Phil­ipp Sa­ra­sin: 1977 – Ei­ne kur­ze Ge­schich­te der Ge­gen­wart

Philipp Sarasin: 1977 - Eine kurze Geschichte der Gegenwart

Phil­ipp Sa­ra­sin: 1977 – Ei­ne kur­ze Ge­schich­te der Ge­gen­wart

Vor ei­ni­gen Jah­ren er­schien ein Buch mit dem Ti­tel »1976 – Die DDR in der Kri­se«. Der Au­tor Kar­sten Kram­pitz er­in­ner­te an Er­eig­nis­se, die ins­ge­samt (und rück­wir­kend) be­trach­tet ei­ne in­ter­es­san­te Ten­denz ein­läu­te­ten. Ne­ben der Aus­bür­ge­rung Wolf Bier­manns und dem Ar­rest des Re­gime­kri­ti­kers Ro­bert Ha­ve­mann, die auch im We­sten Deutsch­land aus­gie­big re­zi­piert wur­den, wa­ren es auch an­de­re Ent­wick­lun­gen, wie die Selbst­ver­bren­nung des Pa­stors Os­kar Brü­se­witz oder die sich in Frank­reich, Spa­ni­en und ins­be­son­de­re Ita­li­en im­mer stär­ke­re Rol­le der sich par­la­men­ta­risch or­ga­ni­sier­ten so­ge­nann­ten »eu­ro­kom­mu­ni­sti­schen« Par­tei­en, die mit dem Vor­rang der so­wje­ti­schen KPdSU bra­chen und da­mit die SED vor Pro­ble­men stell­ten. Be­ant­wor­tet wur­de dies, in dem Erich Hon­ecker auch noch Staats­rats­vor­sit­zen­der wur­de und nun, wie einst Ulb­richt, bei­de Macht­po­si­tio­nen be­klei­de­te. Kram­pitz ver­lei­tet den Le­ser mit den Vor­gän­gen des Jah­res 1976 in­ne zu hal­ten und sie in ei­nen hi­sto­ri­schen Kon­text zu stel­len. Die Ab­sicht war zwar, die DDR nicht vom En­de her zu den­ken, aber es ist un­wei­ger­lich – und auch der Te­nor des Bu­ches – dass sich 1976 erst­mals ei­ner brei­ten Öf­fent­lich­keit zeig­te, dass die­ser Staat kri­sen­haf­te Sym­pto­me aus­bil­de­te.

Die Ver­su­chung, hi­sto­ri­sche Wen­de­punk­te mit fe­sten Da­ten zu ver­knüp­fen und da­mit ei­ne Fol­ge­rich­tig­keit zu ent­wickeln, ist ver­füh­re­risch. So er­schien im letz­ten Jahr von dem Hi­sto­ri­ker Frank Bösch »Zei­ten­wen­de 1979: Als die Welt von heu­te be­gann«, in dem welt­po­li­ti­sche Er­eig­nis­se des Jah­res 1979 als epo­chen- und zu­kunfts­bil­dend auf­ge­li­stet wur­den. Es ist tat­säch­lich leicht, in die­sem Jahr fün­dig zu wer­den: Die ira­ni­sche Re­vo­lu­ti­on, Mar­ga­ret That­cher wird bri­ti­sche Pre­mier­mi­ni­ste­rin, der Papst be­sucht sein Hei­mat­land Po­len, die So­wjet­uni­on mar­schiert in Af­gha­ni­stan ein, die kom­mu­ni­sti­schen San­di­ni­sten über­neh­men die Macht in Ni­ca­ra­gua, das Camp-Da­vid-Frie­dens­ab­kom­men zwi­schen Is­ra­el und Ägyp­ten wur­de von der Knes­set ge­bil­ligt, die Ver­ab­schie­dung des NA­TO-Dop­pel­be­schlus­ses und ein ge­wis­ser Deng Xiao­ping be­gann mit der Pla­nung für die öko­no­mi­schen Öff­nung Chi­nas.

Mit ei­ner ähn­li­chen Häu­fung nach­träg­lich als hi­sto­risch ein­ge­schätz­ter Ge­scheh­nis­se ver­mag das kürz­lich er­schie­ne­ne Buch von Phil­ipp Sa­ra­sin, »1977- Ei­ne kur­ze Ge­schich­te der Ge­gen­wart«, nicht auf­zu­war­ten. Sa­ra­sin, der Böschs Buch er­wähnt, ver­sucht, die »tie­fen ge­sell­schaft­li­chen, po­li­ti­schen, kul­tu­rel­len, wis­sen­schaft­li­chen und tech­no­lo­gi­schen Ver­schie­bun­gen und Brü­che in West­eu­ro­pa und den USA, die sich…auf ei­ne er­staun­li­che Wei­se im Jahr 1977 bün­deln las­sen« zu il­lu­strie­ren. Be­reits im Vor­wort lässt er sich und dem Le­ser ein biss­chen Lei­ne, in dem er das ge­sam­te Jahr­zehnt der 1970er Jah­re als »Schwel­len­jahr­zehnt« aus­macht. Wie es im wei­te­ren Ver­lauf des Bu­ches Usus sein wird, lässt er al­len mög­li­chen Be­fun­den frei­en Lauf, so dass auch To­ny Judts – freund­lich aus­ge­drückt – merk­wür­di­ges Ur­teil zi­tiert wird, die Sieb­zi­ger sei­en das »de­pri­mie­rend­ste Jahr­zehnt« des 20. Jahr­hun­derts ge­we­sen.

Prä­sen­tiert wird ei­ne im­mense Stoff­fül­le. Der An­mer­kungs­ap­pa­rat um­fasst ins­ge­samt 1142 End­no­ten (65 Sei­ten wer­den hier­für be­nö­tigt, wo­bei es na­he­zu aus­schließ­lich nur um die Nen­nung der Quel­len und wei­ter­füh­ren­den Re­fe­ren­zen geht). Zwar wer­den ei­ni­ge Tex­te mehr­fach zi­tiert, den­noch kann schät­ze ich viel­leicht 700 ver­schie­de­nen Quel­len, die zi­tiert wer­den bzw. als Re­fe­renz die­nen. Bis­wei­len droht in den um­fang­rei­chen Zi­ta­ten Sa­rasins zu ver­schwin­den, die sich aber ziel­si­cher im­mer dann mel­det, wenn es ans Gen­dern geht (bis­wei­len drei Mal auf ei­ner Sei­re), was in ei­ni­gen Fäl­len auch ko­misch ist, et­wa wenn von »Vik­ti­mo­lo­gin­nen und Vik­ti­mo­lo­gen« oder »Eso­te­ri­ke­rin­nen und Eso­te­ri­kern« die Re­de ist. Ge­ra­de­zu ab­surd mu­tet die schein­ba­re Not­wen­dig­keit an, An­gli­zis­men wie »User« zu gen­dern. Und über­all tum­meln sich »Stu­die­ren­de« und, sel­te­ner, »De­mon­strie­ren­de«, wo­bei man hofft, dass die be­tref­fen­den Per­so­nen in­zwi­schen aus­stu­diert und zu En­de de­mon­striert ha­ben. Die oh­ne­hin kräf­te­zeh­ren­de Lek­tü­re (sie­he wei­ter un­ten) wird durch die­sen Fir­le­fanz noch stra­pa­ziö­ser.

Das Buch ist ge­glie­dert durch fünf Ne­kro­lo­ge von Per­sön­lich­kei­ten, die im Jahr 1977 ge­stor­ben sind: Der Phi­lo­soph Ernst Bloch, die schwar­ze Frau­en- und Men­schen­recht­le­rin Fan­nie Lou Ha­mer, die Schrift­stel­le­rin Anaïs Nin (es wird ein Ge­heim­nis des Ver­fas­sers blei­ben, war­um aus­ge­rech­net sie als ir­gend­wie re­prä­sen­ta­ti­ve Fi­gur aus­ge­sucht wur­de), der Ly­ri­ker und Dreh­buch­au­tor Jac­ques Pré­vert (der Sa­ra­sin we­nig in­ter­es­siert) und den ehe­ma­li­gen deut­schen Wirt­schafts­mi­ni­ster und Bun­des­kanz­ler Lud­wig Er­hard.

Mit den Ne­kro­lo­gen sol­len Zä­su­ren il­lu­striert wer­den. Das ge­lingt leid­lich bei Bloch, wenn­gleich der Ver­such, den »aus­ge­beu­te­ten« Men­schen im Ka­pi­ta­lis­mus ei­ne »Hei­mat« zu ver­schaf­fen, d. h. den Zu­stand sei­ner Ar­beits- und Le­bens­be­din­gun­gen zu ver­bes­sern, 1977 längst nicht be­en­det war. Wie die kurz­fri­sti­gen Er­fol­ge des Eu­ro­kom­mu­nis­mus und die In­ter­ven­ti­on des nach wie vor mar­xi­stisch in­spi­rier­ten DDR-Funk­tio­närs Ru­dolf Bah­ro zeig­ten (bei­des wird an­ge­spro­chen), wur­den le­dig­lich die zum Teil ver­knö­cher­ten, kri­sen­haf­ten Struk­tu­ren der »so­zia­li­sti­schen« Sach­wal­ter – KPdSU, SED, KP Chi­na – be­fragt. Blochs Tod soll als Sym­bol zum Ab­ge­sang auf das Ide­al des mar­xi­stisch in­spi­rier­ten Kom­mu­nis­mus ge­le­sen wer­den. Un­ter­stützt wird die­se The­se mit der Par­al­le­le zum »Deut­schen Herbst« 1977, der die Des­il­lu­sio­nie­rung der größ­ten Tei­le der Lin­ken und RAF-Sym­pa­thi­san­ten (die Sa­ra­sin auf zeit­wei­se auf »ei­ni­ge hun­dert­tau­send Per­so­nen« ein­schätzt) in Deutsch­land be­deu­tet ha­ben soll. Hier gibt es durch­aus in­ter­es­san­tes An­schau­ungs­ma­te­ri­al. Da­nach wid­met sich der Fou­cault-Ken­ner Sa­ra­sin aus­gie­big dem fran­zö­si­schen Phi­lo­so­phen.

Fan­nie Lou Ha­mers Kampf um die Men­schen­rech­te, die­ses »mo­ra­li­sche Ur­me­ter«, als an­er­kann­ten Le­bens­rah­men für schwar­ze Frau­en in den USA der 1960er und 70er Jah­re steht syn­onym für den Fe­mi­nis­mus, wo­bei nu­an­cen­reich die Un­ter­schie­de zwi­schen schwar­zem und wei­ßem Fe­mi­nis­mus er­klärt wer­den. Hier geht es nicht um das En­de, son­dern der Be­ginn ei­ner neu­en Epo­che. Anaïs Nins Le­ben (und Li­te­ra­tur) wird als ex­em­pla­risch für ei­ne spi­ri­tu­el­le Glo­ba­li­sie­rung ge­nom­men, von der se­xu­el­len Be­frei­ung über Bagh­wan bis zu ei­nem ve­ri­ta­blen »Psy­cho­markt«, der als Re­li­gi­ons­er­satz fun­gier­te. In­ter­es­sant, dass man 1977 er­ste An­fän­ge ei­ner Iden­ti­täts­po­li­tik (»iden­ti­ty po­li­tics«) er­ken­nen kann; der Ur­sprung für die Fei­er des Sin­gu­lä­ren (Reck­witz wird im Vor­wort zi­tiert) und die Auf­lö­sung des »verbindende[n] Allgemeine[n]« zum »Patch­work der Min­der­hei­ten«. Hier­zu gibt es im kur­zen, nicht ein­mal 20seitigen Nach­wort, ei­ni­ge er­hel­len­de Er­läu­te­run­gen.

Konn­te man zu­nächst die bis­wei­len zu­nächst un­zu­sam­men­hän­gend schei­nen­den Fä­den mit gu­tem Wil­len noch zu­sam­men­füh­ren, so zeigt sich im wei­te­ren Ver­lauf des Bu­ches ein Trend zu ver­bal-or­na­men­ta­len Ab­zwei­gun­gen bis hin­ein in Nich­tig­kei­ten, die den Le­ser zu­se­hends er­mü­den. Da gibt es es­say­ar­ti­ge Aus­füh­run­gen über al­le mög­li­chen (und un­mög­li­chen) For­men der Be­rau­schung durch Dro­gen, die Sze­ne der in­di­schen (und eu­ro­päi­schen) Gu­rus nebst ih­ren glo­ba­li­sier­ten (Hinduismus-)Praktiken, die Men­schen zu sich sel­ber brin­gen (und ih­ren ei­ge­nen Reich­tum meh­ren) soll­ten und »Ge­mein­schafts­fik­tio­nen«, die Sa­ra­sin aus­schließ­lich der »neu­en Rech­ten« (de Be­noist und Eich­berg) zu­ord­net und die­se ih­rer Be­deu­tung nach et­was zu aus­führ­lich de­kon­stru­iert. Hier hät­te man sich ei­ne et­was aus­gie­bi­ge­re Be­schäf­ti­gung mit den Mo­del­len des Kom­mu­ni­ta­ris­mus und Li­be­ra­lis­mus ge­wünscht. Letz­te­ren be­zeich­net er spä­ter im Ka­pi­tel, wel­ches mit dem Ne­kro­log zu Lud­wig Er­hard be­ginnt, als »Irr­glau­be«, wo­bei an­ge­merkt wer­den muss, dass er die­sen aus­schließ­lich un­ter dem öko­no­mi­schen Aspekt be­trach­tet.

Ziem­lich miss­lun­gen ist das Ka­pi­tel, wel­ches mit dem Ne­kro­log von Jac­ques Pré­vert be­ginnt, der als »Kul­tur­ma­schi­ne« vor­ge­stellt wird, weil er in meh­re­ren Kul­tur­gen­res tä­tig war. Pré­vert selbst dient dem Au­tor nur als Brücke, um sich mit der sprung­haf­ten Ent­wick­lung der In­for­ma­ti­ons­tech­nik zu be­schäf­ti­gen. Denn 1977 er­blickt, so Sa­ra­sin, der PC das Licht der Welt. Die Ent­wick­lung vom Röh­ren- zum Tran­si­stor­ge­rät und schließ­lich zu den in der Raum­fahrt­tech­nik ver­wen­de­ten Mi­kro­chips wird als ex­po­nen­ti­el­ler Pro­zess be­schrie­ben. Zu­nächst wa­ren dies Ob­jek­te für (Radio-)Bastler. An ei­nen PC dach­te die In­du­strie da­mals nicht – eher an lei­stungs­fä­hi­ge Ta­schen­rech­ner oder an Ma­schi­nen, die Pro­duk­ti­ons­ab­läu­fe ra­tio­na­li­sie­ren konn­ten.

Den gän­gi­gen Hel­den­er­zäh­lun­gen über Bill Gates, Ste­ve Jobs und Ste­ve Woz­ni­ak er­teilt Sa­ra­sin ei­ne mil­de Ab­sa­ge; ih­nen wird le­dig­lich ein gu­tes Ti­ming für ih­re Ideen at­te­stiert, die an­de­re schon vor­her for­mu­liert hät­ten. Als »Held« wird eher Alan C. Kay ge­se­hen, der mit vi­sio­nä­rer Kraft den Per­so­nal­com­pu­ter als »In­stru­ment der Fan­ta­sie und der gren­zen­lo­sen Vor­stel­lungs­kraft« vor­aus­ge­sagt ha­be. Arg her­bei­ge­schrie­ben scheint der »An­teil« des Jah­res 1977 an der Er­schaf­fung des In­ter­nets. Aus­führ­lich wer­den dann noch die Ent­wick­lun­gen in der Un­ter­hal­tungs­elek­tro­nik be­spro­chen, wie die Ent­wick­lung des Plat­ten­spie­lers und Vi­deo­re­cor­ders (wo­bei man sich als Le­ser die Au­gen reibt, dass letz­te­rer nach nur 40 Jah­ren nur noch Elek­tro­schrott dar­stellt). Schließ­lich lernt man noch die Fein­hei­ten des Fil­mes »Sa­tur­day Night Fe­ver« zu schät­zen, be­kommt ei­nen Ein­blick in das »Stu­dio 54« in New York, er­fährt ei­ne er­staun­li­che Deu­tung über Don­na Sum­mers »I feel love«, lernt den schein­bar un­ter­schätz­ten Jean-Mi­chel Jar­re ken­nen (wäh­rend »Kraft­werk« als spie­ßi­ge Jungs dar­ge­stellt wer­den, weil sie ei­nen Ti­tel auf ei­nen über­kom­me­nen Lu­xus­zug [»Trans Eu­ro­pa Ex­press«] er­schaf­fen ha­ben) und be­kommt ei­ne Wür­di­gung der New Yor­ker Graf­fi­ti­kunst – be­vor sich dann aus­führ­lich den di­ver­sen Ar­chi­tek­tur­trends ge­wid­met wird.

Im letz­ten Ka­pi­tel, das den pa­the­ti­schen Ti­tel »Im Schat­ten der Na­tur« trägt, ver­sucht sich Sa­ra­sin zu­nächst an ei­ne Ab­rech­nung mit dem so­ge­nann­ten »Neo­li­be­ra­lis­mus«. Aus­ge­hend von Lud­wig Er­hard er­folgt ei­ne wil­de Po­le­mik ge­gen die or­do­li­be­ra­le Markt­wirt­schaft­ler der »Frei­bur­ger Schu­le«. Im Kon­zept der »for­mier­ten Ge­sell­schaft« (Er­hard und Mül­ler-Arm­ack) un­ter­stellt er mit der Ein­stu­fung als »Volks­ge­mein­schaft­nost­al­gie« rech­tes Ge­dan­ken­gut. Zum zwi­schen­zeit­li­chen Bö­se­wicht wird dann Fried­rich von Hay­ek er­klärt, be­vor es in Rich­tung That­cher und – na­tür­lich – USA (Ro­nald Rea­gan) geht. Un­ab­wend­bar ist schein­bar auch ein Auf­tritt von Do­nald Trump. Sein Coup, das Ar­ran­ge­ment mit der New Yor­ker Ad­mi­ni­stra­ti­on, das Com­mo­do­re-Ho­tel neu zu er­rich­ten, und zu ei­nem lu­kra­ti­ven Steu­er­spar­mo­dell für den jun­gen Im­mo­bi­li­en­mo­gul wur­de, sieht Sa­ra­sin als re­prä­sen­ta­tiv für die von Hay­ek pro­pa­gier­te Ideo­lo­gie des frei­en Mark­tes. Da­bei zeigt der Au­tor, dass er sei­nen ei­ge­nen Aus­füh­run­gen nicht traut, denn tat­säch­lich wa­ren die Ab­ma­chun­gen mit dem na­he am Bank­rott ste­hen­den New York al­les an­de­re als ein »frei­es« Spiel, son­dern Sub­ven­tio­nis­mus par ex­cel­lence.

Vom »lais­sez-fai­re« des Welt­han­dels und des­sen Ge­fah­ren geht es zur Ge­ne­tik und der auf­kom­men­den »so­zio­bio­lo­gi­schen De­bat­te«. Der fol­gen­de Es­say mit den Stand­punk­ten von E. O. Wil­son, Ri­chard Daw­kins, Sa­rah Bluf­fer Hr­dy und Ste­phen Jay Gould (um nur ei­ni­ge zu nen­nen) ist recht in­ter­es­sant. Das Ka­pi­tel en­det dann mit den »Pop-Kör­pern« von Farr­ah Faw­cett-Ma­jors und Ar­nold Schwar­zen­eg­ger, ei­nem Aus­flug in die Bo­dy-Buil­ding-Sze­ne (der USA!) und ei­ni­gen Be­trach­tun­gen über das (Marathon-)Laufen.

Trotz die­ser im­po­san­ten Ma­te­ri­al­fül­le, die Klei­nig­kei­ten zu epo­che­ver­än­dern­den Kri­te­ri­en ver­wan­deln, gibt es al­ler­dings Leer­stel­len. So feh­len prak­tisch jeg­li­che geo­po­li­ti­sche Ein­schät­zun­gen, was Sa­ra­sin auch schon im Vor­wort pro­ak­tiv an­merkt, aber ei­ni­ger­ma­ßen er­staunt. Zwar wird Hel­mut Schmidts Re­de über die Sta­tio­nie­rung der SS-20-Rak­ten der So­wjet­uni­on vor, wie Sa­ra­sin mo­kant an­merkt, »ver­mut­lich aus­schließ­lich männ­li­chen Ex­per­ten« in Lon­don er­wähnt (was ist dar­an be­mer­kens­wert?), aber die Hin­wei­se auf die­se Be­dro­hun­gen wer­den als »wie­der­ent­flamm­te Rhe­to­rik des kal­ten Krie­ges« sub­su­miert, so als sei die­ser 1977 nicht mehr exi­stent ge­we­sen. Der Hin­weis auf den NA­TO-Dop­pel­be­schluss nebst re­gem Zu­lauf der Frie­dens­be­we­gung zwei Jah­re spä­ter so­wie der so­wje­ti­sche Ein­marsch in Af­gha­ni­stan als Fort­set­zung der Bre­sch­new-Dok­trin (eben­falls 1979) un­ter­bleibt. Viel­leicht hat dies mit Sa­rasins Schwei­zer Na­tio­na­li­tät zu tun – im ver­meint­lich »neu­tra­len« Land schie­nen die Be­dro­hun­gen des bi­po­la­ren Kon­flikts im­mer et­was ent­rückt.

Von grund­sätz­li­chen Be­schrei­bun­gen all­täg­li­cher kul­tu­rel­ler Räu­me des Jah­res 1977 hat Sa­ra­sin eben­falls ab­ge­se­hen. Das Co­ver­bild – die Un­ter­füh­rung am Mes­se-Damm in Ber­lin-Char­lot­ten­berg – bleibt ei­ni­ge der we­ni­gen Re­mi­nis­zen­zen an das, was man ad hoc »ty­pisch« für die 1970er Jah­re emp­fin­det. Zwar wer­den die ver­han­del­ten The­ma­ti­ken auf die Ent­wick­lun­gen der zu­rück­lie­gen­den Zeit hin ana­ly­siert, aber sie en­den ab­rupt bei der »sa­kro­sank­ten zeit­li­chen Gren­ze« 31.12.1977. Das ist das Prin­zip des Bu­ches. Der Au­tor si­mu­liert den im Jahr le­ben­den Chro­ni­sten des Jah­res 1977, der die wei­te­ren Ent­wick­lun­gen und Kon­se­quen­zen nicht kennt (die Aus­nah­me bil­den das Vor- und das Nach­wort). In­so­fern ist der Un­ter­ti­tel »Ei­ne kur­ze Ge­schich­te der Ge­gen­wart« (ein Fou­cault-Wort, was bei Sa­ra­sin nicht über­rascht) fast wört­lich zu ver­ste­hen: der Er­zäh­ler ima­gi­niert ei­ne Ge­gen­wart, die für den Le­ser von heu­te 44 Jah­re ver­gan­gen ist. Na­tür­lich ist das nur ei­ne Il­lu­si­on, was auch der Au­tor weiß (und auch im Vor­wort an­deu­tet).

Das Prin­zip des »un­wis­sen­den Zeit­ge­nos­sen« wird al­ler­dings bei der Aus­wahl und Be­hand­lung der kul­tu­rel­len und so­zia­len Phä­no­me­ne non­cha­lant un­ter­gra­ben. So wür­de bei­spiels­wei­se Mar­ga­ret That­chers Auf­stieg bei den bri­ti­schen To­ries 1977 ge­nau­so we­nig Ge­gen­stand aus­gie­bi­ger Be­trach­tun­gen sein wie die po­li­ti­sche Ent­wick­lung des Schau­spie­lers Ro­nald Rea­gan, wenn die­se bei­den nicht spä­ter wich­ti­ge Prot­ago­ni­sten in der Welt­po­li­tik ge­wor­den wä­ren. Im Wis­sen um spä­te­re Ent­wick­lun­gen kön­nen Er­eig­nis­se von 1977 rück­wir­kend doch als ei­ne Art Zä­sur be­trach­tet wer­den, was z. B. den Fall der kom­mu­ni­sti­schen Sy­ste­me 1989 an­geht. Aber das kann man den Men­schen, die in den ver­blie­be­nen zwölf Jah­ren un­ter die­sen Re­gi­men ge­lebt ha­ben, aus der si­che­ren Po­si­ti­on in West­eu­ro­pa kaum glaub­haft ver­mit­teln. Da ist, ne­ben­bei ge­sagt, Kram­pitz’ Buch ehr­li­cher.

Das Be­har­ren, die ge­fun­de­nen Fä­den der Ver­än­de­run­gen, die das Jahr 1977 an­bie­tet, nicht (bzw, nur sehr un­zu­rei­chend) in ei­nen hi­sto­ri­schen Kon­text ein­zu­we­ben, lässt den Le­ser an­ders als bei der Lek­tü­re von Böschs eher chro­no­lo­gisch-de­skrip­tiv ver­fass­ten Kom­pen­di­um, in dem die 1979 be­gon­ne­nen Ent­wick­lun­gen skiz­zen­haft wei­ter­ge­führt wer­den, in ei­ne fru­strier­te Un­ge­wiss­heit. Denn wer wis­sen will, wie zum Bei­spiel die Cau­sa um den sich po­li­tisch ver­folgt füh­len­den RAF-An­walt Klaus Crois­sant fort­setz­te oder was aus den Bagh­wan-An­hän­gern und ih­rem Mei­ster wur­de, wer mehr über den Punk oder die Dis­co-Mu­sik der 1980er wis­sen will, ist ge­zwun­gen, auf Nach­schla­ge­wer­ke zu­zu­grei­fen. Geht es dar­um, Sa­rasins Buch als ei­ne Art Ba­sis zu den­ken, die den Le­ser zum Selbst­stu­di­um an­re­gen soll?

Wer für un­ter­schied­li­chen Me­di­ta­ti­ons­for­men in­ter­es­siert oder für die »Phi­lo­so­phie der Pro­gram­mier­spra­chen« be­gei­stern kann, nä­he­res über die Pro­ble­me des Neo­sym­bo­lis­mus in der Ar­chi­tek­tur nebst »Beau­bourg-Ef­fekt« nach­voll­zie­hen oder die Fein­hei­ten der Bronx-Sub­kul­tur ken­nen­ler­nen möch­te – der wird bei Sa­ra­sin fün­dig. Für die Dar­stel­lung mas­sen­kul­tu­rel­ler Phä­no­men der Sieb­zi­ger Jah­re oder sich neu ent­wickeln­de geo­po­li­ti­sche Kon­flikt­li­ni­en müs­sen an­de­re Pu­bli­ka­tio­nen her­an­ge­zo­gen wer­den.