Weil ich immer noch Simons »Spaziergänger Zbinden« für eines der menschenfreundlichsten Bücher der letzten Jahre halte, war ich naturgemäß sofort interessiert, als ich von Simons neuem Buch »Die Dinge daheim« höre. Es sind nur etwas mehr als 80 Seiten mit Zeichnungen und einem kurzen Nachwort. Aber es ist ein Buch zum Schwelgen, zum Amüsieren, zum Lachen.
»›Ich brauch Tapetenwechsel‹ sprach die Birke« – so beginnt ein berühmtes Chanson von Hildegard Knef. Es ist eine Art Lehrfabel über den ewig unzufriedenen Menschen. Abseits von Fabeln und Märchen steht die moderne Literatur Anthropomorphismus, also die Vermenschlichung von Dingen, skeptisch gegenüber. Da macht auch das in den letzten Jahren verstärkt aufkommenden neue Genre des »Nature Writing« keine Ausnahme. Generell überlässt man es dem Comic und vergnügte sich maximal in Zeichentrick- oder Animationsfilmen mit sprechenden Tieren oder gar Dingen. Vor vielen Jahren ließ Horst Stern einmal einen Bären erzählen. 2008 gibt es einen therapeutischen, kurzen Text von Selim Özdogan, in der Gegenstände plötzlich sprechen.
Jetzt reden bei Christoph Simon die Dinge. Sie erzählen, lamentieren, schimpfen, appellieren, monologisieren oder treten in den Dialog mit anderen Dingen und manchmal sogar mit dem Menschen (der jedoch schweigt). Sie behaupten sich, sie irren (ohne, dass es ihnen jemand sagt), sie verzweifeln, sie sind arrogant oder bemitleidenswert.
2018 beeindruckte der 1958 geborene Kulturwissenschaftler, Kabarettist, Theaterregisseur und Schriftsteller Steffen Mensching mit dem dokufiktionalen Roman »Schermanns Augen«. Ein fiktiver deutscher KPD-Anhänger, der in der Sowjetunion lebte, gerät Anfang der 1940er Jahre in die stalinistische Säuberungsmaschine und wird wegen »konterrevolutionär-trotzkistischer Tätigkeit« zu zehn Jahren Haft in einem Arbeitslager verurteilt. Dort begegnet er dem Gedächtniskünstler, Hellseher und Handschriftendeuter Rafael Schermann, eine Person, die tatsächlich existierte und in einem Lager eingesperrt war. Im Buch werden nicht nur der Lagerkosmos mit seinen bisweilen brutalen Konsequenzen geschildert. Es wird auch ein Lebensbild dieses vollkommen unpolitischen Schermann erzählt, der einfach nur seine Salon- und Varieté-Vorführungen fortsetzen wollte und durch Krieg, Antisemitismus und Verfolgung alles verlor. Tatsächlich ist das Schicksal von Schermann bis heute nicht geklärt.
Mensching hat nun etwas gemacht, was man nach diesem opulenten und vielschichtigen Roman nicht unbedingt erwartet hätte: Er veröffentlicht ein 100seitiges Buch mit 94 Gedichten.
Das längste Gedicht – vermutlich Inspiration für das wirklich schöne Cover – heißt »Himmlische Botschaft«, steht direkt am Anfang und umfasst fünf Seiten. Es ist nicht mehr als eine Warnung an die Außerirdischen, die die kunstvollen Botschaften, die man 1977 zusammen mit den Raumsonden Voyager 1 und 2 in den Weltraum abgeschickt hat, lesen und verstehen sollten. Fast scheint es so als habe der Warner eine gewisse Sehnsucht an die dargestellte Welt (die ja im Laufe der Jahrzehnte längst eine ganz andere geworden ist), aber der Ratschlag an die Aliens ist eindeutig: Falls sie sich auf den Weg gemacht haben sollten sie besser »vorbeirasen«, sofern sie »vernunftbegabt« sind. Nur stellt sich die Frage, wer ihnen jetzt Menschings Gedicht nachschickt.
So wird die dominierende Tonlage vorgegeben. Leicht aber nie seicht, weltzugewandt, manchmal idealistisch, aber nie utopisch. Es gibt Gedichte mit heiterer Melancholie wie etwa über einen Einbeinigen:
»Der einbeinige Alte
im Rollstuhl
vor dem Eingang
der Geriatrie
hält sein Gesicht
in die Sonne
und lächelt, froh,
dass er noch
am Leben ist.«
Tobias Rüther hat in einem Text für die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« so etwas wie eine Bilanz der letzten Folgen des »literarischen Quartetts« mit der Moderatorin Thea Dorn gezogen. Und am Schluss ist er dann einer ganz großen Sache auf der Spur. Aber gemach. Zunächst geht es ihm um die bunte Schar der Gäste, die ja ...
Die (Feuilleton?)Journalistin Johanna erhält zwischen Mai und August 2020 insgesamt sechs Postkarten von ihrem Freund Max, einem (und ihrem) ehemaligen Universitätsdozenten. Es beginnt mit »Wie geht es Dir?« und einer Ansicht der griechischen Insel Patmos, auf der Max seit Jahren lebt. Die Korrespondenz zwischen den beiden, die nur brieflich möglich ist, da Max keinen Internetanschluss hat, muss wohl ins Stocken geraten sein. Inzwischen ist mindestens die halbe Welt in einer Pandemie. Die Frage nach dem Befinden scheint also berechtigt. Im weiteren Verlauf schickt der »alte Freund« der »lieben Freundin« noch fünf Gemälde-Ansichtskarten mit orakelhaften, handschriftlichen Sprüchen, die im Buch abgedruckt sind. Johanna schickt auf die unregelmäßig eintreffenden Karten insgesamt 16 Briefe (plus einer Karte am Ende) an Max. Streng genommen handelt es sich also um einen Briefroman. Der Briefcharakter wird durch die handschriftlichen Gruß- und Abschiedsformulierungen noch verstärkt; die Briefe selber sind am Computer geschrieben.
Johanna ist nicht nur trauernd und verzweifelt, weil ihre 84jährige Mutter nach einer fahrlässigen Italienreise auf der Intensivstation an der neuen Krankheit verstorben ist, sondern auch wütend über die Umstände dieses Sterbens. Einerseits beklagt sie den Leichtsinn der Mutter, die die Krankheit wohl bagatellisiert hatte und es genoss, in den Uffizien ohne andere Touristen zu sein während in den Nachrichten bereits Schreckensmeldungen liefen. Dann wiederum wirft sie den politisch Verantwortlichen Übervorsichtigkeiten vor. Denn sie wurde nicht mehr zu ihrer Mutter ins Krankenhaus gelassen. »Den Sicherheitsdienst haben sie gerufen, als ich versucht habe, trotzdem in das Gebäude reinzukommen. Irgendwo da drinnen hing meine Mutter an irgendwelchen beschissenen Maschinen, war am Ersticken, Verrecken, und sie haben mich nicht zu ihr gelassen!!!!«
Diese Wut setzt sich bei der Beerdigung fort. Die Mutter war prominent, betrieb eine Schauspieler-Agentur, stand früher selber auf der Bühne. Sie hatte einen Plan entworfen, wie ihre Beerdigung auszusehen hatte – das übliche Fest, auf dem alle fröhlich zu sein haben. Und dann dies: »Wie versprengte schwarze Schäfchen standen Mutters Schauspieler, Mutters Freunde, Mutters ‘Geschöpfe’ auf den beiden Straßen um den Friedhof herum. Ausgesperrt von den Mauern. Bewacht von mindestens zwanzig Ordnungshütern…« Tatsächlich mutet einiges recht skurril an: »Aus Gründen, die einzig die Hygienegötter kennen, durfte keiner Erde ins Grab werfen. Nur Blumen.«
Irgendwann, in vielleicht nicht allzu ferner Zukunft, in Deutschland: Eine muslimische Kandidatin der »Ökologischen Partei« hat große Chancen, Bundeskanzlerin zu werden. Es ist Wahlabend. Sie will zu ihren Anhängern sprechen. Die skandieren ihren Wunsch nach der »totalen Diversität«. Und dann werden die letzten drei Monate rekapituliert.
Natürlich fällt einem rasch Michel Houellebeqs »Unterwerfung« von 2015 ein, in dem ein muslimischer Präsident gewählt wird und nicht zuletzt mit arabischem Geld eine »freundliche Übernahme« des institutionellen Frankreich erreicht. Constantin Schreibers »Die Kandidatin« nimmt durchaus Anleihen an dieses Arrangement, aber es ist doch ein ganz anderer Roman.
Der Verlag nennt das Jahr 2041, in dem das Geschehen angesiedelt sein soll. Einige Angaben im Buch legen nahe, dass das nicht sein kann. Wie auch immer: Marine Le Pen ist Präsidentin in Frankreich und der greise Xi Jinping steuert immer noch die Geschicke Chinas. Er ist soeben mit seiner Armee in Taiwan einmarschiert und hat die Insel annektiert. Auch Wladimir Putin ist noch Präsident und bedroht (wie schon immer) die Ukraine. Der Nahe Osten (außer Israel) droht zu »implodieren«. Aber Saudi Arabien hat die Atombombe. Die USA kommt nur als Ort von Rassenunruhen vor. Die EU ist praktisch am Ende. Der Euro existiert noch, aber »stetig fallende Negativzinsen führten dazu, dass sowohl Guthaben als auch Schulden immer weniger wert wurden« und »Gold und Aktien…zur Parallelwährung« wurden. China erpresst die Europäer mit seinen Euroanleihen. Hier ist die neue Supermacht.
Deutschland wird von einer Bundeskanzlerin regiert. Sie wird nur als Funktionsträgerin erwähnt; die Person bleibt diffus, wie die Regierung zusammengesetzt ist, erfährt man nicht. Der Innenminister ist ein Förderer von Sabah Hussein, für die er »den Posten der Sonderbeauftragten für öffentliche Dialoge« schuf – weniger aus Überzeugung als aus Karrieregründen, um nicht von Menschen und Organisationen mit »Vielfaltsmerkmalen« angegriffen zu werden. Hussein ist 44, sieht aber jünger aus. Den Hijab hatte sie nach Konsultation mit »ihrem« Imam mit Eintritt in die Politik abgelegt, aber in einer bundesweiten Aktion das Tragen des Hijab als feministisch-emanzipatorische Geste für junge Muslima geframt. Sie selber kleidet sich modisch, auffallend, während »von zahlreichen progressiven Frauen und Männern und Diversen« ganz selbstverständlich der »einfarbige Genderkaftan« getragen wird, »der jegliche Körperformen neutral verhüllt« (ergänzend dazu die »Unisexboots ‘Birkendocs‘«).
Sahra Wagenknecht gehört in Deutschland zwar zu den bekanntesten Politikern der Partei Die Linke (hier im weiteren »Linkspartei« genannt, um diese von der allgemeinpolitischen Richtung »Linke« abzugrenzen), aber ist auch ein Beispiel dafür, dass Bekanntheit, überparteiliche Beliebtheit und Respekt nicht automatisch mit Einfluss in der jeweiligen Partei verbunden ist. Man spricht dann schnell von jemanden, der »in der falschen Partei« sei.
Man kann Wagenknecht vieles vorwerfen, aber Angst vor Konflikten gehört nicht dazu. Trotz ihrer Entmachtung nebst Ablösung als Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Bundestag 2019 und dem mehr oder weniger sichtbaren Scheitern einer außerparlamentarischen, linken Sammlungsbewegung »aufstehen« wagt sie sich immer wieder ins Getümmel. So wurde sie unlängst zur Spitzenkandidatin der Linkspartei in NRW gewählt, was dahingehend interessant ist, weil Wagenknecht eigentlich nichts mit diesem Bundesland zu tun hat. Was sie nicht davon abhält, im Wahlkreis Düsseldorf II anzutreten.
Zum innerparteilichen Streitfall wurde die Kandidatur unter anderem durch die Publikation ihres neuesten Buches »Die Selbstgerechten«, in dem Wagenknecht furios mit dem sogenannten »Linksliberalismus« ins Gericht geht, für den sie bisweilen den leicht despektierlichen, aber griffigen Begriff »Lifestyle-Linke« verwendet.
Allen Bekenntnissen zum Trotz ist »Die Selbstgerechten« bisweilen durchaus auch eine Abrechnung. Dabei ist es kein Zufall, dass es starke Übereinstimmungen mit Bernd Stegemanns »Die Öffentlichkeit und ihre Feinde« gibt – war doch Stegemann Mitgründer und im Vorstand von »aufstehen«. Wagenknechts Vorhaben geht aber weiter. Zwar kritisiert sie zunächst auf rund 200 Seiten die sogenannte »linke« Identitätspolitik, aber anschließend folgen auf rund 140 Seiten Positionierungen für eine neue, zeitgemässe »linke« Politik, die diesen Namen verdienen soll.
Entfremdete Lifestyle-Linke
Im Fokus von Wagenknechts Kritik steht der »Linksliberalismus«. Damit meint sie ausdrücklich nicht die sozialliberale Politikrichtung der Regierungen zwischen 1969 und 1982: »Wenn in diesem Buch von Linksliberalismus die Rede ist, ist der Begriff immer im modernen Verständnis als Bezeichnung für die Weltsicht der Lifestyle-Linken gemeint und nie in dem früheren Wortsinn.« Diese Unterscheidung sei wichtig weil beide Denkrichtungen nichts miteinander zu tun hätten. Den Begriff verwende sie trotzdem, weil er sich etabliert habe. Damit verfährt sie ähnlich wie in ihrem Buch »Freiheit statt Kapitalismus« von 2011, in dem »Neoliberalismus« ebenfalls in der zeitgenössischen Konnotation (vulgo: dereguliertes Wirtschaftssystem) verwendet wird und nicht im Sinne der ordo-liberalen Entwürfe von Eucken und Müller-Armack (obwohl sie diese erwähnt).
Die vorgebrachte Diagnose ist beileibe nicht neu: Sich links wähnende Aktivisten, mehrheitlich akademisch ausgebildet, solide Mittel- bis Oberschicht, großstädtisch, »weltoffen und selbstverständlich für Europa, auch wenn jeder unter diesen Schlagworten etwas anderes verstehen mag«, besorgt ums Klima, setzt sich für »Emanzipation, Zuwanderung und sexuelle Minderheiten ein«. Sie usurpieren den Diskurs innerhalb der politischen Linken. Der Nationalstaat ist diesen »Lifestyle-Linken« ein Auslaufmodell: Man schätzt »Autonomie und Selbstverwirklichung mehr als Tradition und Gemeinschaft. Überkommene Werte wie Leistung, Fleiß und Anstrengung findet [man] uncool.«
Wagenknecht konstatiert eine Entfremdung der Linken mit ihren potentiellen Wählern: »Früher gehörte es zum linken Selbstverständnis, sich in erster Linie für die weniger Begünstigten einzusetzen, für Menschen ohne hohe Bildungsabschlüsse und ohne ressourcenstarkes familiäres Hinterland. Heute steht das Label links meist für eine Politik, die sich für die Belange der akademischen Mittelschicht engagiert und die von dieser Schicht gestaltet und getragen wird.«
Gemeint ist der bisweilen verbitterte, in Universitäten aber auch sozialen Netzwerken bis hinein in die Publizistik geführte Kampf für Sprach- und Sprechge- bzw. verbote, vor allem jedoch gegen vermeintlichen Rassismus und Diskriminierungen von Minderheiten. Er will allerdings, so Wagenknecht, keine rechtliche Gleichheit, sondern ufert aus in »Quoten und Diversity, also für die ungleiche Behandlung unterschiedlicher Gruppen.« Die Folge: »Der identitätspolitische Linksliberalismus, der die Menschen dazu anhält, ihre Identität anhand von Abstammung, Hautfarbe, Geschlecht oder sexuellen Neigungen zu definieren, […] spaltet […] da, wo Zusammenhalt dringend notwendig wäre. Er tut das, indem er angebliche Minderheiteninteressen fortlaufend in Gegensatz zu denen der Mehrheit bringt und Angehörige von Minderheiten dazu anhält, sich von der Mehrheit zu separieren und unter sich zu bleiben. Nachvollziehbarerweise führt das bei der Mehrheit irgendwann zu dem Gefühl, die eigenen Interessen ihrerseits gegen die der Minderheiten behaupten zu müssen.« (Hervorhebungen S. W.)
Eigentlich sind es vier Erzählungen, die die Literaturwissenschaftlerin Beatrix Langner in ihrem 190 Seiten-Roman »Der Vorhang« ineinander verwoben hat. Zum einen, jeweils in Kursivschrift, zu Beginn eines jeden der 27 Kapitel, ein wild-parodistischer Zeitenritt der ersten Menschin (wahlweise auch Behemots Tochter oder »ein Amphib«) durch die Erdgeschichte, über »känozoische Ufer« mit »jurassischem Sand« in »vortertiärem Untergrund«, einem »wie eine Glocke« schwingenden Erdmantel und dann feststellen, dass es am »diluvianischen Horizont« hell wird. Da jettet jemand 2496 Milliarden Jahre (unter Berücksichtigung einer von der Erzählerin eher langweilig empfundenen Episode von einer Milliarde Jahren) mit einem – wie sollte es anders sein – apokalyptischen Finale mit »rollenden Feuernestern«. Inspiriert werden diese Phantasmagorien durch die Riesenbagger, die seit Jahrzehnten in der Kölner Bucht die Landschaft umfräsen und von der Erzählerin in einer Mischung aus Abscheu und Faszination betrachtet werden. Dörfer werden umgesiedelt, Menschen ihrer Heimat beraubt (bisweilen sogar enteignet), nur (nur?) um Braunkohle zu fördern, die, wie sich jetzt einigermaßen überraschend herausstellt, für den drohenden Klimawandel nicht so günstig zu sein scheint.
Und dann gibt es noch die Ich-Erzählerin, die aus ihrer Kindheit erzählt, aus einer Stadt, die, warum auch immer, mit »E.« abgekürzt wird, obwohl man nach Sekunden erkennen kann, dass es wohl doch Erkelenz ist. Diese Kindheitserinnerungen wiederum werden ausgelöst durch die Betreuung, später Pflege der durch einen Schlaganfall und/oder Demenz gezeichneten Mutter, Jahrgang 1924, deren jahrelanger Verfall bis hin zu Windelhosen und Bettunterlagen in mitleidlosem Zorn erzählt wird. Da die Mutter auf die zahlreichen Fragen nicht mehr antworten kann (oder will), übernimmt die Tochter die Rekonstruktion ihres Lebens gleich selbst, lässt, wie es einmal heißt, die Zeit rückwärts laufen, füllt Leerstellen aus, imaginiert Ereignisse, die sie nicht erlebt hat, nicht erlebt haben kann und setzt dem (gewollten?) Vergessen das Fabulieren entgegen.
Meine letzte Äußerungen auf dieser Seite zur Tagesaktualität der Pandemie liegt jetzt mehr als ein Jahr zurück. Damals verfiel ich kurz der Gefahr, mich in täglichen Befindlichkeiten auszulassen, die am Ende noch weniger als meine Buchbesprechungen von Interesse gewesen wären. Diese schreibe ich ja eigentlich nur, um mich selber meiner Lektüre zu vergewissern; die Publikation hat eher disziplinarische Funktion.
Seit Januar 2020 lebe ich nun in Augsburg und rückblickend betrachtet, war es – streng genommen – nur rund eine Woche »Normalität«. Denn nach einer Woche tauchte der erste Fall der neuen Virus-Erkrankung »Corona« in Deutschland auf. Und zwar in Augsburg. Damals lachten wir noch.
Sechs, sieben Wochen später dann der »Lockdown«. Ich gebe zu, dass ich es zunächst eine spannende Zeit fand. Natürlich bin ich privilegiert: ich habe keine Kinder, die ich beschäftigen muss, keinen Arbeitsplatz, den ich erreichen sollte und auch sonst keinerlei Verpflichtungen. Ein bisschen war es ein Ausflug in eine fast unbeschwerte Kindheit. Man blieb zu Hause (was ich immer am liebsten tat). Vorübergehend stellte man persönliche Kontakte ein bzw. reduzierte sie auf ein Mindestmaß. Ostern 2020 hieß es plötzlich, dass man Masken tragen sollte, was mir von Beginn an schon merkwürdig vorkam, es nicht einmal erwogen, sondern sogar, tagesschau in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium, als mehr oder weniger nutzlos dargestellt wurde.
Wie auch immer, man kramte seine alte Nähmaschine hervor und bastelte Masken (Anleitungen gab es im Internet). Änderungsschneidereien hängten ihre Produkte ins Fenster. Bald gab es auch Nobelmarken, die ihre Kreationen im Internet anboten. Ich ergriff die Gelegenheit, ein bisschen ehemalige Heimat heraufzubeschwören, und bestellte einige Masken bei Borussia Mönchengladbach. Warum nicht.
Die Bilder, die einem aus Italien, Spanien und einige Monate später aus den USA erreichten, erzeugten Angst. Szenarien vom Bundesinnenministerium, die, nach außen drangen (sicherlich eine kontrollierte Aktion), verstärkten diese noch. Später wurde bekannt, dass es geradezu ein Auftrag gewesen war, die Bedrohungen möglichst drastisch darzustellen.
Überraschenderweise senkten sich die Zahlen rasch. Die meisten Einschränkungen des Lockdowns wurden aufgehoben. Der Fußball rollte wieder – mit ausgefeilten »Hygienekonzepten«, obwohl PCR-Tests knapp waren. Geschäfte und die Gastronomie konnten wieder öffnen. Auch Grenzen zu Nachbarländern, die man überraschenderweise auch schließen konnte, öffneten wieder. Der Sommer konnte beginnen. Der Bundesgesundheitsminister versprach, dass es nie mehr zu einem Lockdown kommen müsste. Gleichzeitig kam jedoch bereits relativ früh die Meldung auf, dass der Karneval 2021 praktisch auszufallen habe. Das passte nicht.