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Bossong reist zu Prozessen von (potentiellen) Kriegsverbrechern, befindet sich bei Freunden in Italien oder dem Iran, besucht Gedenkfeierlichkeiten in Ruanda, spürt den Gelbwestenprotesten in Paris nach, befragt Nonnen in drei Frauenklostern, um Residuen des Abendlands festzuhalten und möchte erfahren, was die Menschen im Braunkohlegebiet der Lausitz denken.
Und ja, einige wenige Aufsätze in diesem Band wirken ein bisschen wie Projektberichte, die man nach einem Stipendium zu verfassen hat. Man liest – und vergisst sie. Aber es gibt eben auch sehr starke Aufsätze und Essays (es ist die Mehrheit). Man erkennt sie daran, dass die Autorin an einer Beantwortung der aufgeworfenen Frage(n) tatsächlich interessiert ist, weil sie sich mit den bekannten Analysemustern eben doch nicht zufrieden gibt. Denn irgendwann taucht das Wörtchen »dennoch« auf (oder auch »trotzdem«). Denn nichts ist eindeutig, auch das zunächst Vordergründige nicht. Warum gehen zum Beispiel Frauen heutzutage in ein Kloster? Ihre Reise und die etwas hektisch aneinander gereihten Gesprächssentenzen mit den Nonnen geben eine verblüffende Antwort, die zwar ebenfalls nicht absolut zu setzen ist, aber in dieser Form für mich neu war.
Den vollständigen Beitrag »Plädoyer für Pragmatismus« hier bei Glanz und Elend weiterlesen.
Mir scheint, das Plädoyer wurde ohne viel Überzeugung vorgetragen. Der Pragmatismus wird für vernünftig erachtet, aber recht viel verspricht sich die Bossong davon offenbar nicht. Klar, Utopien und Religionen sind überlegen in Sachen blinder Optimismus, weil ja dort gewaltige Energien zwischen den Polaritäten umgeschlagen werden, und die Hoffnungen am Rande zerstörerischer Visionen gedeihen. Natürlich ist der Klimawandel bestens geeignet für den Weinanbau an den Hängen der Weltuntergangs-Vulkane.
Die Literatur sitzt endgültig in der Klemme. Vorallem die Poesie, ihr nackiger kleiner Putto! Die Politik hat die Schwindsucht, die Religion vertrocknet, und die Zeit rast. An den Institutionen hält man fest, klar. Aber das eben noch strahlendjunge tausendjährige Europäische Reich hat auch schon ein paar Fältchen gekriegt. Alles geht so schnell. Keine zwanzig Jahre, und Geschichte ändert sich. Also nicht, dass sich die Vergangenheit ändern würde, aber irgendwie sogar das...
Naja, Pragmatismus ist das harte Brett, das niemand abhobeln möchte. Er verlangt Zeit. Der permanente Hinweis, dass man die nicht habe, schränkt – scheinbar – seine Möglichkeiten ein.
Die Poesie als Putto. Schönes Bild. Ein bisschen zynisch, aber es hat was.
Literatur wird Nische werden. Solange die Subventionen noch laufen.
Verständnisfrage, Sie schreiben: Einzig dem »literarischen Denken« konzediert Bossong die Möglichkeit (...) zur Überwindung des Pragmatismus. – Sehr sperrig, die Formulierung. – Politisch ist eine Überwindung des Pragmatismus immer falsch. Dahinter steckt offenbar der Wunsch, einem Zwangsregime zu entgehen, das wir gesellschaftliche Anpassung nennen, um nicht handeln zu müssen sondern schreiben zu können. Ins Kritische gewendet: sind der Wahrheiten und Letzturteile wirklich dermaßen viele (Kolonialismus, Globalisierung, Menschenrechte), dass die geneigte Autorin die Erlaubnis zur Anfertigung eines Kunstwerks nur noch nach harten Verhandlungen mit dem Über-Ich lizensiert kriegt?! Dann würde ich sie bedauern...
Pragmatismus fällt ja nicht vom Himmel, sondern ist eine Abwägung. Literatur muß nicht abwägen; so interpretiere ich die Formulierung. Im Buch steht: »Doch das literarische Denken hat gerade die Kraft, das, was auf der planen Fläche der Wirklichkeit geschieht, zu übersteigen und zu durchdringen. Sie kann Utopien schaffen, ja, allerdings ist mein Wunsch danach vorsichtiger geworden.«
Der letzte Satz ist entscheidend. Denn wem ist aktuell am Ende mit Utopien geholfen? Und landeten nicht die meisten politischen Utopien am Ende ganz irgendwo anders? Dennoch können sie als Ausgangspunkt nützlich sein.
Direkt weiter steht dort: »Sie [die Literatur] hat vor allem die Kraft, uns ins Herz zu sehen ebenso wie dorthin, wo alles, was wir mit dem Herzen verbinden, aufhört, in die Abgründe und auf die Versteinerungen unserer Gefühle wie unseres Denkens.« Das ist natürlich Idealismus pur. Aber dies zu schreiben und gleichzeitig zu wissen, dass die Welt dann doch ganz anders funktioniert – das nenne ich Pragmatismus.
Literatur schafft nach dieser Sicht eine Art Utopiengebilde, von dem dann bergbauartig der Alltag abgetragen werden muss. Es ist wohl der verzweifelte Versuch, einer womöglich ansonsten eher als nutzlos empfundenen Literatur eine Bedeutung zu geben. Nicht umsonst kommt in dem Text über den späteren Papst der Terminus des Trostes zur Sprache, dem Literatur auch »dienen« könnte.