Im Rahmen der Reihe »Kleine Schriften zur literarischen Ästhetik und Hermeneutik« im Wallstein-Verlag ist als Band 7 Jürgen Brokoffs Studie »Literaturstreit und Bocksgesang« erschienen. Zunächst ist man ob des Titels verblüfft, um dann rasch festzustellen, dass es tatsächlich um zwei Ereignisse der Literaturrezeption der Bundesrepublik handelt, die inzwischen fast 30 Jahre zurückliegen. Analysiert wird zum einen Christa Wolfs Erzählung »Was bleibt«, die 1990 im Feuilleton für den sogenannten »Literaturstreit« führte und der Essay »Anschwellender Bocksgesang« von Botho Strauß, erstmals 1993 im »Spiegel« publiziert.
Brokoff will zeigen, wie sich zum einen »öffentliche Diskussionen über literarische Texte und Darstellungen von Öffentlichkeit in literarischen Texten […] wechselseitig dynamisieren und ineinandergreifen«. Der Mittelpunkt der Untersuchung ist »die angedeutete intellektuelle Verschiebung in der deutschsprachigen Diskussions- und Debattenkultur zwischen Mauerfall und Einheit einerseits und der Veröffentlichung von Strauß’ Essay […] andererseits«.
Korrekt wird erkannt, dass mit dem Mauerfall die »Ablehnung des Schriftstellers als moralisch-politische Instanz« gewachsen war. Wie stark dieser Fall war zeigt er anhand der Entwicklung der literarischen Öffentlichkeit von der Gruppe 47 bis etwa Ende der 1980er Jahre. Interessant wäre es also gewesen, zu untersuchen, warum Entfremdung zwischen den Intellektuellen und der »Öffentlichkeit« bereits vorher stattgefunden hatte. Immerhin wird Walsers sogenannte Deutschland-Rede von 1988 erwähnt, in der sich dieser mit der deutschen Teilung nicht abfinden wollte, die damals längst als unabänderlich galt. Brokoffs Beschäftigung erschöpft sich jedoch darin, sie mit dem Etikett »umstritten« zu versehen und die damalige Einschätzung, wer von Wiedervereinigung rede, sei ein »kalter Krieger«, der die Botschaft der Geschichte nicht verstanden hätte, indirekt noch zu bestätigen.
Die Rolle des Schriftstellers, des Literaten, als politischer Taktgeber zeigte sich jedoch auch darin, dass »die Revolution von 1989 in der DDR im Gegensatz zu den ostmitteleuropäischen Staaten in erster Linie nicht von Intellektuellen und Schriftstellern getragen« wurde. Eher in Gegenteil. Auf den Großdemonstrationen auf dem Berliner Alexanderplatz im November 1989 traten zwar mehrere Schriftsteller und Künstler, so u. a. Christa Wolf als Apologeten eines diffusen »Dritten Weges« zwischen dem Weiterexistieren der DDR und der Vereinigung mit der BRD auf. Aber diese Modellierungen gingen fundamental an den Wünschen des größten Teils der Bevölkerung vorbei. Spätestens hier endete das bis dahin gültige linksintellektuell-politische »Wortführertum« (hier paraphrasiert er Joachim Fest).
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Reichlich spät, die Untersuchung von Brokoff. Trotz des Distanzgewinns scheint die Klärung des Gegenstands nicht ganz erfolgreich gewesen zu sein. Der Literat als politischer Essayist muss natürlich auf seine »intrinsische Autorität« (Habermas) verzichten. Strauss hat sich exponiert, und wollte gegen den Stachel löcken. War insofern erfolgreich! Dem steht eine gewollte Debatteninitiative der Kulturredakteure gegenüber, die den pseudo-realistischen Text von Wolf aus seinem Umschlag reißen, um weltanschauliche Ordnungen aufrichten zu können. Sowohl der Autor als auch der Redakteur grenzen »ans Politische«. Klar. Aber die Motive sind jeweils sehr unterschiedlich.
Ich habe am Ende die Rede von Winkels noch gelesen. Da findet eine (mir scheint) vollständige Durchdringung des Kulturvermittelungsproblems statt. Die Ausführungen sind erstaunlich tief, sie führen bis auf den Grund der »Ordnung der Diskurse«. Diese Exploration kann man sich natürlich sparen, wenn man von Literatur nichts erwartet, und nur noch Anerkennungsgesten austeilen möchte. Aber Winkels stellt sich quer: er beharrt auf einer Kompetenz des gesellschaftlichen Durchblicks der Literaturkritik (Experten für Narrative), weist den Narzissmus der Bücher-Überschreibungen zurück und hält den romantischen Universalisten gleichwohl die Hand hin. Das ist für sich schon sehr ungewöhnlich, und verdammt klug.
Ja, die Rede von Winkels ist wirklich klug. Der Duktus ist mir zwar ein bisschen zu sehr gestelzt, aber wenn man genau liest, erkennt man, worum es ihm geht. In diesem Gespräch mit dem »Literaturcafé«-Betreiber Wolfgang Tischer (die ersten 45 Minuten) wird es deutlich: Winkels ist nicht mehr Redakteur, allen Zwängen enthoben. Er kann sich der »reinen Kritik«, ohne Kompromisse einzugehen, widmen. Das beabsichtigt er auch. Seine Aussage zur Sakralisierung des Lesens ist sehr interessant. Ein Winkels, der sozusagen »rücksichtslos« agieren kann, wäre ein Gewinn für den Betrieb. Freilich werden die Schneeflöckchen (m/w/d), die von der Paternalisierung des Lesers träumen, mit ihm nichts anfangen können. Sie verstehen einfach nicht, was er meint.