Vor einigen Jahren erschien ein Buch mit dem Titel »1976 – Die DDR in der Krise«. Der Autor Karsten Krampitz erinnerte an Ereignisse, die insgesamt (und rückwirkend) betrachtet eine interessante Tendenz einläuteten. Neben der Ausbürgerung Wolf Biermanns und dem Arrest des Regimekritikers Robert Havemann, die auch im Westen Deutschland ausgiebig rezipiert wurden, waren es auch andere Entwicklungen, wie die Selbstverbrennung des Pastors Oskar Brüsewitz oder die sich in Frankreich, Spanien und insbesondere Italien immer stärkere Rolle der sich parlamentarisch organisierten sogenannten »eurokommunistischen« Parteien, die mit dem Vorrang der sowjetischen KPdSU brachen und damit die SED vor Problemen stellten. Beantwortet wurde dies, in dem Erich Honecker auch noch Staatsratsvorsitzender wurde und nun, wie einst Ulbricht, beide Machtpositionen bekleidete. Krampitz verleitet den Leser mit den Vorgängen des Jahres 1976 inne zu halten und sie in einen historischen Kontext zu stellen. Die Absicht war zwar, die DDR nicht vom Ende her zu denken, aber es ist unweigerlich – und auch der Tenor des Buches – dass sich 1976 erstmals einer breiten Öffentlichkeit zeigte, dass dieser Staat krisenhafte Symptome ausbildete.
Die Versuchung, historische Wendepunkte mit festen Daten zu verknüpfen und damit eine Folgerichtigkeit zu entwickeln, ist verführerisch. So erschien im letzten Jahr von dem Historiker Frank Bösch »Zeitenwende 1979: Als die Welt von heute begann«, in dem weltpolitische Ereignisse des Jahres 1979 als epochen- und zukunftsbildend aufgelistet wurden. Es ist tatsächlich leicht, in diesem Jahr fündig zu werden: Die iranische Revolution, Margaret Thatcher wird britische Premierministerin, der Papst besucht sein Heimatland Polen, die Sowjetunion marschiert in Afghanistan ein, die kommunistischen Sandinisten übernehmen die Macht in Nicaragua, das Camp-David-Friedensabkommen zwischen Israel und Ägypten wurde von der Knesset gebilligt, die Verabschiedung des NATO-Doppelbeschlusses und ein gewisser Deng Xiaoping begann mit der Planung für die ökonomischen Öffnung Chinas.
Mit einer ähnlichen Häufung nachträglich als historisch eingeschätzter Geschehnisse vermag das kürzlich erschienene Buch von Philipp Sarasin, »1977- Eine kurze Geschichte der Gegenwart«, nicht aufzuwarten. Sarasin, der Böschs Buch erwähnt, versucht, die »tiefen gesellschaftlichen, politischen, kulturellen, wissenschaftlichen und technologischen Verschiebungen und Brüche in Westeuropa und den USA, die sich…auf eine erstaunliche Weise im Jahr 1977 bündeln lassen« zu illustrieren. Bereits im Vorwort lässt er sich und dem Leser ein bisschen Leine, in dem er das gesamte Jahrzehnt der 1970er Jahre als »Schwellenjahrzehnt« ausmacht. Wie es im weiteren Verlauf des Buches Usus sein wird, lässt er allen möglichen Befunden freien Lauf, so dass auch Tony Judts – freundlich ausgedrückt – merkwürdiges Urteil zitiert wird, die Siebziger seien das »deprimierendste Jahrzehnt« des 20. Jahrhunderts gewesen.
Präsentiert wird eine immense Stofffülle. Der Anmerkungsapparat umfasst insgesamt 1142 Endnoten (65 Seiten werden hierfür benötigt, wobei es nahezu ausschließlich nur um die Nennung der Quellen und weiterführenden Referenzen geht). Zwar werden einige Texte mehrfach zitiert, dennoch kann schätze ich vielleicht 700 verschiedenen Quellen, die zitiert werden bzw. als Referenz dienen. Bisweilen droht in den umfangreichen Zitaten Sarasins zu verschwinden, die sich aber zielsicher immer dann meldet, wenn es ans Gendern geht (bisweilen drei Mal auf einer Seire), was in einigen Fällen auch komisch ist, etwa wenn von »Viktimologinnen und Viktimologen« oder »Esoterikerinnen und Esoterikern« die Rede ist. Geradezu absurd mutet die scheinbare Notwendigkeit an, Anglizismen wie »User« zu gendern. Und überall tummeln sich »Studierende« und, seltener, »Demonstrierende«, wobei man hofft, dass die betreffenden Personen inzwischen ausstudiert und zu Ende demonstriert haben. Die ohnehin kräftezehrende Lektüre (siehe weiter unten) wird durch diesen Firlefanz noch strapaziöser.
Das Buch ist gegliedert durch fünf Nekrologe von Persönlichkeiten, die im Jahr 1977 gestorben sind: Der Philosoph Ernst Bloch, die schwarze Frauen- und Menschenrechtlerin Fannie Lou Hamer, die Schriftstellerin Anaïs Nin (es wird ein Geheimnis des Verfassers bleiben, warum ausgerechnet sie als irgendwie repräsentative Figur ausgesucht wurde), der Lyriker und Drehbuchautor Jacques Prévert (der Sarasin wenig interessiert) und den ehemaligen deutschen Wirtschaftsminister und Bundeskanzler Ludwig Erhard.
Mit den Nekrologen sollen Zäsuren illustriert werden. Das gelingt leidlich bei Bloch, wenngleich der Versuch, den »ausgebeuteten« Menschen im Kapitalismus eine »Heimat« zu verschaffen, d. h. den Zustand seiner Arbeits- und Lebensbedingungen zu verbessern, 1977 längst nicht beendet war. Wie die kurzfristigen Erfolge des Eurokommunismus und die Intervention des nach wie vor marxistisch inspirierten DDR-Funktionärs Rudolf Bahro zeigten (beides wird angesprochen), wurden lediglich die zum Teil verknöcherten, krisenhaften Strukturen der »sozialistischen« Sachwalter – KPdSU, SED, KP China – befragt. Blochs Tod soll als Symbol zum Abgesang auf das Ideal des marxistisch inspirierten Kommunismus gelesen werden. Unterstützt wird diese These mit der Parallele zum »Deutschen Herbst« 1977, der die Desillusionierung der größten Teile der Linken und RAF-Sympathisanten (die Sarasin auf zeitweise auf »einige hunderttausend Personen« einschätzt) in Deutschland bedeutet haben soll. Hier gibt es durchaus interessantes Anschauungsmaterial. Danach widmet sich der Foucault-Kenner Sarasin ausgiebig dem französischen Philosophen.
Fannie Lou Hamers Kampf um die Menschenrechte, dieses »moralische Urmeter«, als anerkannten Lebensrahmen für schwarze Frauen in den USA der 1960er und 70er Jahre steht synonym für den Feminismus, wobei nuancenreich die Unterschiede zwischen schwarzem und weißem Feminismus erklärt werden. Hier geht es nicht um das Ende, sondern der Beginn einer neuen Epoche. Anaïs Nins Leben (und Literatur) wird als exemplarisch für eine spirituelle Globalisierung genommen, von der sexuellen Befreiung über Baghwan bis zu einem veritablen »Psychomarkt«, der als Religionsersatz fungierte. Interessant, dass man 1977 erste Anfänge einer Identitätspolitik (»identity politics«) erkennen kann; der Ursprung für die Feier des Singulären (Reckwitz wird im Vorwort zitiert) und die Auflösung des »verbindende[n] Allgemeine[n]« zum »Patchwork der Minderheiten«. Hierzu gibt es im kurzen, nicht einmal 20seitigen Nachwort, einige erhellende Erläuterungen.
Konnte man zunächst die bisweilen zunächst unzusammenhängend scheinenden Fäden mit gutem Willen noch zusammenführen, so zeigt sich im weiteren Verlauf des Buches ein Trend zu verbal-ornamentalen Abzweigungen bis hinein in Nichtigkeiten, die den Leser zusehends ermüden. Da gibt es essayartige Ausführungen über alle möglichen (und unmöglichen) Formen der Berauschung durch Drogen, die Szene der indischen (und europäischen) Gurus nebst ihren globalisierten (Hinduismus-)Praktiken, die Menschen zu sich selber bringen (und ihren eigenen Reichtum mehren) sollten und »Gemeinschaftsfiktionen«, die Sarasin ausschließlich der »neuen Rechten« (de Benoist und Eichberg) zuordnet und diese ihrer Bedeutung nach etwas zu ausführlich dekonstruiert. Hier hätte man sich eine etwas ausgiebigere Beschäftigung mit den Modellen des Kommunitarismus und Liberalismus gewünscht. Letzteren bezeichnet er später im Kapitel, welches mit dem Nekrolog zu Ludwig Erhard beginnt, als »Irrglaube«, wobei angemerkt werden muss, dass er diesen ausschließlich unter dem ökonomischen Aspekt betrachtet.
Ziemlich misslungen ist das Kapitel, welches mit dem Nekrolog von Jacques Prévert beginnt, der als »Kulturmaschine« vorgestellt wird, weil er in mehreren Kulturgenres tätig war. Prévert selbst dient dem Autor nur als Brücke, um sich mit der sprunghaften Entwicklung der Informationstechnik zu beschäftigen. Denn 1977 erblickt, so Sarasin, der PC das Licht der Welt. Die Entwicklung vom Röhren- zum Transistorgerät und schließlich zu den in der Raumfahrttechnik verwendeten Mikrochips wird als exponentieller Prozess beschrieben. Zunächst waren dies Objekte für (Radio-)Bastler. An einen PC dachte die Industrie damals nicht – eher an leistungsfähige Taschenrechner oder an Maschinen, die Produktionsabläufe rationalisieren konnten.
Den gängigen Heldenerzählungen über Bill Gates, Steve Jobs und Steve Wozniak erteilt Sarasin eine milde Absage; ihnen wird lediglich ein gutes Timing für ihre Ideen attestiert, die andere schon vorher formuliert hätten. Als »Held« wird eher Alan C. Kay gesehen, der mit visionärer Kraft den Personalcomputer als »Instrument der Fantasie und der grenzenlosen Vorstellungskraft« vorausgesagt habe. Arg herbeigeschrieben scheint der »Anteil« des Jahres 1977 an der Erschaffung des Internets. Ausführlich werden dann noch die Entwicklungen in der Unterhaltungselektronik besprochen, wie die Entwicklung des Plattenspielers und Videorecorders (wobei man sich als Leser die Augen reibt, dass letzterer nach nur 40 Jahren nur noch Elektroschrott darstellt). Schließlich lernt man noch die Feinheiten des Filmes »Saturday Night Fever« zu schätzen, bekommt einen Einblick in das »Studio 54« in New York, erfährt eine erstaunliche Deutung über Donna Summers »I feel love«, lernt den scheinbar unterschätzten Jean-Michel Jarre kennen (während »Kraftwerk« als spießige Jungs dargestellt werden, weil sie einen Titel auf einen überkommenen Luxuszug [»Trans Europa Express«] erschaffen haben) und bekommt eine Würdigung der New Yorker Graffitikunst – bevor sich dann ausführlich den diversen Architekturtrends gewidmet wird.
Im letzten Kapitel, das den pathetischen Titel »Im Schatten der Natur« trägt, versucht sich Sarasin zunächst an eine Abrechnung mit dem sogenannten »Neoliberalismus«. Ausgehend von Ludwig Erhard erfolgt eine wilde Polemik gegen die ordoliberale Marktwirtschaftler der »Freiburger Schule«. Im Konzept der »formierten Gesellschaft« (Erhard und Müller-Armack) unterstellt er mit der Einstufung als »Volksgemeinschaftnostalgie« rechtes Gedankengut. Zum zwischenzeitlichen Bösewicht wird dann Friedrich von Hayek erklärt, bevor es in Richtung Thatcher und – natürlich – USA (Ronald Reagan) geht. Unabwendbar ist scheinbar auch ein Auftritt von Donald Trump. Sein Coup, das Arrangement mit der New Yorker Administration, das Commodore-Hotel neu zu errichten, und zu einem lukrativen Steuersparmodell für den jungen Immobilienmogul wurde, sieht Sarasin als repräsentativ für die von Hayek propagierte Ideologie des freien Marktes. Dabei zeigt der Autor, dass er seinen eigenen Ausführungen nicht traut, denn tatsächlich waren die Abmachungen mit dem nahe am Bankrott stehenden New York alles andere als ein »freies« Spiel, sondern Subventionismus par excellence.
Vom »laissez-faire« des Welthandels und dessen Gefahren geht es zur Genetik und der aufkommenden »soziobiologischen Debatte«. Der folgende Essay mit den Standpunkten von E. O. Wilson, Richard Dawkins, Sarah Bluffer Hrdy und Stephen Jay Gould (um nur einige zu nennen) ist recht interessant. Das Kapitel endet dann mit den »Pop-Körpern« von Farrah Fawcett-Majors und Arnold Schwarzenegger, einem Ausflug in die Body-Building-Szene (der USA!) und einigen Betrachtungen über das (Marathon-)Laufen.
Trotz dieser imposanten Materialfülle, die Kleinigkeiten zu epocheverändernden Kriterien verwandeln, gibt es allerdings Leerstellen. So fehlen praktisch jegliche geopolitische Einschätzungen, was Sarasin auch schon im Vorwort proaktiv anmerkt, aber einigermaßen erstaunt. Zwar wird Helmut Schmidts Rede über die Stationierung der SS-20-Rakten der Sowjetunion vor, wie Sarasin mokant anmerkt, »vermutlich ausschließlich männlichen Experten« in London erwähnt (was ist daran bemerkenswert?), aber die Hinweise auf diese Bedrohungen werden als »wiederentflammte Rhetorik des kalten Krieges« subsumiert, so als sei dieser 1977 nicht mehr existent gewesen. Der Hinweis auf den NATO-Doppelbeschluss nebst regem Zulauf der Friedensbewegung zwei Jahre später sowie der sowjetische Einmarsch in Afghanistan als Fortsetzung der Breschnew-Doktrin (ebenfalls 1979) unterbleibt. Vielleicht hat dies mit Sarasins Schweizer Nationalität zu tun – im vermeintlich »neutralen« Land schienen die Bedrohungen des bipolaren Konflikts immer etwas entrückt.
Von grundsätzlichen Beschreibungen alltäglicher kultureller Räume des Jahres 1977 hat Sarasin ebenfalls abgesehen. Das Coverbild – die Unterführung am Messe-Damm in Berlin-Charlottenberg – bleibt einige der wenigen Reminiszenzen an das, was man ad hoc »typisch« für die 1970er Jahre empfindet. Zwar werden die verhandelten Thematiken auf die Entwicklungen der zurückliegenden Zeit hin analysiert, aber sie enden abrupt bei der »sakrosankten zeitlichen Grenze« 31.12.1977. Das ist das Prinzip des Buches. Der Autor simuliert den im Jahr lebenden Chronisten des Jahres 1977, der die weiteren Entwicklungen und Konsequenzen nicht kennt (die Ausnahme bilden das Vor- und das Nachwort). Insofern ist der Untertitel »Eine kurze Geschichte der Gegenwart« (ein Foucault-Wort, was bei Sarasin nicht überrascht) fast wörtlich zu verstehen: der Erzähler imaginiert eine Gegenwart, die für den Leser von heute 44 Jahre vergangen ist. Natürlich ist das nur eine Illusion, was auch der Autor weiß (und auch im Vorwort andeutet).
Das Prinzip des »unwissenden Zeitgenossen« wird allerdings bei der Auswahl und Behandlung der kulturellen und sozialen Phänomene nonchalant untergraben. So würde beispielsweise Margaret Thatchers Aufstieg bei den britischen Tories 1977 genauso wenig Gegenstand ausgiebiger Betrachtungen sein wie die politische Entwicklung des Schauspielers Ronald Reagan, wenn diese beiden nicht später wichtige Protagonisten in der Weltpolitik geworden wären. Im Wissen um spätere Entwicklungen können Ereignisse von 1977 rückwirkend doch als eine Art Zäsur betrachtet werden, was z. B. den Fall der kommunistischen Systeme 1989 angeht. Aber das kann man den Menschen, die in den verbliebenen zwölf Jahren unter diesen Regimen gelebt haben, aus der sicheren Position in Westeuropa kaum glaubhaft vermitteln. Da ist, nebenbei gesagt, Krampitz’ Buch ehrlicher.
Das Beharren, die gefundenen Fäden der Veränderungen, die das Jahr 1977 anbietet, nicht (bzw, nur sehr unzureichend) in einen historischen Kontext einzuweben, lässt den Leser anders als bei der Lektüre von Böschs eher chronologisch-deskriptiv verfassten Kompendium, in dem die 1979 begonnenen Entwicklungen skizzenhaft weitergeführt werden, in eine frustrierte Ungewissheit. Denn wer wissen will, wie zum Beispiel die Causa um den sich politisch verfolgt fühlenden RAF-Anwalt Klaus Croissant fortsetzte oder was aus den Baghwan-Anhängern und ihrem Meister wurde, wer mehr über den Punk oder die Disco-Musik der 1980er wissen will, ist gezwungen, auf Nachschlagewerke zuzugreifen. Geht es darum, Sarasins Buch als eine Art Basis zu denken, die den Leser zum Selbststudium anregen soll?
Wer für unterschiedlichen Meditationsformen interessiert oder für die »Philosophie der Programmiersprachen« begeistern kann, näheres über die Probleme des Neosymbolismus in der Architektur nebst »Beaubourg-Effekt« nachvollziehen oder die Feinheiten der Bronx-Subkultur kennenlernen möchte – der wird bei Sarasin fündig. Für die Darstellung massenkultureller Phänomen der Siebziger Jahre oder sich neu entwickelnde geopolitische Konfliktlinien müssen andere Publikationen herangezogen werden.