Seine Eltern verstarben kurz hintereinander. Angeblich hatte sich sein Vater (Berufsbezeichnung »Kaufmann«) umgebracht. Amtlich verstarb der Vater 1931 (mit 58), die Mutter 1933 (mit 42), wobei ich jeweils unterschiedliche Geburtsdaten vorliegen habe. Mit 20 war mein Vater also Waise.
Berliner Aktenabschriften. Heirat 1941, ein Sohn 1942. Schon am 19.09.1939 wurde er eingezogen, zu einer »Funk-Ersatz-Kompanie« in Berlin, wo er auch damals lebte. »Ein Entlassungsdatum ist nicht abgegeben«, heißt es. Schließlich am 31.12.1943 »Wiedereinberufung«. Am 28.04.1944 »Luftnachrichtenschule« in Königgrätz. (Vielleicht daher sein Enthusiasmus, als ich mich als Teenie für das Kurzwellenhören interessierte und er mir das Morsealphabet lehren wollte.) Bemerkung vom 03.11.1943: Er wird als »Gefreiter« geführt. Die Daten der beiden dokumentierten Lazarettaufenthalte – 30.12.1943 Berlin und 28.03.1944 Prag – sind eher mysteriös. Wie auch die Diagnose »Ikterus« beim Berliner Lazarettaufenthalt.
Vermutlich war er nach einer Verwundung Ende 1943 wieder als kampffähig eingestuft worden. Was von seinen Geschichten aus dem Krieg bleibt (meist nur anekdotisches über andere Kameraden) – fast nichts, außer seine Hinweise auf Verwundungen (eine war auch immer sichtbar gewesen, an einem Bein, angeblich ein Granatsplitter). Russland? Keine Angaben dazu. Aber ja, er muss wohl nahezu die gesamte Kriegszeit als Soldat eingesetzt worden sein. Immerhin: Schlimmes gab es nicht. Also auch nichts zum Angeben nebst Inszenieren von Selbstbetroffenheit. Gefreiter. Kanonenfutter, pflegte man zu sagen. Aber er hat sich der Nahrungsaufnahme auf dem Buffet des Schlachtfeldes entziehen können. Wie Millionen, die ohne Stolz einfach nur durchkamen.
Und dann? 1948 Scheidung und »amtlich nach unbekannt abgemeldet«. Mehrere Adressen in Berlin, auch Hanau taucht einmal auf (1950). Beruf: »Elektrotechniker«. Irgendwann weiß Berlin nichts mehr über ihn.
Heute vor dreißig Jahren, am 8. September 1991, starb Hans Conrad Struck, mein Vater. Es war ein Sonntag, er lag wie seit vielen Wochen in seinem Bett, wimmerte bisweilen. Plötzlich schrie er wie noch nie zuvor. Der Arzt war nicht erreichbar. Es wäre endlich Zeit für künstliche Ernährung, so dachten wir damals. Vielleicht hatte er schlichtweg Hunger; Essen konnte er kaum noch, selbst Flüssigkeiten kamen nach kurzer Zeit wieder heraus. Es war eine Qual. Aber der Arzt wollte noch warten. Worauf nur.
Ein paar Tage zuvor war ich aus einem Urlaub zurückgekommen, da konnte man mit ihm noch normal reden. Er gab mir sogar die Hand, etwas, was er sonst nur früher, beim Spiel machte, als Besiegelung irgendeiner Wette – mein vor dein, etwa, um einen Fünfer oder eher weniger, dieses Spiel um das ewige Rechthabenwollen, ausgehend fast immer vom Sohn.
Er schrie also und wir versuchten unser Mittagessen im Wohnzimmer. Seine Rufe, die unbestimmt waren, eher Schmerzenslaute, drangen über den Flur bis zu uns. Es schmeckte nicht. Was tun? Wir hatten Zäpfchen bekommen gegen die Schmerzen und schließlich setzte U. ihm eines; er, der stets ungeliebte, aber geduldete Stiefsohn war ja längst zu seinem Pfleger geworden. Die Schreie verstummten, aber er war unsicher.
Irgendwann wunderten wir uns dann, dass nichts mehr zu hören waren, nicht mal mehr dieses schnarchende Röcheln. Und dann war es plötzlich klar. Er war tot. Wie lange wohl schon? Männer kamen nach einer Stunde und baten, dass wir den Raum verlassen. Die Trostphrasen quollen aus uns heraus. Er hat es überstanden, versicherten wir uns, aber vor allem hatten wir es überstanden. U. hat sich danach lange Vorwürfe gemacht, als hätte er mit dem Schmerzzäpfchen den Mann getötet. Vielleicht denkt er das heute noch, manchmal.
Ich habe das alles (und einiges mehr) vor vielen Jahren beschrieben, hier, aber vor allem in einem Büchlein, dass ich später verflucht habe aber am Ende war es gut, dass es da war, weniger für die zwanzig, dreißig Leute, die es vielleicht gelesen haben als für mich, als eine Art Gedächtnisstütze, obwohl ich vieles nicht geschrieben habe, weil ich es mir damals nicht einfiel oder ich fürchtete, etwas schön- oder hässlich zu färben.
Vor ein paar Jahren wurde das Grab in Mönchengladbach eingeebnet. Meine Besuche waren von Düsseldorf aus immer weniger geworden, aber als dann die Stelle tatsächlich verschwunden war, ging ich wieder häufiger hin, suchte mit alten Fotos nach dem Ort, wo seine Gebeine lagen, die man nun auf irgendeinem Haufen auf einem eingezäunten Platz auf dem Friedhof abgelegt hatte, zusammen mit all den anderen 25-Jahre-Toten im Spätsommer/Herbst 1991. Meine Orientierungslosigkeit verließ mich auch jetzt nicht. Ich wurde einmal fast wahnsinnig, weil ich die Stelle nicht finden konnte und die Fotos, die mir helfen sollten, nicht auf dem Smartphone hatte. Ich trottete schließlich zurück mit kindlicher Wut über mich selber.
Jetzt wohne ich 600 km entfernt und war seit zwei Jahren nicht mehr in meiner Geburtsstadt. Den Ort, der keiner mehr ist, vermisse ich nicht. Sehr selten, dass ich von meinem Vater träume. Ich bin dann wieder Kind, aber er ist, wie immer, nur kurz da. Das Gute ist, dass ich weiß, dass es nur ein Traum ist. Ich schaue mir dann selber zu. Beim Umzug fand ich wieder seine wenigen Briefe und Postkarten, die er uns von seinen Messereisen schickte (ein Brief ist auch im Buch). Warum kam alles so, wie es kam? Ich habe, wenn es nach ihm geht, noch fünfzehn Jahre Zeit, es herauszufinden.
Ich las Grindelwald, denke es war im Dezember 2014. Es nimmt in meinen Regalen einen besonderen Platz ein und beim Lesen des Artikels habe ich es auf Anhieb gefunden. Es liegt vor mir ...
Jetzt, eigentlich, sollte ich Prag stadtwärts – blieb ich bei den Zeilen hängen. Gestern nach einer 12 stündigen Bahnfahrt (als ich nach dem Verlassen des Prager Hauptbahnhofs im Park die Maske abnahm schnappte ich nach ungefilteter Luft ...) bin ich wieder in Prag gelandet. Noch lebende Verwandte, Freunde und Gräber zu besuchen war der Hauptgrund meiner Österreich Reise.
Auf den Friedhöfen sah ich auf Gräbern Aufkleber »Grabrecht ausgelaufen«. Meine 82jährige Mama hat alles für ihr Begräbnis vorbereitet, sie will verbrannt werden – weil ja niemand mehr in diesem ihren Wohnort lebe, der das Grab pflegen könnte und ungepflegte Gräber wären ihr ein Graus. Sie radelt beinahe jeden Tag zum Grab ihres verstorbenen ersten Ehemanns, meinen Vater: Grabpflege.
Ich habe früher die Menschen nicht verstanden, die täglich (oder sehr häufig) zu den Gräbern gegangen waren (meist Frauen). Inzwischen ist das anders. Es strukturiert den Tag und erneuert auf eine gewisse, andere Weise die Verbindung zum Verstorbenen.
In Mönchengladbach musste man sich entscheiden: Miete der Grabstelle für 25 Jahre (einmalige Zahlung) oder Kauf (der bestimmt auch befristet ist, aber länger). Wir hatten uns für Miete entschieden. Umentscheidung wäre möglich gewesen. Dann wäre das Grab exhumiert und an einen anderen Ort gebracht worden. Wir dachten pragmatisch: Wie alt sind wir in 25 Jahren? Und vor allem: Wo?
Ich gehe gerne über Friedhöfe, auch hier in Augsburg. Der nächste ist wenige Minuten Fußweg entfernt. Teilweise prachtvolle Grabstätten mit Säulen gibt es dort; Familiengräber, die immer wieder aufgestockt werden. Aber auch hier werden die Löcher größer; in Düsseldorf war dies noch deutlicher. Miet- und Kaufverträge laufen scheinbar aus. Niemand ist mehr da oder will die Grabstätte weiter pflegen (lassen).
Irgendwann ist ja in der Verwandtschaft auch niemand mehr übrig, der/die den/die Verstorbene(n) noch persönlich kannte. Das senkt die Motivation zur Investition erheblich. Hierorts in der »Denkmalstadt« Fürth werden bei Auslaufen der Grabstättenverträge mitunter auch kulturhistorisch relevante Monumente aus der sog. Gründerzeit abgeräumt, weil sie – trotz aller gegebenen Merkmale – eben gerade nicht unter Denkmalschutz stehen (warum auch immer).
Ich gehe übrigens gleichfalls gerne über Friedhöfe, auch und gerade auf Urlaubsreisen ins Ausland. Die Vielfalt der Gebräuche und der Ausgestaltungen von Gräbern ist verblüffend und übt auf mich eine morbide Faszination aus.