C 12

Nach Kaf­fee und Scho­ko­la­den­eis mit Sah­ne bei de Mar­co (wie im­mer) wei­ter durch Eicken, mei­nem Kind­heits­vier­tel, seit Jahr­zehn­ten ver­kehrs­be­ru­higt und längst öko­nomisch ster­bens­krank, so vie­le Lä­den, die ge­schlos­sen sind, ei­ni­ge seit Jah­ren, teils trot­zig mit ih­ren zu­ge­kleb­ten Schei­ben oder die­sem ur­alten, ver­ro­ste­ten Roll­git­ter vor dem ein­sti­gen Op­ti­ker­ge­schäft, des­sen Bril­len ich heu­te sehr sel­ten noch als Er­satz für den Er­satz ver­wen­de. An der Spar­kas­se links ab­ge­bo­gen auf die Schwo­gen­stra­sse, wo einst M. sein Haus hat­te, je­ner M., der im Früh­jahr starb und in der To­des­an­zei­ge hat­te ich zum er­sten Mal sei­nen Jahr­gang ge­le­sen (er war 26 Jah­re jün­ger als mein Va­ter) und den Spruch von der »lie­be­vol­len Für­sor­ge«, der da ver­wen­det wur­de, war der­art ge­heu­chelt, dass mir übel wur­de; ihm, die­sem Fremd­gän­ger und Cho­le­ri­ker wur­de im Tod ein Denk­mal der fa­mi­liä­ren Tu­gend er­rich­tet und da er­in­ner­te ich mich an sei­ne her­ri­sche Art, mit der er mei­nen Va­ter kom­man­dier­te und die Ver­ach­tung, die ich mei­nem Va­ter da­für zoll­te, dass er sich der­art kom­man­die­ren ließ und nur ganz kurz, als ich nach der Schu­le kei­ne Lehr­stel­le be­kom­men hat­te und ar­beits­los war, »ar­bei­te­te« ich für M., ana­ly­sier­te die wö­chent­lich er­schei­nen­den »Renn­ka­len­der«, ex­tra­hier­te be­stimm­te Da­ten von Pfer­den und Trai­nern aus die­sen Li­sten, die ich ihm dann auf­be­rei­te­te und als die­ses oder je­nes dann er­geb­nis­re­le­vant war, be­schimpf­te er mich, war­um ich ihm das nicht ge­sagt hat­te, da­bei hat­te ich es ge­sagt aber nur ein­mal und dann auf mei­ne Auf­zeichnungen ver­wie­sen und grob fuch­telnd wehr­te er ab, das »Ge­schreib­sel« ha­be er doch nicht ge­le­sen oder so­fort wie­der ver­ges­sen, ich müs­se es ihm sa­gen, mehr­mals, im­mer wie­der und in der näch­sten Wo­che sag­te ich ihm die Auf­fäl­lig­kei­ten und er rich­te­te sich mit sei­nen Wet­ten da­nach, aber nichts traf zu und er schimpf­te wie­der und dann ich hör­te auf, nahm die 50 Mark für die zwei Wo­chen und von nun an ver­such­te ich, ihn wie Luft zu be­han­deln.

Vor­bei al­so an sei­nem ehe­ma­li­gen Haus, im­mer wei­ter ge­ra­de­aus, ein paar hun­dert Me­ter wei­ter rechts da­von war bis vor ein paar Jah­ren das Bö­kel­berg­sta­di­on, jetzt ist dort ei­ne Neu­bau­sied­lung, aber ich muss ge­ra­de­aus, vor­bei an ei­nem Haus mit ei­nem of­fe­nen Kü­chen­fen­ster und es klap­pern die Tel­ler dort (es ist Mit­tags­zeit), dann rechts hin­ein in den Bun­ten Gar­ten, den ich einst so oft be­such­te, wenn ich in Ru­he le­sen woll­te, un­ter der klei­nen Land­stra­ßen­brücke hin­durch und dann nach ir­gend­wann links in ei­nem klei­nen, unschein­baren Weg mit duf­ten­dem Na­del­ge­hölz (nur am An­fang des We­ges) und dann geht man auf den Ein­gang Pe­ter-Non­nen­müh­len-Al­lee zu, links die Häu­ser, in de­nen frü­her bri­ti­sche Of­fi­zie­re ge­wohnt ha­ben sol­len und dann steht man vor dem Friedhofs­eingang, sieht die­ses Rie­sen­kreuz »Für Al­le« und ich schlei­che her­um, an den mi­li­tä­risch auf­ge­reih­ten so­ge­nann­ten Ge­fal­le­nen vor­bei, su­che den di­rek­ten Weg zum Grab mei­nes Va­ters, C 12 muss es ein, aber ich fin­de ihn wie­der ein­mal nicht, ver­pas­se die Brücke, ste­he fast un­ter ihr und ma­che mich auf ei­nen wei­ten Um­weg, end­lich dann die To­ten­hal­le und von da aus geht es doch ganz schnell und da se­he ich die­sen Zet­tel, ver­rutscht, hin­ter Glas, auf dem an­ge­zeigt wird, dass am 1. No­vem­ber die »Ru­he­frist« in »Feld C, 12« ab­ge­lau­fen sei und ich wun­de­re mich ein we­nig über das Wort »Ru­he­frist«, denn neu­lich, als ich in Kon­takt mit der Fried­hofs­ver­wal­tung das Grab mei­ner Mut­ter nach zwan­zig Jah­ren, al­so fünf Jah­re vor der Zeit, auf­lö­sen woll­te, hieß es »Ru­he­zeit« und jetzt al­so »Ru­he­frist«.

Ich über­le­ge, ob »Lie­ge­zeit« nicht neu­tra­ler wä­re, denn »Ru­he« im­pli­ziert doch die Es­senz des christ­li­chen Glau­bens, die Auf­er­ste­hung und neu­lich, in ei­nem lä­cher­li­chen Ent­we­der-Oder-Spiel frag­te De­nis Scheck ei­ne Schrift­stel­le­rin »Grab oder Ur­ne« und sie ant­wor­te­te em­pha­tisch mit »Grab« und im Ge­mur­mel der bei­den fiel das Wort »Auf­er­ste­hung« und tat­säch­lich, wenn et­was ruht, dann ist es vor­läu­fig oder ist es nur ei­ner die­ser Be­stat­tungs-Eu­phe­mis­men?

Ich ste­he al­so ein letz­tes Mal vor dem Grab mei­nes Va­ters, je­nem Ort, den ich in den letz­ten 25 Jah­ren hun­der­te Ma­le be­sucht hat­te; zu­nächst sehr oft, als ich noch in Mön­chen­glad­bach leb­te, spä­ter dann eher sel­ten, und U. hat­te die Pfle­ge über­nom­men, au­ßer die Be­pflan­zun­gen, die erst im Wech­sel, spä­ter dann mei­stens wir aus Düs­sel­dorf mach­ten und mit dem Au­to hin­fuh­ren. U ist seit mehr als ei­nem Jahr nicht mehr so mo­bil, al­les wird zu be­schwer­lich, be­son­ders das Gie­ßen im Som­mer, ei­ne enor­me An­stren­gung für ihn und so ka­men wir über­ein, Mut­ters Grab mit Ra­sen ein­sä­en zu las­sen und der Witz an der Sa­che ist, dass das so­gar Geld ko­stet, d. h. wenn wir fünf Jah­re die Grab­stät­te hät­ten ver­wil­dern las­sen, wä­ren wir nicht be­langt wor­den, aber so wa­ren es fast 400 Eu­ro für die fünf Jah­re.

In den Grab­rei­hen bei mei­nem Va­ter (Be­er­di­gungs­zeit­raum 1991) sah es zum Teil aben­teu­er­lich aus. Wild be­wach­sen, Kreuz­ge­split­ter; bei ei­ner Grab­stät­te war der Stein um­ge­stürzt. Ober­fläch­lich konn­te man mei­nen, die Grä­ber sei­en ge­schän­det wor­den. Gel­be Zet­tel kleb­ten dort, die dar­auf hin­wie­sen, dass die Grab­stät­te »un­ge­pflegt« sei; die so­zia­le Höchst­stra­fe, aber es gab wohl kei­ne Adres­sa­ten mehr da­für, ent­we­der wa­ren die An­ge­hö­ri­gen weg­ge­zo­gen oder sel­ber tot oder wa­ren ge­sund­heit­lich an­ge­schla­gen oder, auch ei­ne Mög­lich­keit, sie hass­ten den Ver­stor­be­nen. Die To­ten hei­ßen Mi­cha­el, Hans, Ger­da, Jo­sef oder Jo­se­fi­ne – Na­men, die Ge­ne­ra­tio­nen an­zei­gen und heu­te Selten­heitswert ha­ben. Auch das Grab mei­nes Va­ters sieht nicht gut aus. Der Buchs­baum hat im­mer­hin kei­nen Züns­ler, aber ein Loch; ein Fehl­schnitt von mir ir­gend­wann ein­mal. Merk­wür­di­ger­wei­se ist das Fen­ster­chen der Grab­la­ter­ne, das im Früh­jahr lo­se war, im­mer noch an sei­nem Platz. An­ders als sonst kei­ne Spin­nen im Bo­den­decker.

Bald gibt es al­so kei­nen Ort mehr, den man auf­su­chen kann und der et­was mit mei­nem Va­ter zu tun hat. Lan­ge hat­te ich das er­sehnt; Grab­stät­ten sind lä­stig, zu­mal wenn man au­ßer­halb wohnt und kei­nen Gärt­ner be­auf­tra­gen will und kann. Aber es ist ein Ort ge­we­sen, der, wenn es denn ge­schah, ei­ne ge­wis­se Kon­tem­pla­ti­on er­mög­lich­te. Als ich an Grin­del­wald schrieb und das Grab be­such­te, be­gann ich da­mals plötz­lich zu wei­nen. Und so woll­te ich al­so ein letz­tes Mal die An­we­sen­heit mei­nes Va­ters spü­ren, setz­te mich so­gar vor das Grab (es war we­ni­ger ein­ge­sackt als so man­ches Jahr zu­vor; im­mer wie­der muss­te Er­de hin­zu­ge­fügt wer­den). Aber es ge­schah nichts in und mit mir. Ich sah ei­ne Plat­te mit dem Na­men mei­nes Va­ters und dem Ge­burts- und Ster­be­jahr, links der Buchs­baum, da­vor ei­ne ver­trock­ne­te Pflan­ze, die wie ein to­tes Tier aus­sah und dann der Bo­den­decker. Ich hol­te Grin­del­wald her­vor wie ei­ne Art Ge­bäck zu ei­nem nicht vor­han­de­nen Kaf­fee. Und plötz­lich fand ich beim Le­sen mehr Be­zug zu mei­nem Va­ter als durch die blo­ße An­we­sen­heit an dem Ort. Nein: Das Buch wur­de zum Ort. Der Ort sel­ber war nun­mehr ei­ne Stät­te, und prompt dach­te ich nicht mehr an mei­nen Va­ter zu Leb­zei­ten, son­dern dar­an, wie er wohl jetzt nach 25 Jah­ren, in die­ser si­cher­lich längst zu­sam­men­ge­fal­le­nen Holz­ki­ste aus­sieht. Die Er­in­ne­rung an die Per­son wie sie war steckt in dem Er­in­ner­ten, dem Ge­schrie­be­nen, nicht mehr im oder am letz­ten Ort (auch wie­der so ein Jar­gon, der »letz­te Ort«?) .

Die Grab­stät­te ist, wie mir scheint, nicht mehr zwin­gend not­wen­dig, um ei­ne Wieder­holung zu evo­zie­ren. Das Le­sen in dem Buch ließ vor mei­nem in­ne­ren Au­gen mei­nen Va­ter, sein Le­ben, mei­ne Kind­heit und Ju­gend, ent­ste­hen (we­ni­ger mit dem, was im Buch er­wähnt ist, son­dern mit dem, was dort nicht steht). Plötz­lich dach­te ich vor dem Grab sit­zend an mei­ne An­fra­ge bei die­ser Dienst­stel­le in Ber­lin nach den Dienst- und Be­schäftigungszeiten mei­nes Va­ters, die schon 11 Mo­na­te zu­rück­liegt; es gibt im­mer noch kei­ne Ant­wort und ich le­se auf dem Smart­phone noch ein­mal die Rück­mail, die aus­drücklich sagt, dass es auch 12 Mo­na­te und län­ger dau­ern kann, bis es ei­ne Aus­kunft gibt und ich bin froh, dass es bis heu­te noch kei­ne Aus­kunft gab und viel­leicht wä­re ich auch da­mit ein­ver­stan­den, dass es nie ei­ne ge­ben wird.

Und dann ste­he ich auf, grü­ße ihn noch ein­mal, wo­bei mir rechts da­ne­ben über ei­ner Wie­se ein klei­ner Mücken­schwarm (sind es wirk­lich Mücken?) auf­fällt, der in der herbst­mittäglichen Son­ne tanzt. Beim Ge­hen kurz das Ge­fühl, mich hin­weg­zu­steh­len. Wenn es nach mei­nem Va­ter geht sind es noch zwan­zig Jah­re. Und dann?