Zwar nimmt er sporadisch monatsweise Jobs an, aber die ökonomische Versorgung ist nebulös. Er geht sehr oft aus, konsumiert Alkohol und Drogen in beträchtlichem Ausmass; unterhält ein Auto und reist gelegentlich. Es bleibt unklar, wie er diesen Lebenswandel finanziert.
Ablaufartig wird ein Jahr im Leben dieses Protagonisten erzählt. Der Leser erfährt, dass er ein grosser Rockmusikfan ist. Eine Fülle von Titeln bekommt man präsentiert; von Klassik über 80er Jahre Pop (und – natürlich – das hier) und manchmal ein bisschen zu eindeutiges wie dieses oder »Tender«. Musik setzt Trostpunkte im Alltagsstumpfsinn. Ich werde dasselbe tun wie immer. Ich werde aufstehen, den Nachmittag verdämmern, ein Buch lesen, Musik auflegen und am Abend durch die Stadt gehen, die lachenden Stimmen der Menschen hören und mir dabei vielleicht wünschen, dass ich unsichtbar bin. So ist das.
Diskretes Erzählen
Allenfalls die Jahreszeiten bieten da eine Abwechslung, denn sowohl die Gespräche töten mich heisst es – als auch die Stille ist noch schlimmer. Und selbst, wenn ich glücklich bin, habe ich die absurdesten Gedanken und den Wunsch, das Glück zu zerstören. Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach sozialen Kontakten (und Akzeptanz) und dem Sich-Verbergen-Wollen vor der Welt weicht der Held in seine exzessive Selbstbeobachtung aus, die – und das ist eine Kunst – nie in larmoyantes Selbstmitleid umschlägt. Es werden Drogen konsumiert, um Gefühle zu unterdrücken oder zu erzeugen und dann zu unterdrücken, aber im Rausch ist bereits implizit der Kater enthalten. Daher ist der Erzähler kein Junkie im klassischen Sinn (im Gegensatz zu einigen seiner Freunde). Auch das Wahnhafte hält sich in Grenzen – nur manchmal geht etwas Bedrohliches…von der Unbeweglichkeit der Gegenstände im Raum aus und dann blicken ihn die Dinge an, allerdings ohne Dauer.
Einmal schläft Hannes, ein Freund, mit Bettina, der aktuellen Geliebten des Erzählers. Dieser verspürt plötzlich einen Stich im Herzen – wohl die stärkste Gefühlsäusserung in diesem Buch (sofort danach ist es schon egal und ich muss sogar grinsen). Xaver Bayer bleibt immer diskret; passt sich der (vordergründigen) Lässigkeit seiner Protagonisten an.
Diese Diskretion, ja Keuschheit, hat den Vorzug, dass der Hauptfigur – ungeachtet der oft akribischen Schilderungen des Alltags und der Aufzählungen der konsumierten Getränke, Drogen- und Rauschmittel – ihre »Geheimnisse« bleiben. Hieraus entsteht beim Lesen durchaus eine Spannung, die bewusst erhalten wird, denn immer, wenn eine gewisse – vom Erzähler (Autor) festgelegte – Schwelle droht überschritten zu werden, erfolgt das taktvolle Ausblenden. Hierdurch gerät der Protagonist nicht zum putzigen Aussenseiter oder Schauobjekt, sondern behält eine mysteriöse Verschlossenheit, die eine Zeit lang beim Leser ein unvorhersehbares Ereignis, einen Affekt oder gar ein Verbrechen als möglich erscheinen lässt.
Eine irgendwie geartete Einfühlung in die Hauptfigur ist demnach schwierig, denn ausser recht allgemeinen Aussagen über die jeweilige Befindlichkeit wie deprimiert, nervös, ruhig oder auch glücklich und im stillen Einverständnis, über das Glück zu schweigen erfährt man zunächst nicht viel. Hinzu kommt, dass der Held grösseren und nicht berechenbaren Stimmungsschwankungen unterliegt, deren Ursachen sich (naturgemäss) nicht immer erschliessen.
Erst spät hört man von der Familie – den Eltern und der sterbenden Grossmutter, die er wie eine Ausserirdische betrachtet und nicht weiss, wohin mit seiner Zuneigung zu ihr (er nimmt eine Beruhigungstablette bevor er das Krankenhauszimmer betritt). Die Konventionen sozialer Kommunikation, die später in »Die Alaskastraße« vom Helden immer mehr verlassen werden, bleiben jedoch mindestens oberflächlich intakt.
So, wenn er mit Anna nach Amsterdam fährt und das leidliche touristische Programm absolviert. Ganz verzichtet Bayer auf eine gewisse Verrücktheit nicht, etwa als die beiden die Reiseleiterin bitten, von ihnen ein Foto zu machen: Anna und ich lehnen uns aneinander, die nette Reiseführerin drückt gekonnt schnell ab, und wir bedanken uns. Als wir aussteigen, beschliessen wir, doch endlich einen Film für die Kamera zu kaufen.
Nicht, dass dies typisch für die Erzählung wäre. Aber Bayer spielt sehr wohl mit Skurrilitäten. Weiterhin findet man etliche, manchmal gut versteckte, manchmal ein bisschen aufdringlich-herbeigeholte Motive aus der Weltliteratur; so ganz »unschuldig« ist sein Held nicht. Mal erinnert er an eine Eulenspiegelei, ab und an ein bisschen taugenichts-haftes von Eichendorff. Mehrmals werden Motive aus Peter Handkes Erzählungen angedeutet (etwa bei der Beschwörung der kleine[n] Welt des Dasitzens, Rauchens und Weintrinkens) und auch Wilhelm Genazino kommt einem in den Sinn (freilich jedoch um das gelegentlich Burleske der Figuren Genazinos reduziert). Dennoch ist »Heute könnte ein glücklicher Tag sein« nicht epigonal einem Genre oder gar Autor zuzuordnen (auch wenn man den Titel als Einspruch zu Handkes »Versuch über den geglückten Tag« sehen könnte).
Das Buch wurde von Teilen der Kritik auch als Generationenroman gedeutet. Grosstadtkinder, die in der modernen Welt der Glücksversprechen ihren Ort, ihre »Berufung« nicht finden. Dies mag zwar verführerisch sein, nähme jedoch dem Roman seine Tiefe, die eben gerade nicht in blosser, repräsentativer Affektbeschreibung liegt, sondern in einer weitgehenden und eigentlich »zeitlosen« Indifferenz der eigenen Existenz gegenüber. Wie sich in diese als so verwirrend sich darstellenden Netzwerke menschlichen Zusammenlebens einfügen und gar einbringen? Natürlich stellt der Held diese Frage nicht direkt; er »weiss« aber sehr wohl, dass er in seinem Leben etwas ändern muss. Er weiss nur nicht, wie. Und fast ist man geneigt zu sagen, er weiss auch nicht warum.
Projekt des VerschwindensDer Ich-Erzähler in »Die Alaskastraße« ist (und bleibt) ebenfalls namenlos. Das Buch beginnt auf seiner Arbeitsstelle, einer Partnerschaftsvermittlung. Schnell erfährt man, dass er gekündigt und nur noch wenige Tage zu arbeiten hat. Man lernt seinen Kollegen, den Porno- und Waffensammler Rolf kennen und wird Zeuge, wie er diese Verbindung kurz nach dem Ausscheiden aus der Firma in wenigen Stunden in eine Feindschaft umschlägt (eine sehr filigrane Binnenerzählung, in der es Bayer gelingt, das Kippen der sozialen Beziehung, den Überdruss des Erzählers an Rolf sehr plastisch darzustellen).
Und natürlich seine Freundin Conny, mit der er kurz danach in einen dreiwöchigen Urlaub in ein Ferienhaus (vermutlich in Südeuropa) aufbricht. Im Gegensatz zum Wiener Studenten, der ein gewisses Netzwerk Gleichgesinnter über Mobiltelefon koordinierte, hat der Held der »Alaskastraße« offensichtlich keine weiteren Sozialkontakte mehr.
Früh wird deutlich, dass es sich bei dem Erzähler um einen Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung handeln muss. Bayer macht aber nicht den Fehler, dies vorzuführen oder gar zu pathologisieren (was beim Leser entlastend wirkt, da er kaum auf den Gedanken kommt, sich auf die Suche nach einer Diagnose zu machen). Dem Helden bei seinem »Projekt« des Verschwindens zu beobachten und die einzelnen Eskalationsstufen der Entfremdung mit der Welt (exemplarisch an der stetig steigenden Zuspitzung von Aggressionen Conny gegenüber sichtbar) derart erzählt zu bekommen, erzeugt durchaus einen Sog beim Leser, ohne auch nur im Entferntesten einen billigen Voyeurismus zu befriedigen. Abermals zeigt sich der Autor als diskreter Erzähler, der auf spektakuläre Aktionen weitgehend verzichtet und stattdessen den Prozess des Aus-der-Welt-Fallens erzählt, statt ihn zu beschreiben. Die Entfremdung des Protagonisten läuft dabei nicht ohne Dissonanzen ab, die fast immer in Ausweich- bzw. Fluchtmanövern münden.
Irgendwann ist dann der Punkt erreicht, dass der Tag seine unschuldige morgendliche Ausgedehntheit verloren hatte und ich begann ihn zu hassen. Da hatte er schon längst das Ferienhaus (mit den Reisepapieren von beiden) verlassen und ist nun auf dem Weg zum Festland, um von dort aus (alleine) zurückzufliegen. Empathie mit dem Schicksal Connys empfindet er kaum; eher einen Ärger über sie.
Bayers Held stolpert nun mehr zum Flughafen und nach Hause als das es einer geordneten Rückreise entspräche. Irgendwie schafft er es dann doch nach Hause, nimmt Kontakt mit Conny auf, die diese »Beziehung« nüchtern am Mobiltelefon beendet und er entscheidet sich, mit dem Auto ohne Ziel umherzufahren. Es gibt einen Unfall, der ihn in einen Wald verschlägt. Dort wird er – ein wenig übertrieben auf Thoreaus »Walden« rekurrierend – zu einer Art Waldmensch, archaisiert, wenn auch nur für kurze Zeit. Nach einigen Tagen verlässt er die Hütte wieder, geht zum Waldrand ans Feld; es scheint so, als wolle er wieder in die Zivilisation zurück. Das Buch endet mit dem mysteriösen Satz Ich hatte meine Mission erfüllt.
Auch in »Die Alaskastraße« gibt es zahlreiche literarische Motive. Ein- oder zweimal erscheinen sie ein bisschen überinstrumentalisiert, etwa wenn die Hauptfigur ein Reh gerne umarmt hätte und dem Leser die Parallele zu Nietzsche und Turin allzu holzhammerartig vorgeführt wird.
Zurück zum ersten Menschen?
Der Protagonist erlebt eine Reise in den eigenen Solipsismus. Dieser Prozess, der von den nicht unmittelbar Beteiligten kaum bemerkbar ist, vollzieht sich sehr wohl intentional (wenn auch nicht bewusst gesteuert oder gar geplant). Mit Erstaunen meint man, dass sich hier jemand bei seiner Weltflucht, die mehr als nur ein blosser Eskapismus ist, selber zuschaut und die einzelnen Schritte oft genug voraussieht. Dennoch gibt es kein Fatum, d. h. die Hauptfigur sieht sich nicht dunklen Mächten ausgeliefert; paranoides Verhalten ist zwar erkennbar, aber nicht dominant. Die Wahrnehmungen des Verstörten sind teilweise von bizarrer Schönheit und auch – nicht zu oft – einfach komisch, etwa als er nach dem Unfall aus dem Auto steigt und zunächst einmal hinfällt: Im Liegen wollte ich unbedingt wissen, ob ich mein Hemd richtig geknöpft hatte. Ich betrachtete die Anordnung der Knöpfe, dann stand ich mit weichen Knien wieder auf.
Irgendwann ist von einer Liste des Verschwindens die Rede. Eine doppeldeutig interpretierbare Vokabel – zum einen als Liste des Selbstverschwindens und zum anderen als eine Liste der Punkte, die alle bisher existierenden Brücken in die Welt zum Verschwinden bringen soll (mit dem Ergebnis eines Abtauchens). Das beginnt mit einer immer stärker werdenden Bedächtigkeit und Langsamkeit, über das preisen der Vorteile des Alleinseins und steigert sich nachher in einer fast zwanghaften Angst, jeglichen Formen der Festlegung gegenüber – und seien es auch nur banale Termine für eine Verabredung.
Gegen Ende des Buches hat er diese Ängste abgeschüttelt (hauptsächlich deshalb, weil er sich jeglicher Kontakte enthält, die eine Verbindlichkeit verlangen) und fällt (für kurze Zeit) vollkommen »aus der Welt« und während dieser Lektüre glaubt man kurz Heideggers Daseinsfluchtgedanken zu verstehen, aber exakt konträr zur »normalen« Deutung: Plötzlich erscheint das »Aus-der-Welt-Fallen« als ein »In-eine-andere-Welt-Fallen« – die »Flucht« als Flucht vor der Oberflächlichkeit der »normalen« Welt. Als würde Bayers Protagonist sich plötzlich zum ersten Menschen zurückentwickeln und dabei gleichzeitig einer Art »Reinigung« unterworfen (nur der Rezensent erlaubt sich nun die Plattitüde, Adam als Namen für den Helden vorzuschlagen). So erscheint die kathartische Wirkung der kärglichen Waldhütte sowohl als religiöse Läuterung als auch als existentialistische Selbst-Vergewisserung deutbar.
Der Autor bekommt im Sommer den Hermann-Lenz-Preis 2008 überreicht. Auch sein neues Buch erscheint dann. Man darf sich schon jetzt darauf freuen.
Die kursiv gedruckten Stellen sind Zitate aus den besprochenen Büchern.
der autor spricht mir aus der seele, obwohl ich jahrgang 1962 bin.habe mich, wie bei »hesse« wieder gefunden. bitte, mehr.
lg martina
der autor ‚lässt mich an den israelischen autor »etgar keret« mit seinem »gaza blues« denken. allerdings ist er auf eine ganz andere art perfekt. martina