­ter­wer­fung un­ter dem Mas­sen­kon­sum, der die Bür­ger von der po­li­ti­schen Teil­ha­be ab­lenkt und ein­lullt und – nicht zu ver­ges­sen – ei­ner Dä­mo­ni­sie­rung des Fern­se­hens. Wo­mit dann al­le gän­gi­gen kul­tur­kri­ti­schen Kli­schees auf­ge­fah­ren wä­ren. Aber­mals fragt man sich, ob nicht ein biss­chen mehr ar­gu­men­ta­ti­ve Sorg­falt not­wen­dig ge­we­sen wä­re, statt sol­chen Ge­mein­plät­zen der­art for­mel­haft nach­zu­ge­ben.

Sy­stem der Ver­knüp­fun­gen

In der Mit­te des Bu­ches sagt Gins­borg dann doch noch ein biss­chen was da­zu, wie nun sein Mo­dell der teil­neh­men­den De­mo­kra­tie, die im Buch de­li­be­ra­ti­ve De­mo­kra­tie heisst, aus­se­hen soll. Er plä­diert da­für – Marx’ Dik­ti­on ähn­lich -, die In­di­vi­du­en we­nig­stens für ei­nen klei­nen, aber wich­ti­gen Au­gen­blick aus der völ­li­gen Pri­va­ti­sie­rung ih­res Le­bens her­aus­zu­rei­ssen, im­mer wei­te­re Krei­se von Bür­gern mit un­ter­schied­li­chen po­li­ti­schen Über­zeu­gun­gen zu bil­den, da­mit die­se dann mit den Po­li­ti­kern auf der Grund­la­ge von Gleich­heit und ge­gen­sei­ti­gem Re­spekt in Dia­log tre­ten.

Er­reicht wer­den soll dies mit ei­nem »Sy­stem der Ver­knüp­fun­gen«. Kern­punkt in sei­nem (kom­mu­ni­ta­ri­stisch an­ge­hauch­tem) Den­ken ist die Fa­mi­lie, die in den mo­der­nen ka­pi­ta­li­sti­schen Ge­sell­schaf­ten ei­ne wich­ti­ge­re und zen­tra­le­re Rol­le spielt als die Fa­brik. Die Fa­mi­lie muss al­ler­dings durch fe­ste Net­ze von au­to­no­men Ver­ei­ni­gun­gen mit der Zi­vil­ge­sell­schaft ver­knüft wer­den.

Und plötz­lich kommt der Bür­ger ins Spiel: In al­len drei Be­rei­chen – in der Fa­mi­lie, in der Zi­vil­ge­sell­schaft und dem de­mo­kra­ti­schen Staat – spie­len ak­ti­ve und kri­ti­sche Bür­ger ei­ne über­aus wich­ti­ge ver­bin­den­de Rol­le. Wei­ter heisst es: Sie – die Bür­ger – müs­sen die Fa­mi­li­en aus ih­rer Pas­si­vi­tät auf­rüt­teln, klug und dis­zi­pli­niert die Zi­vil­ge­sell­schaft auf­bau­en und ak­tiv in der Po­li­tik mit­ar­bei­ten, oh­ne die de­mo­kra­ti­schen In­sti­tu­tio­nen nur als Ve­hi­kel zur Ver­fol­gung per­sön­li­cher Ambitionen…zu miss­brau­chen. Die Zi­vil­ge­sell­schaft dann soll für die Auf­tei­lung statt für die Kon­zen­tra­ti­on von Macht sor­gen, soll fried­li­che Mit­tel an­stel­le von Ge­walt auf­zei­gen, die Gleich­stel­lung der Ge­schlech­ter und so­zia­le Ge­rech­tig­keit för­dern, ho­ri­zon­ta­le statt ver­ti­ka­le So­li­da­ri­tät ge­währ­lei­sten, De­bat­ten und ei­gen­stän­di­ge Mei­nun­gen an die Stel­le von Kon­for­mis­mus und Ge­hor­sam set­zen.

Schö­ne Wor­te für das Poe­sie­al­bum von Sonn­tags­red­nern. Bis man merkt, dass da ei­ne merk­wür­di­ge Ka­sten­ge­sell­schaft mit ei­nem fast vor­de­mo­kra­ti­sches Ver­ständ­nis ge­zim­mert wird: Fa­mi­lie – Bür­ger – Zi­vil­ge­sell­schaft – Staat. Wo wer­den die Gren­zen ge­zo­gen? Ist nicht et­wa ein Bür­ger auch im­mer Be­stand­teil der Zi­vil­ge­sell­schaft und zwar un­ab­hän­gig von dem po­li­ti­schen Mo­bi­li­sie­rungs­grad? Wel­che Ge­gen­sät­ze zwi­schen Staat und Zi­vil­ge­sell­schaft wer­den da künst­lich kon­stru­iert, die in der Pra­xis we­der durch­zu­hal­ten ge­schwei­ge denn er­stre­bens­wert sind? Ist es mög­lich, die ein­zel­nen In­di­vi­du­en par­al­lel in ge­trenn­ten »Funk­tio­nen« wahr­zu­neh­men?
Aber man las­se sich durch­aus ein­mal auf die­ses Sy­stem ei­ner ab­ge­stuf­ten Ge­sell­schaft ein: Wie soll dies tech­nisch »funk­tio­nie­ren«?

Gins­borgs Ant­wort er­schöpft sich in Va­ri­an­ten der athe­ni­schen ago­rà, der Ver­samm­lung der Bür­ger auf dem Markt­platz. Es sind Mo­del­le lo­ka­ler Selbst­ver­wal­tung wie die ame­ri­ka­ni­sche ‘Ci­ti­zens’ Ju­ry’ und das ‘Town Mee­ting’. Wäh­rend in der Ci­ti­zens’ Ju­ry haupt­säch­lich The­men ei­nes Mi­kro­kos­mos ei­ner be­stimm­ten Ge­mein­de ver­han­delt und dis­ku­tiert wer­den, han­delt es sich beim Town Mee­ting um ein zah­len­mä­ssig ehr­gei­zi­ge­res Ver­lan­gen, zu dem Hun­der­te oder gar Tau­sen­de Bür­ger zu­sam­men­tref­fen und über ein oder meh­re­re The­men ei­ner Stadt dis­ku­tie­ren und ab­stim­men. Un­ter­schie­de gibt es über die Art und Wei­se der Zu­sam­men­set­zung und Re­kru­tie­rung der je­wei­li­gen Ver­samm­lun­gen, d. h. wie oft und zu wel­chen The­men ei­ne Ver­samm­lung statt­fin­den und ob die Mit­glie­der be­nannt wer­den oder je­der un­ein­ge­schränk­ten Zu­gang hat, ob sie ei­ner Ro­ta­ti­on un­ter­wor­fen sind, usw.

Auch wenn Gins­borg ge­le­gent­lich ei­nen ge­wis­sen So­zi­al­ro­man­ti­zis­mus pflegt (Die Teil­nah­me von Men­schen mit nied­ri­gem Ein­kom­men und nied­ri­gem Bil­dungs­ni­veau er­weist sich als be­son­ders wert­voll.), be­nennt er doch die Pro­ble­me, die sich in der Pra­xis er­ge­ben: Das Feh­len von (Teilnehmer-)Kontinuität, die pro­fa­ne Fra­ge der Ko­sten für die Ver­samm­lun­gen (letzt­lich dürf­te so et­was aber kei­ne Rol­le spie­len) und die Tat­sa­che, dass bei den zu­meist in grö­sse­rer Zahl bei­spiels­wei­se in den an­gel­säch­si­schen Län­dern ab­ge­hal­te­nen Ver­samm­lun­gen die­ser Art Be­schlüs­se le­dig­lich die Form nicht bin­den­der Emp­feh­lun­gen ha­ben. Das hat of­fen­sicht­lich da­mit zu tun, dass Ci­ti­zens’ Ju­ry oder Town Mee­ting kei­ne in­sti­tu­tio­nel­le Ver­an­ke­rung in den je­wei­li­gen (kommunal-)politischen Struk­tu­ren be­sit­zen und so­mit letzt­lich nur be­ra­ten­de Funk­ti­on ha­ben. Das Haupt­pro­blem: Die Quan­ti­tät der Teil­nah­me durch die Bür­ger an sol­chen Ver­an­stal­tun­gen bleibt stets weit hin­ter der üb­li­cher Ver­fah­ren zu­rück, die im­mer noch mehr als die Hälf­te der Be­völ­ke­rung in ei­nen for­ma­len, ge­hei­men Wahl­pro­zess ein­be­zieht. Aber­mals stellt sich al­so die Le­gi­ti­ma­ti­ons­fra­ge.

Rä­te­de­mo­kra­tie oder Bür­ger­haus­halt

Gins­borgs Fest­stel­lung, dass die­se For­men der Bürgerbeteiligungen…nur ge­ring­fü­gig zu[r] Schaf­fung im­mer wei­ter Krei­se kri­ti­scher, in­for­mier­ter und en­ga­gier­ter Bür­ger bei­tra­gen, sug­ge­riert, das an­de­re Lö­sun­gen ge­fun­den wer­den müs­sen. Lei­der ver­säumt er es voll­stän­dig zu er­läu­tern, wie er die Be­tei­li­gung quan­ti­ta­tiv (und auch qua­li­ta­tiv?) bes­ser und um­fas­sen­der or­ga­ni­sie­ren möch­te und gleich­zei­tig in­sti­tu­tio­nell ver­an­kern will. Oder soll der klei­ne Ex­kurs am Be­ginn des Bu­ches über die Rä­te­de­mo­kra­tie ein Wink mit dem Zaun­pfahl sein? Falls ja, war­um il­lu­striert er das nicht?

Es folgt ein kur­zer Ab­riss des­sen, was par­ti­zi­pa­ti­ver Haus­halt oder auch »Bür­ger­haus­halt« heisst und (bei­spiels­wei­se) über ei­nen Zeit­raum von fünf­zehn Jah­ren in der bra­si­lia­ni­schen Ha­fen­stadt Por­to Aleg­re ent­wickelt und prak­ti­ziert wur­de (und durch­aus Mo­dell­cha­rak­ter hat). Hier war min­de­stens teil­wei­se so et­was wie ei­ne Kul­tur der Par­ti­zi­pa­ti­on ent­stan­den, wie sie Gins­borg vor­schwebt. Mit Un­ter­stüt­zung der bra­si­lia­ni­schen Ar­bei­ter­par­tei wur­de bei der Kon­trol­le über ei­nen Teil des städ­ti­schen Haus­halts und über die ge­rech­te Ver­tei­lung der ge­rin­gen zur Ver­fü­gung ste­hen­den Res­sour­cen ent­schie­den. Zu­nächst wer­den auf un­ter­ster Ebe­ne im gan­zen Stadt­ge­biet vor­be­rei­ten­de Ver­samm­lun­gen ein­be­ru­fen. Dann wer­den die an­ste­hen­den Fra­gen auf ge­samt­städ­ti­schen Versammlungen…diskutiert…und die acht­und­vier­zig De­le­gier­ten für den OP-Rat (COP) zu wäh­len. Die­ses Or­gan ver­bin­det die par­ti­zi­pa­ti­ven und re­prä­sen­ta­ti­ven Ele­men­te des Modells…und legt die Prio­ri­tä­ten für die Aus­ga­ben­ver­tei­lung des städ­ti­schen Haus­halts im fol­gen­den Jahr fest.

Ei­ni­ge Mo­na­te spä­ter tritt dann der COP zu­sam­men. Ver­wal­tungs­fach­leu­te, De­zer­nen­ten und ge­wähl­te De­le­gier­te le­gen ge­mein­sam das Wirt­schafts­pro­gramm fest. Als letz­ter Akt…wird am Jah­res­en­de der Be­tei­li­gungs­haus­halt vom Stadt­rat und Bür­ger­mei­ster an­ge­nom­men. De­tails über Ver­fah­ren und Pro­zes­se – es han­delt sich of­fen­sicht­lich um ei­ne viel­schich­ti­ge Pro­ze­dur – er­fah­ren wir nicht. Wie ent­ste­hen Mehr­hei­ten? Oder ist Ein­stim­mig­keit ge­for­dert?

Und was be­deu­tet es, dass der gan­ze Prozess…begleitet und un­ter­stützt wird von den ein­und­zwan­zig Mit­glie­dern des Ko­or­di­na­ti­ons­ko­mi­tees für die Be­zie­hun­gen der Bür­ger­schaft zur Ge­mein­de? War­um hat sich Gins­borg, wie er aus­drück­lich an­gibt, auf ei­ne knap­pe Zu­sam­men­fas­sung be­schränkt? War­um il­lu­striert der Au­tor nicht we­nig­stens ex­em­pla­risch de­tail­liert die Ab­läu­fe und in­sti­tu­tio­nel­lem Struk­tu­ren? War­um gibt es hier­zu im ent­spre­chen­den Wi­ki­pe­dia-Ar­ti­kel weit­aus mehr In­for­ma­tio­nen? Über die Grün­de, war­um man in Por­to Aleg­re von die­sem Mo­dell of­fen­sicht­lich wie­der ab­ge­wi­chen ist, er­fah­ren wir auch nicht ge­nug.

Und wenn Gins­borg Ben­ja­min Con­stants The­se (von 1819) zu­rück­weist, dass di­rek­te De­mo­kra­tien nur in klei­nen Ge­mein­den prak­ti­ka­bel und in den kom­ple­xen mo­der­nen Ge­sell­schaf­ten und in grö­sse­rem Rah­men …nur ei­ne re­prä­sen­ta­ti­ve Re­gie­rung mög­lich sei­en – war­um nicht we­nig­stens ein kur­so­ri­scher Ge­gen­ent­wurf statt sich in blu­mi­ger Rhe­to­rik über
Wirt­schafts­de­mo­kra­tie aus­zu­las­sen, de­ren Prä­mis­sen deut­lich an Marx­sche Ent­eig­nungs­mo­del­le er­in­nern und in ei­nem Ka­pi­tel über De­mo­kra­tie und Gen­der die Frau­en­quo­te (po­li­tisch-kor­rekt) zu gou­tie­ren? Und war­um das Sub­si­dia­ri­täts­prin­zip der Eu­ro­päi­schen Uni­on als zu zen­tra­li­stisch ab­leh­nen, oh­ne we­nig­stens ei­ne Al­ter­na­ti­ve zu an­zu­den­ken, die mehr als nur aus dem Wort kos­mo­po­li­tisch be­steht?

Nein, ideo­lo­gi­sche Schlag­wor­te und schön for­mu­lier­te Sprüch­lein von pa­ra­die­si­schen de­mo­kra­ti­schen Wunsch­zu­stän­den – das reicht nicht, zu­mal man an­de­res ver­sprach. Der­art al­lein­ge­las­sen mit der Fra­ge, wie sie denn nun aus­se­hen könn­te, die­se par­ti­zi­pa­ti­ve De­mo­kra­tie, wel­che die Qua­li­tät der Re­prä­sen­ta­ti­on ge­währ­lei­stet, sti­mu­liert und kon­trol­liert, be­schleicht den Le­ser das Ge­fühl, dass da je­mand nur ein­mal sei­nen Groll los­wer­den woll­te, oh­ne sich we­nig­stens ein biss­chen die Mü­he zu ma­chen, die­sen frucht­bar wer­den zu las­sen.


Die kur­siv ge­druck­ten Pas­sa­gen sind aus dem be­spro­che­nen Buch.

2 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. De­li­be­ra­ti­ve De­mo­kra­tie ken­ne ich als fest­ste­hen­den Be­griff nur von Jür­gen Ha­ber­mas. Des­sen de­mo­kra­tie­theo­re­ti­scher Ent­wurf ist aber schein­bar et­was strin­gen­ter aus­ge­baut. Es geht da­bei um die Er­gän­zung des be­stehen­den de­mo­kra­ti­schen Pro­zes­ses um de­li­be­ra­ti­ve Ele­men­te, an de­nen al­le Bür­ger gleich­be­rech­tigt teil­ha­ben können/sollen.

    Falls sie sich mehr für Po­li­ti­sche Theo­rie in­ter­es­sie­ren kann ich ih­nen nur zu John Rawls’ »Ei­ne Theo­rie der Ge­rech­tig­keit« ra­ten. Ihr Ur­teil wür­de mich sehr in­ter­es­si­ern.

  2. Viel­leicht so­gar »al­ter Wein in al­ten Schläu­chen«? Ich bin nicht si­cher, ob die­se Cha­rak­te­ri­sie­rung von mir dann zu hart ist.

    Tat­säch­lich er­in­nert vie­les auch an ge­wis­se dis­kurs­ethi­sche Prin­zi­pi­en von Apel und Ha­ber­mas (oh­ne die­se je­mals nur zur er­wäh­nen).

    Dan­ke für den Li­te­ra­tur­tip. In ab­seh­ba­rer Zeit kom­me ich ver­mut­lich da­zu nicht. Möch­ten Sie viel­leicht ei­ne klei­ne Skiz­ze vor­neh­men?