Ein amerikanischer Autor erzählt in einem Buch von seinen (illegalen) Reisen auf Eisenbahn-Güterwagen mit einem (imaginären) Ziel »Überall« und nennt dieses Buch »Riding Towards Everywhere«. Wie übersetzt man das kongenial? Vielleicht mit »Reisen nach Überall«? Oder »Fahren in Richtung Überall«? Oder übersetzt man »Riding« wörtlich als »Ritt«?
Der Verlag entschied sich für eine merkwürdig boulevardeske Version, die den Charakter des Buches eher verbirgt, nannte William T. Vollmanns Buch im Deutschen »Hobo Blues« und versah es mit dem ein bißchen aufgesetzt wirkenden Untertitel »Ein amerikanisches Nachtbild«. Das ist zunächst einmal ärgerlich, insbesondere wenn man die Leistung des Übersetzers Thomas Melle im weiteren Verlauf zu schätzen beginnt (beispielsweise dann, wenn er Zitate von Hemingway, Kerouac oder Thomas Wolfe stimmig »modifiziert« wie es in den Fußnoten selbstbewußt heißt).
Man sollte bei der Lektüre den deutschen Titel einfach vergessen und sich vollends den Assoziationen und reportagehaften Beschreibungen zuwenden. Das lohnt sich nämlich.
William T. Vollmann ist in den USA kein Unbekannter; er schreibt u. a. für »Harper’s Magazine« und den »New Yorker«. »Riding Towards Everywhere« ist eine Hommage an die Freiheit und die Freiheit der Bürger, eine Hommage an die Vereinigten Staaten von Amerika – und das findet der Ich-Erzähler beim Reisen mit Güterzügen (dem sogenannten Trainhopping) wie sonst nirgendwo mehr. Verzweifelt schaut er auf sein Land, welches zum Zeitpunkt des Buches im achten Jahr einen Folterpräsidenten als Staatsoberhaupt hat, der sukzessive Freiheiten einschränkt und die Leute belügt. Vom Bäckerladen im Heimatdorf bis zum arroganten Verhalten der unamerikanische[n] Sicherheitsbeamten am Flughafen – überall sieht sich Vollmann inzwischen reglementiert, gegängelt, überwacht, eingeengt. Das Rebellentum gegen jede Art von Kontrollen und Restriktionen, die Weigerung, das Spiel doch wenigstens ein klein wenig mitzuspielen – dies verbindet ihn mit seinem Vater (nebenbei erzählt dieses Buch mindestens zu Beginn auch eine fast zärtliche Vater/Sohn-Annäherung), der den überbordenden Machtanspruch der kontrollierenden Personen ausmacht und dann (in typischer Übertreibung) im Plauderton bemerkt: Gib den Leuten ein bisschen Macht, und sie werden zu Nazis.
Vollmanns Ich-Erzähler dürfte der »reale« Vollmann sein – alleine: es spielt keine Rolle. Um sich vor eventuellen Klagen zu schützen schreibt er augenzwinkernd in einem kleinen Vorwort, dass die Geschichten im Buch alle dem Hörensagen entspringen und die Fotos seien in Wirklichkeit stahlgraue Kreidezeichnungen. Er sei niemals bei der Fahrt auf einem Güterzug erwischt worden und habe sich demzufolge niemals des unbefugten Betretens von Bahneigentum schuldig gemacht.
Gewidmet ist dieses Buch seinem Freund Steve Jones, ein Prinz des Stahlrosses, der ihn auf vielen Touren begleitet hat; er ist der Held dieses Buches. Jones ist wesentlich erfahrener als Vollmann und, obwohl älter, sportlich viel besser für diese nicht ganz ungefährliche Art des Reisens konditioniert (der Ich-Erzähler gibt an, er habe sich beim Abspringen von einem fahrenden Zug bereits einmal die Hüfte gebrochen), während Vollmann die sozialen Kontakte besser zu knüpfen versteht, denn beide tauchen mit (fast) allen Konsequenzen in diese Welt ab und Übernachten beispielsweise im Freien.
Das Austüfteln einer Route, das so oft quälende Warten auf einen Anschlusszug, dieses feldmausgleiche Leben im Gras, die gelegentlichen Verirrungen (natürlich gibt es keine Anzeige, wohin der Zug, auf den man gerade aufgesprungen ist, tatsächlich fährt) – der Leser kann durch die Karte auf den Buchdeckelinnenseiten Routen, Orte und Landschaften verfolgen und ist mittendrin im Abenteuer.
Dabei sind Vollmann und Jones natürlich längst keine »Hobos« mehr, jene Wanderarbeiter, welche diese Möglichkeit als Transportmittel nutzten um sich einen Job in einer anderen Stadt zu suchen. Sie sind eher »Luxushopper« mit Kreditkarte für alle Fälle, die sich mitunter vom (vermeintlich angepassten) Bürger in einen »Abenteurer« verwandeln. Oder, besser: sich vorübergehend ihrer Tarnung entledigen und einer fremden, nicht nur räumlich weit entfernten Welt hingeben (die Assoziation zu »Easy Rider« schimmert gelegentlich durch, wird aber dahingehend konterkariert, da die beiden »ihr« Amerika durchaus finden).
Sie haben sich freiwillig einem Ehrenkodex verpflichtet, der es ihnen verbietet, Eigentum der Eisenbahn zu beschädigen oder zu beschmutzen. So urinieren sie beispielsweise (im Gegensatz zu anderen Trainhoppern) in Flaschen und nehmen ihre Abfälle immer mit. Vollmann und Jones beklagen durchaus eine »Verrohung« der Sitten (man erzählt von gewalttätigen und gefährlichen Trainhoppern, die gefürchtet sind; aber in diesem mythenreichen Milieu weiss man nicht so genau, ob es sie tatsächlich gibt oder ob es nur Phantome sind).
Die Mehrzahl derer, die ihnen an den Gleisen und in den Zügen begegnen sind Obdachlose, die auf diese Weise durch das Land reisen und ihr kleines Glück suchen. Bei der Bevölkerung sind Güterzugfahrer nicht beliebt, werden in den Restaurants manchmal nicht bedient und wenn sie von Bahnbediensteten gestellt werden, droht ihnen eine Anzeige.
All dies schreckt nicht ab. Es gilt weg von diesem Leben des Schreibtischs, der oktroyierten Regeln, der einengenden Räume, der Plastikwelt zu kommen – hin zu einer Unabhängigkeit, die das wahre Leben ist (und gelegentlich verklärt wird). Mehr als einmal fällt dieses ich muss hier raus; oft bereits in dem Moment, wenn man nach dem Trainhopping (und verpasstem Zug nach Hause) mit dem Flugzeug wieder wohlbehalten im Heimatort gelandet ist und der Verlust der Magie schlagartig einsetzt.
Wunderbare Bilder
Vollmann gelingen wunderbare Erzählbilder, die auch dem dieser Art des Reisens skeptischen Leser in dem Moment das Gefühl geben, etwas zu verpassen:
In der Dämmerung hielt der Zug neben einer schäbigen weißen Mauer, deren Graffiti übertüncht und zu unregelmäßigen Schlieren einer neuen Schmutzigkeit geronnen waren, und jenseits der Mauer und des Unkrauts stand eine schöne junge Latina, ihre Tochter an der Hand, und blickte den Zug an. Ich winkte ihnen zu, und sie lächelten und winkten zurück. Meine Einsamkeit löste sich auf, und selbst jetzt erfüllt mich die Erinnerung an diesen Moment mit Freude. Nach einer Weile kamen ihre Männer dazu. Auch sie standen da und winkten. Kein Wort rief ich ihnen zu, aber ich werde mich immer an sie erinnern.
Oder eine Assoziation mit einem von Vollmanns literarischen Helden, Henry David Thoreau:
Die Dämmerung war ein blendend türkisfarbener Spalt (die Tür, im spitzen Winkel von der Wand aus gesehen). Thoreau rät uns »wieder wach zu werden und uns wach zu halten…durch das unaufhörliche Erwarten des Sonnenaufgangs, welches uns nicht verlassen darf im tiefsten Schlaf.« Und wirklich, dieser Sonnenaufgang trug meine Unendlichkeit in sich als fast alle, die ich seit meiner Kindheit und bei verschiedenen einsamen Aufenthalten auf arktischen Inseln erlebt hatte. Es war das Blau, in dem sich die Erde einem Astronauten zeigen mag: von innen heraus leuchtend, vielversprechend, schön, aber nicht warm; und vor allem weit weg.
Schattenspiele, die Antilopen zeigen; Dunkelheit, die berührt wird, Felder vergilbt wie Kontoauszüge; ein Baum, der in voller Sternenblüte stand; der violette Salbei, dessen zerkrümelte Blüte einen Duft entfacht, der beinahe betrunken macht; das Wasser in der Flasche warm wie Blut – betörende Bilder, die Vollmann gelingen. Nur selten stürzt er ab ins leicht pseudooriginelle (etwa wenn etwas kristallklar wie der Urin eines Vegetariermädchens ist [die jungen Frauen, die ihn früher begleiteten, hatten durch einen Trichter in die entsprechende Flasche gepinkelt]).
Diese Erzählungen werden von längeren reportagehaften Passagen unterbrochen. Portraitiert und manchmal fotografiert werden andere Trainhopper oder auch eine Barfrau oder eine schmollmundig-somnambule Kellnerin, die die beiden freundlich bedient hat. Für ein paar Dollar kauft er Ira, Cinders, Dolores, Badger und einigen anderen eine Geschichte oder zwei ab (Geschichten, die dann leider erzählerisch nicht immer überzeugen).
Stimmungsvoll Vollmanns Landschaftsfotografien, die teilweise aus dem Zug heraus gemacht wurden. Die durchgängig in schwarz-weiß gemachten Aufnahmen erinnern in ihrer Intensität, spröden Schönheit und auch dem gelegentlich beim Betrachter aufkommenden Weltschmerz an den wunderbaren Film »Die letzte Vorstellung« von Peter Bogdanovich, der seinerzeit auf so treffliche Weise das (provinzielle) Amerika der 70er Jahre zeigte (ohne es zu denunzieren). Vollmann versucht mit diesen Landschaftsaufnahmen, die manchmal heruntergekommene oder baufällige Häuser zeigen manchmal aber auch nur eine ebene Wüstenlandschaft oder eine abgestellte Lokomotive, eine Beschwörung eines guten, eines besseren Amerika, mit Menschen voller Mut, Großzügigkeit und Integrität. Einem Amerika, das immer schon mehr Sehnsucht als Realität war.
Leben, um dem Leben zu entkommen
Denn natürlich ist der Autor zu klug, um nicht auch die Gefahren der Idyllisierung zu wittern. Zwei‑, dreimal fällt er sich diesbezüglich ins Wort; fast ein bisschen versteckt sein Hinweis, das »wunderbare Buch der Gleise« (Mark Twain paraphrasierend) von ihm geschrieben wäre ein Werk romantischen Solipsismus. Das auf Achse sein ist nicht nur der Versuch zu leben sondern auch dem Leben zu entkommen. Und ist die Klage des Verschwindens der Marmorlobbys und Wartehäuschen in den Bahnhöfen (mit ihren polierten Bänken erscheinen sie heute wie eine Kirche des alten Amerika) eher (verzeihliche) nostalgische Verklärung als realer Restaurationswunsch des Autors.
Eindrucksvoll wie Vollmann die sinnlichen Empfindungen mit Lektüreeindrücken verbindet. Zunächst natürlich Jack London und auch Mark Twain. Ein bisschen devot Thoreaus »Walden« gegenüber (der grosse Weltfluchtroman). Auch der virile Hemingway kommt mit seiner Erzählung »Der Kämpfer« zu Wort; zusätzlich gibt es eine kleine Theorie zu Hemingway und Reisen. Tom Wolfes ungewöhnlich konzise Kurzgeschichte »Ferne und Nähe«. Und vor allem Jack Kerouac, dessen Reiseziel Cold Mountain aus »Gammler, Zen und hohe Berge« zum Topos des unerreichbaren, mythischen, letztlich unauffindbaren Sehnsuchtsortes wird; Versuch das Reiseziel Überall zu »erweitern«, denn Überall ist Cold Mountain und die Feststellung: I r g e n d w o ist es nicht.
Die schönsten Momente des Buches: Wenn der Erzähler für kurze Zeit hier sagen kann, wenn für einen Moment so etwas wie Glück spürbar ist. Und meistens passiert ihm dies beim Alleinsein (auch mit Freunden geht das: wunderbar allein); etwa als er so einsam war, daß er sogar nicht einmal mehr wegwollte. Oder wenn er sich als der erste Beobachter fühlt, der jemals dieses unbekannte Land namens Wyoming bereist hat. Dann können wir uns den Ich-Erzähler William T. Vollmann als glücklichen Menschen vorstellen, so glücklich wie ein Kind, das seine Weihnachtsgeschenke auspackt. Und sein Leser versteht auf einmal warum.
Die kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.