Das Jahr 2009 erinnerte stark an 2006, als Katrin Passig in einem extrem schwachen Jahrgang reüssierte (was in einer beleidigten Attitüde umgehend dazu führte, dass man Novizen nicht mehr zuließ, sondern auf einer Publikation bestand). 2007 gab dann ein bisschen mehr her, aber im vergangenen Jahr rauschte das Niveau abermals nach unten (zumal man wirklich gute Beiträge auch noch aus Opportunitätsgründen verriss).
2009 ist nun mit fast neuer Jury abermals ein Tiefpunkt erreicht. Man fragt sich schon, wer eine Meike Feßmann als Jurorin auserkoren hat. Natürlich: Die Formalqualifikation stimmt und Frau Feßmann sagte ja auch wie eine brave Musterschülerin ihr angelerntes und angelesenes Wissen auf. Irgendwann teilte sie dann nur noch mit, ob ihr etwas gefallen habe oder nicht. Das füllt sie auch vollständig aus.
Heute haben die Lesungen zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2009 begonnen und 3sat ist live aus Klagenfurt dabei. In der Pause diskutiert man über das Urheberrecht. Das hat zwar nichts mit dem Bachmannpreis zu tun, aber erregt die Gemüter.
Kein Wort über Josef Winklers gestrige Rede, die inzwischen auch die Gemüter erregen dürfte. Auf der Webseite von »Kulturzeit« findet sich allerdings hierzu bis jetzt nichts.
Dabei ist Winklers Furor beißend:
Diese Stadt Klagenfurt, die sich seit über 30 Jahren, jährlich im Juni, in der Zeit der Lindenblüte, als deutschsprachige Literaturhauptstadt feiern lässt, ist wohl die einzige Stadt Mitteleuropas mit 100 000 Einwohnern, in der es keine eigene Stadtbibliothek gibt, in einem Land, in dem der damalige, inzwischen eingeäscherte Landeshauptmann gemeinsam mit dem röm.-kath. Parteivorsitzenden der sogenannten christlich-sozialen Volkspartei – der vor einem Jahr einen schweren Verkehrsunfall überlebt und nach seiner Genesung im Freundeskreis demutsvoll erzählt hat, dass ihm, um seine Worte zu gebrauchen, die »Lourdes-Mitzi« beim Verkehrsunfall das Leben gerettet hat -, dieser Kärntner ÖVP-Vorsitzende und der ehemalige Kärntner Landeshauptmann, der sich mit seiner Asche aus dem Staub gemacht hat, haben im vergangenen Jahr beim Verkauf der Kärntner Hypo-Bank einem Villacher Steuerberater für seine zweimonatige mündliche Beratung ein Honorar in Höhe von sechs Millionen Euro in räuberischer Manier aus Landesvermögen zugeschanzt. Und höchst appetitlicherweise ist dieser Villacher Steuerberater auch noch der persönliche Steuerberater des Kärntner ÖVP-Politikers, dem himmel- und gottseidank die Lourdes-Mitzi bei einem Verkehrsunfall das Leben gerettet hat. Gegrüßt seiest du, Maria, Königin der Güte, Ölbaum der Barmherzigkeit, durch welchen uns die Arznei des Lebens zukommt!
Die Frage, die zur Zeit nicht nur Militärs beschäftigt, wird zum Kristallisationspunkt im Buch des israelischen Militärhistorikers Martin van Creveld »Die Gesichter des Krieges«: Gibt es einen Ausweg, oder sind reguläre, staatliche Armeen zukünftig zur Ohnmacht gegenüber kleinen, häufig schlecht organisierten Gruppen von Terroristen verdammt? In Bezug auf die derzeit einzig verbliebene Supermacht USA und deren aktueller Kriegsführung im Irak stellt sich die Frage pointierter: Was, wenn nicht einmal eine derart hochgerüstete Militärmacht gegen Terroristen und Guerillas reüssieren kann?
Will man die Gegenwart verstehen, so studiere man die Vergangenheit sagt sich van Creveld und analysiert die Kriege des 20. Jahrhunderts und damit den »Wandel bewaffneter Konflikte von 1900 bis heute« (so der Untertitel). Das Ungewohnte dabei ist, dass nicht nur, wie im Vorwort erläutert, die militärischen Operationen selbst…der zentrale Strang der Fragestellung bleiben, sondern (insbesondere was die Behandlung des Zweiten Weltkriegs angeht) die politischen und sozialen Implikationen fast immer ausgeblendet werden. Dieses speziell für den deutschen Leser ungewohnte Verfahren wurde wohl einerseits gewählt, weil ansonsten der Rahmen der Untersuchung gesprengt worden wäre, andererseits setzt van Creveld schlichtweg ein gewisses historisches Basiswissen voraus.
So wird der Leser zunächst in die Welt des beginnenden 20. Jahrhunderts mit seinen acht Großmächten (inklusive Italien), davon fünf in Europa (wenn man Russland nicht hinzurechnet; nur zwei Großmächte waren außerhalb des »alten« Kontinents: die USA und Japan) versetzt. Dabei wird deutlich, dass der Einfluss der Politik auf das Militär damals nur sehr eingeschränkt war. Van Creveld spricht wohl ohne Übertreibung von Parallelwelten, die in der Praxis kaum Berührungspunkte miteinander hatten. Oberkommandierende und Generalstäbe waren hinsichtlich ihrer Entscheidungen vollkommen autark; die Mittelgewährung geschah ohne Auflagen oder Kontrolle. Über die Ausstattung ihrer Armee entschieden sie weitgehend alleine. Im Verlauf der Ersten Weltkrieges (aber auch in den letzten Jahren Nazideutschlands) sollte sich diese »Arbeitsteilung« als schwerwiegender Fehler erweisen, denn erst einmal »ausgebrochen« waren die politischen Akteure nahezu vollständig an den Rand gedrängt (was sich unter anderem in Deutschland 1914 zeigte; Wilhelm II. war danach sowohl militärisch als auch politisch praktisch »machtlos«).
Van Creveld spricht das Wort der »Militärdiktatur« nicht aus, es wird jedoch nahegelegt mindestens was die Jahre ab 1916 in einigen kriegsführenden Staaten angeht. Hinzu kam, dass die Gesellschaften durchaus militarisiert waren; die Armee galt als »Schule der Nation«, Krieg als legitimes Mittel der internationalen Politik. In der Bevölkerung wie unter Intellektuellen gab es eine gewisse kindliche Faszination dem bewaffneten Kampf gegenüber.
Lüdde / Dingemann: WELT-Edition Politik
60 Jahre Deutschland in zehn Hochglanz-Themenbänden zu je ca. 90 Seiten: Politik, Wirtschaft, Reise und Verkehr, Kunst und Literatur, Film und Fernsehen, Musik, Mode und Design, Sport, Gesellschaft, Architektur. Die Unterteilung in den jeweiligen Bänden erfolgt chronologisch nach Jahrzehnten: Nach einer kursorischen Einführung in 60 Jahre des jeweiligen Sujets gibt es eine Doppelseite mit einem für das Jahrzehnt typischen Foto, dann vier Seiten Text (mit wenigen Fotografien), davon eine Faksimile-Seite einer Ausgabe der »Welt« zu einem wichtigen Ereignis. Danach gibt es zu weiteren Themengebieten auf acht bis zehn Seiten Fotografien mit Erläuterungen – viel Bekanntes aber auch manchmal »Schnappschüsse«, was man noch nicht kannte. Auf diese Weise kann man sich mit den Bänden der »Welt-Edition« für einige Tage auf eine Zeitreise der deutschen Geschichte seit 1949 begeben.
Die Texte von Rüdiger Dingemann und Renate Lüdde sind wohltuend; es ist glücklicherweise keine Feiertags- oder Jubelprosa. Sie sind konzise aber nicht oberflächlich, durchaus pointiert und zeigen Zusammenhänge auf. Es gibt keine dröge Vermittlung lexikalischen Wissens; wer zum Beispiel die Ergebnisse aller Bundestagswahlen, Tabellen zu Politikern und ihren Ämtern oder Werksverzeichnisse berühmter Literaten sucht, wird hier nicht bedient. Ebenso wenig wird der Leser mit Sterbedaten vermeintlich berühmter Persönlichkeiten gelangweilt; es wird im politischen Band nur ein Sarg gezeigt – der Sarg eines Bundeswehrsoldaten, der in Afghanistan ums Leben gekommen ist.
William T. Vollmann: Hobo Blues
Ein amerikanischer Autor erzählt in einem Buch von seinen (illegalen) Reisen auf Eisenbahn-Güterwagen mit einem (imaginären) Ziel »Überall« und nennt dieses Buch »Riding Towards Everywhere«. Wie übersetzt man das kongenial? Vielleicht mit »Reisen nach Überall«? Oder »Fahren in Richtung Überall«? Oder übersetzt man »Riding« wörtlich als »Ritt«?
Der Verlag entschied sich für eine merkwürdig boulevardeske Version, die den Charakter des Buches eher verbirgt, nannte William T. Vollmanns Buch im Deutschen »Hobo Blues« und versah es mit dem ein bißchen aufgesetzt wirkenden Untertitel »Ein amerikanisches Nachtbild«. Das ist zunächst einmal ärgerlich, insbesondere wenn man die Leistung des Übersetzers Thomas Melle im weiteren Verlauf zu schätzen beginnt (beispielsweise dann, wenn er Zitate von Hemingway, Kerouac oder Thomas Wolfe stimmig »modifiziert« wie es in den Fußnoten selbstbewußt heißt).
Man sollte bei der Lektüre den deutschen Titel einfach vergessen und sich vollends den Assoziationen und reportagehaften Beschreibungen zuwenden. Das lohnt sich nämlich.
Nicht, daß ich mit Philipp Mißfelder Mitleid hätte. Nein. Und natürlich ist Dirk Kurbjuweits Artikel »Der Schattenmann« (Spiegel v. 22.05.09; pdf-Dokument) irgendwie ein »exemplarischer Text«. Aber auch wenn Kurbjuweit Mißfelder als exemplarisch für einen bestimmten Typus Politiker nimmt – geht er nicht manchmal zu weit?
Louis Begley: Der Fall Dreyfus: Teufelsinsel, Guantánamo, Alptraum
Im Papierkorb des deutschen Militärattachés Maximillian von Schwartzkoppen fand die für den französischen Geheimdienst arbeitende Putzfrau Madame Bastian ein handschriftlich verfasstes Dokument, in dem ihm eine nicht genannte Person die Übergabe einer Schießvorschrift der Feldartillerie und einige Aufzeichnungen über ein neues von den Franzosen entwickeltes 120-Millimeter-Geschütz sowie Informationen über französische Truppenpositionen und Veränderungen in den Artillerieformationen, außerdem Pläne zur Invasion und Kolonisierung Madagaskars bestätigte. Dieses Dokument war mehrfach zerrissen worden, ein Schriftstück auf dünnem Papier ohne Datum und Unterschrift. Man nannte es später einfach nur das Bordereau.
Am 25. Oktober 1894 wurde der französische Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus (geboren 1859, Absolvent der »École Polytechniques« und der renommierten Kriegsakademie »École Supérieure de Guerre«) unter dem Verdacht des Landesverrats verhaftet. Dreyfus wurde beschuldigt, der Verfasser des Bordereau zu sein; ein oberflächlicher Handschriftenvergleich reichte den Anklägern (Dreyfus war unter Vorspiegelung falscher Tatsachen bei seiner Verhaftung gebeten worden, ein kurzes Diktat aufzunehmen). Daß es mehrere seriöse Graphologen gab, die zwischen Dreyfus’ Handschrift und der des Bordereau keine Übereinstimmung feststellten, wurde ignoriert.