Ar­beit am Le­bens­ro­man

Ei­ni­ge Be­mer­kun­gen über Paul Ni­zon

Nein, er sei kein Er­zäh­ler. So Paul Ni­zon, un­ter an­de­rem im Au­gust die­ses Jah­res, im Ge­spräch mit Pe­ter Ste­phan Jungk. Als Ver­fas­ser von »Ak­ti­ons­pro­sa« möch­te sich der mitt­ler­wei­le 92jährige Ni­zon se­hen. Man nennt ihn Sprach­künst­ler oder Sprach­ma­gi­er. Und das ist er ja auch. Aber eben nicht nur.

So as­so­zia­tiv-spie­le­risch, bis­wei­len her­me­tisch die Ro­ma­ne an­mu­ten – in sei­nen Jour­na­len ist das an­ders. Seit 1993 er­schei­nen sie, zu­nächst mit Auf­zeich­nun­gen aus den Jah­ren 1980–89. 2002 folg­te der Jour­nal­band der Jah­re 1961–72. Zwei Jah­re spä­ter dann die Auf­zeich­nun­gen von 1973–79. 2008 wer­den die Jah­re 1990–99 be­han­delt, be­vor 2012 der Band Ur­kun­den­fäl­schung mit den No­ta­ten von 2000–2010 er­scheint. Die Ein­tra­gun­gen sind nie apho­ri­stisch, son­dern kon­zi­piert wie klei­ne Feuil­le­tons oder Er­zäh­lun­gen. Aus­lö­ser sind An­läs­se wie Le­sun­gen, Rei­sen oder Be­su­che. Aber auch Nach­be­trach­tun­gen von Lek­tü­ren, Aus­stel­lun­gen (Ni­zon, der ehe­ma­li­ge Kunst­kri­ti­ker, bleibt hier hell­wach), Spiel­fil­men (Ki­no-Be­su­che wer­den sel­te­ner; er schätzt Fer­ra­ra und Felli­ni) und in jüng­ster Zeit vor al­lem (Fernseh-)Dokumentationen. Den Kern bil­den je­doch Re­fle­xio­nen und As­so­zia­tio­nen aus sei­nem (Schriftsteller-)Leben, ins­be­son­de­re der Kind­heit und der (län­ge­ren) In­itia­ti­on zum Schrift­stel­ler und ak­tu­el­le Schreib­vor­ha­ben.

Ni­zon hat­te frü­her sei­ne Tex­te zu­nächst auf Band ge­spro­chen. In­zwi­schen tippt er sie so­fort in ei­ne Schreib­ma­schi­ne, was bis­wei­len zu Pro­ble­men führt, da sei­ne Ap­pa­ra­te oft de­fekt sind. Er sucht stän­dig nach neu­en al­ten Ma­schi­nen, ist dann ir­gend­wann glück­lich, ei­ne Oli­vet­ti Let­te­ra 32 zu be­kom­men. Er braucht den »Krach« der Schreib­ma­schi­nen­an­schlä­ge; mit dem ver­gleichs­wei­se lei­sen Com­pu­ter kommt er nicht zu­recht. Ihm ist be­wusst, dass der Ge­brauch der Schreib­ma­schi­ne von ei­ni­gen Au­gu­ren als Sym­ptom sei­ner Pro­sa ge­se­hen wird. Aber Ni­zon hat sich nie um die Ur­tei­le an­de­rer ge­schert.

Paul Nizon: Der Nagel im Kopf
Paul Ni­zon:
Der Na­gel im Kopf

So­eben ist nun sein Jour­nal­band von Auf­zeich­nun­gen zwi­schen 2011 und 2020 mit dem viel­deu­ti­gen Ti­tel Der Na­gel im Kopf er­schie­nen. Viel­deu­tig des­halb, weil es ei­nen Do­ku­men­tar­film über Paul Ni­zon von Chri­stoph Kühn aus dem Jahr 2020 glei­chen Na­mens gibt. Und weil es der Ti­tel ei­nes jah­re­lan­gen Ro­man­pro­jekts von Ni­zon ist, dass nicht rea­li­siert wur­de. Be­reits in Ur­kun­den­fäl­schung, dem Band der 2000er-Jah­re, kann man die An­fän­ge die­ser Idee nach­le­sen, wel­che rasch in Stocken kommt. Par­al­lel zur Na­gel-Idee gibt es das zä­he­re, wie Wend Kä­s­sens im Nach­wort er­läu­tert, seit Jahr­zehn­ten im­mer neu auf­flam­men­de, Ma­ria-Pro­jekt. Ni­zon er­schafft su­chend ste­tig neue Be­trach­tun­gen und Text­frag­men­te, die sich im neu­en Band fort­set­zen. Im­mer­hin ist es 2004 zu­sam­men mit Co­let­te Fell­ous zu ei­nem Ge­mein­schafts­ro­man mit dem Ti­tel Ma­ria Ma­ria ge­kom­men, der bis­her (war­um ei­gent­lich?) nur auf fran­zö­sisch er­schie­nen ist. Im vor­he­ri­gen Jour­nal­band wird die Ge­ne­se die­ses Ro­mans ver­blüf­fend we­nig aus­ge­führt. Ins­ge­samt scheint Ni­zon mit die­sem Buch nicht zu­frie­den zu sein.

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Baßler/Drügh: Ge­gen­warts­äs­the­tik

Die Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Mo­ritz Baß­ler und Heinz Drügh su­chen in ih­rem kürz­lich er­schie­ne­nen Buch nach Kri­te­ri­en für die Äs­the­tik der Ge­gen­wart. Zu Be­ginn wird noch brav auf Im­ma­nu­el Kant re­kur­riert und zi­tiert. Man holt Schil­lers Hym­ne auf das Spiel her­vor, auch Su­san Son­tag und Jean-Fran­­çois Ly­o­tard kom­men vor. Aber das war es weit­ge­hend auch schon mit ...

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8. Sep­tem­ber

Sei­ne El­tern ver­star­ben kurz hin­ter­ein­an­der. An­geb­lich hat­te sich sein Va­ter (Be­rufs­be­zeich­nung »Kauf­mann«) um­ge­bracht. Amt­lich ver­starb der Va­ter 1931 (mit 58), die Mut­ter 1933 (mit 42), wo­bei ich je­weils un­ter­schied­li­che Ge­burts­da­ten vor­lie­gen ha­be. Mit 20 war mein Va­ter al­so Wai­se.

Ber­li­ner Ak­ten­ab­schrif­ten. Hei­rat 1941, ein Sohn 1942. Schon am 19.09.1939 wur­de er ein­ge­zo­gen, zu ei­ner »Funk-Er­satz-Kom­pa­nie« in Ber­lin, wo er auch da­mals leb­te. »Ein Ent­las­sungs­da­tum ist nicht ab­ge­ge­ben«, heißt es. Schließ­lich am 31.12.1943 »Wie­der­ein­be­ru­fung«. Am 28.04.1944 »Luft­nach­rich­ten­schu­le« in Kö­nig­grätz. (Viel­leicht da­her sein En­thu­si­as­mus, als ich mich als Tee­nie für das Kurz­wel­len­hö­ren in­ter­es­sier­te und er mir das Mor­se­al­pha­bet leh­ren woll­te.) Be­mer­kung vom 03.11.1943: Er wird als »Ge­frei­ter« ge­führt. Die Da­ten der bei­den do­ku­men­tier­ten La­za­ret­t­auf­ent­hal­te – 30.12.1943 Ber­lin und 28.03.1944 Prag – sind eher my­ste­ri­ös. Wie auch die Dia­gno­se »Ik­te­rus« beim Ber­li­ner La­za­ret­t­auf­ent­halt.

Ver­mut­lich war er nach ei­ner Ver­wun­dung En­de 1943 wie­der als kampf­fä­hig ein­ge­stuft wor­den. Was von sei­nen Ge­schich­ten aus dem Krieg bleibt (meist nur an­ek­do­ti­sches über an­de­re Ka­me­ra­den) – fast nichts, au­ßer sei­ne Hin­wei­se auf Ver­wun­dun­gen (ei­ne war auch im­mer sicht­bar ge­we­sen, an ei­nem Bein, an­geb­lich ein Gra­nat­split­ter). Russ­land? Kei­ne An­ga­ben da­zu. Aber ja, er muss wohl na­he­zu die ge­sam­te Kriegs­zeit als Sol­dat ein­ge­setzt wor­den sein. Im­mer­hin: Schlim­mes gab es nicht. Al­so auch nichts zum An­ge­ben nebst In­sze­nie­ren von Selbst­be­trof­fen­heit. Ge­frei­ter. Ka­no­nen­fut­ter, pfleg­te man zu sa­gen. Aber er hat sich der Nah­rungs­auf­nah­me auf dem Buf­fet des Schlacht­fel­des ent­zie­hen kön­nen. Wie Mil­lio­nen, die oh­ne Stolz ein­fach nur durch­ka­men.

Und dann? 1948 Schei­dung und »amt­lich nach un­be­kannt ab­ge­mel­det«. Meh­re­re Adres­sen in Ber­lin, auch Ha­nau taucht ein­mal auf (1950). Be­ruf: »Elek­tro­tech­ni­ker«. Ir­gend­wann weiß Ber­lin nichts mehr über ihn.

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No­ra Bos­song: Auch mor­gen

[...] Bos­song reist zu Pro­zes­sen von (po­ten­ti­el­len) Kriegs­ver­bre­chern, be­fin­det sich bei Freun­den in Ita­li­en oder dem Iran, be­sucht Ge­denk­fei­er­lich­kei­ten in Ru­an­da, spürt den Gelb­we­sten­pro­te­sten in Pa­ris nach, be­fragt Non­nen in drei Frau­en­klo­stern, um Re­si­du­en des Abend­lands fest­zu­hal­ten und möch­te er­fah­ren, was die Men­schen im Braun­koh­le­ge­biet der Lau­sitz den­ken. Und ja, ei­ni­ge we­ni­ge Auf­sät­ze in die­sem ...

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Ma­thi­as Enard: Das Jah­res­ban­kett der To­ten­grä­ber

Da­vid Ma­zon, 1990 ge­bo­ren, ist ein flei­ßi­ger An­thro­po­lo­gie­stu­dent und zieht 2018 zu For­schungs­zwecken für ein Jahr von Pa­ris in den We­sten Frank­reichs, in das Dorf La Pierre-Saint-Chri­­sto­­phe, Dé­part­ment Deux-Sè­­­v­­res. Dort le­ben »nach der letz­ten Volks­zäh­lung 649 Ein­woh­ner« oder »284 Herd­feu­er, wie die Al­ten sa­gen wür­den«. Nach Ni­ort, der »Ver­si­che­rungs­haupt­stadt« Frank­reichs, sind es 15 Ki­lo­me­ter. Da­vid ...

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Nach­ge­tra­gen

»Wenn je­mand ei­ne Rei­se tut, so kann er was er­zäh­len…«, so lau­tet ein Volks­lied von Mat­thi­as Clau­di­us. Mi­cha­el Mar­tens kann auch et­was er­zäh­len, wenn er kei­ne Rei­se »tut«.

Und so »be­rich­tet« er al­so von Pe­ter Hand­kes Rei­sen nach Ser­bi­en und zur Re­pu­bli­ka Srps­ka im Mai 2021. Der Nicht-Oh­ren-und-Au­gen­zeu­ge Mar­tens weiß er­staun­li­cher­wei­se al­les. Gleich zu Be­ginn wird deut­lich, dass Hand­ke nicht ein­fach nur ei­ne Rei­se un­ter­nom­men hat, son­dern ei­ne »Ju­bel­tour­nee«. Und dass er die Or­den in Ban­ja Lu­ka, die er be­kam, mit dem Wor­ten »Dies ist ein gro­ßer Au­gen­blick für mich« kom­men­tiert hat­te. Er weiß mit wem sich Hand­ke ei­nig war, was man be­spro­chen hat, dass er ein Fuß­ball­tri­kot von Par­tizan Bel­grad »stolz« ge­tra­gen hat (so wie einst das von »Ro­ter Stern Bel­grad«? – bit­te, Herr Mar­tens, ich bren­ne auf die Ant­wort). Wenn Hand­ke von »Volk« re­de, so er­in­ne­re dies an den »Höcke-Flü­gel« der AfD. Was er nicht weiß, ist wie Hand­ke den Be­griff »Volk« ver­wen­det1. Wie soll­te er auch, denn da­für hät­te man sich mit dem Werk aus­ein­an­der­set­zen müs­sen.

Aus der Hand­ke-Re­de in Više­grad an­läss­lich des Ivo-An­drić-Prei­ses2 zi­tiert Mar­tens zwei Stel­len – und lässt den ent­schei­den­den Satz weg. Mei­nes Wis­sens er­wähn­te ihn nur Mla­den Gla­dić in sei­ner Be­richt­erstat­tung für die »Welt« – im In­ter­net hin­ter ei­ner Be­zahl­schran­ke sorg­sam ver­wahrt. Da­her soll – mit aus­drück­li­cher Ge­neh­mi­gung der Be­tei­lig­ten – Pe­ter Hand­kes spon­ta­ne Re­de vom 7. Mai 2021 in Više­grad in ei­ner Tran­skrip­ti­on von Žar­ko Rad­ako­vić hier ab­ge­druckt wer­den3:

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  1. Darüber gibt es seit den 1980er Jahren vielschichtige literaturwissenschaftliche Studien. Meine Gedanken dazu findet man hier: https://mirabilis-verlag.de/produkt/lothar-struck-erzaehler-leser-traeumer-begleitschreiben-zum-werk-von-peter-handke/ 

  2. Anlass war die serbische Übersetzung von "Das zweite Schwert. Eine Maigeschichte“ von Žarko Radaković "Drugi mač. Majska povest". Es wurde als Buch des Jahres 2020 in Serbien und Republika Srpska mit dem "Ivo Andrić Preis" ausgezeichnet. Peter Handke reiste am 7. Mai 2021 nach Višegrad, um den Preis persönlich entgegenzunehmen. Der andere Laureat, der serbische Schriftsteller Milovan Danojlić, war aus gesundheitlichen Gründen nicht nach Višegrad gekommen. 

  3. Handke hielt die Rede auf Deutsch; die Original-Aufnahme liegt mir vor 

Jür­gen Bro­koff: Li­te­ra­tur­streit und Bocks­ge­sang

Im Rah­men der Rei­he »Klei­ne Schrif­ten zur li­te­ra­ri­schen Äs­the­tik und Her­me­neu­tik« im Wal­l­­stein-Ver­­lag ist als Band 7 Jür­gen Bro­koffs Stu­die »Li­te­ra­tur­streit und Bocks­ge­sang« er­schie­nen. Zu­nächst ist man ob des Ti­tels ver­blüfft, um dann rasch fest­zu­stel­len, dass es tat­säch­lich um zwei Er­eig­nis­se der Li­te­ra­tur­re­zep­ti­on der Bun­des­re­pu­blik han­delt, die in­zwi­schen fast 30 Jah­re zu­rück­lie­gen. Ana­ly­siert wird zum ...

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Ro­bin Alex­an­der: Macht­ver­fall

Ro­bin Alex­an­der war 2017 mit »Die Ge­trie­be­nen«, der Chro­nik der Flücht­lings­kri­se 2015, ein Best­sel­ler ge­lun­gen, der spä­ter so­gar ver­filmt wur­de. Au­ßer bei ei­ni­gen po­li­ti­schen Wirr­köp­fen, die, je nach Fär­bung, Mer­kel­hass oder Mer­kel­er­ge­ben­heit nach­wei­sen woll­ten, gibt es bis heu­te kei­nen sach­li­chen Wi­der­spruch zu den akri­bi­schen Re­kon­struk­tio­nen des Au­tors. Alex­an­der do­ku­men­tier­te nicht nur die Über­for­de­run­gen der deut­schen ...

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