Chri­stoph Si­mon: Die Din­ge da­heim

Christoph Simon: Die Dinge daheim
Chri­stoph Si­mon:
Die Din­ge da­heim

Weil ich im­mer noch Si­mons »Spa­zier­gän­ger Zbin­den« für ei­nes der men­schen­freund­lich­sten Bü­cher der letz­ten Jah­re hal­te, war ich na­tur­ge­mäß so­fort in­ter­es­siert, als ich von Si­mons neu­em Buch »Die Din­ge da­heim« hö­re. Es sind nur et­was mehr als 80 Sei­ten mit Zeich­nun­gen und ei­nem kur­zen Nach­wort. Aber es ist ein Buch zum Schwel­gen, zum Amü­sie­ren, zum La­chen.

»›Ich brauch Ta­pe­ten­wech­sel‹ sprach die Bir­ke« – so be­ginnt ein be­rühm­tes Chan­son von Hil­de­gard Knef. Es ist ei­ne Art Lehr­fa­bel über den ewig un­zu­frie­de­nen Men­schen. Ab­seits von Fa­beln und Mär­chen steht die mo­der­ne Li­te­ra­tur An­thro­po­mor­phis­mus, al­so die Ver­mensch­li­chung von Din­gen, skep­tisch ge­gen­über. Da macht auch das in den letz­ten Jah­ren ver­stärkt auf­kom­men­den neue Gen­re des »Na­tu­re Wri­ting« kei­ne Aus­nah­me. Ge­ne­rell über­lässt man es dem Co­mic und ver­gnüg­te sich ma­xi­mal in Zei­chen­trick- oder Ani­ma­ti­ons­fil­men mit spre­chen­den Tie­ren oder gar Din­gen. Vor vie­len Jah­ren ließ Horst Stern ein­mal ei­nen Bä­ren er­zäh­len. 2008 gibt es ei­nen the­ra­peu­ti­schen, kur­zen Text von Se­lim Öz­do­gan, in der Ge­gen­stän­de plötz­lich spre­chen.

Jetzt re­den bei Chri­stoph Si­mon die Din­ge. Sie er­zäh­len, la­men­tie­ren, schimp­fen, ap­pel­lie­ren, mo­no­lo­gi­sie­ren oder tre­ten in den Dia­log mit an­de­ren Din­gen und manch­mal so­gar mit dem Men­schen (der je­doch schweigt). Sie be­haup­ten sich, sie ir­ren (oh­ne, dass es ih­nen je­mand sagt), sie ver­zwei­feln, sie sind ar­ro­gant oder be­mit­lei­dens­wert.

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Stef­fen Men­sching: In der Bran­dung des Traums

Steffen Mensching: In der Brandung des Traums
Stef­fen Men­sching: In der Bran­dung des Traums

2018 be­ein­druck­te der 1958 ge­bo­re­ne Kul­tur­wis­sen­schaft­ler, Ka­ba­ret­tist, Thea­ter­re­gis­seur und Schrift­stel­ler Stef­fen Men­sching mit dem do­ku­fik­tio­na­len Ro­man »Scher­manns Au­gen«. Ein fik­ti­ver deut­scher KPD-An­hän­ger, der in der So­wjet­uni­on leb­te, ge­rät An­fang der 1940er Jah­re in die sta­li­ni­sti­sche Säu­be­rungs­ma­schi­ne und wird we­gen »kon­ter­re­vo­lu­tio­när-trotz­ki­sti­scher Tä­tig­keit« zu zehn Jah­ren Haft in ei­nem Ar­beits­la­ger ver­ur­teilt. Dort be­geg­net er dem Ge­dächt­nis­künst­ler, Hell­se­her und Hand­schrif­ten­deu­ter Ra­fa­el Scher­mann, ei­ne Per­son, die tat­säch­lich exi­stier­te und in ei­nem La­ger ein­ge­sperrt war. Im Buch wer­den nicht nur der La­ger­kos­mos mit sei­nen bis­wei­len bru­ta­len Kon­se­quen­zen ge­schil­dert. Es wird auch ein Le­bens­bild die­ses voll­kom­men un­po­li­ti­schen Scher­mann er­zählt, der ein­fach nur sei­ne Sa­lon- und Va­rie­té-Vor­füh­run­gen fort­set­zen woll­te und durch Krieg, An­ti­se­mi­tis­mus und Ver­fol­gung al­les ver­lor. Tat­säch­lich ist das Schick­sal von Scher­mann bis heu­te nicht ge­klärt.

Men­sching hat nun et­was ge­macht, was man nach die­sem opu­len­ten und viel­schich­ti­gen Ro­man nicht un­be­dingt er­war­tet hät­te: Er ver­öf­fent­licht ein 100seitiges Buch mit 94 Ge­dich­ten.

Das läng­ste Ge­dicht – ver­mut­lich In­spi­ra­ti­on für das wirk­lich schö­ne Co­ver – heißt »Himm­li­sche Bot­schaft«, steht di­rekt am An­fang und um­fasst fünf Sei­ten. Es ist nicht mehr als ei­ne War­nung an die Au­ßer­ir­di­schen, die die kunst­vol­len Bot­schaf­ten, die man 1977 zu­sam­men mit den Raum­son­den Voya­ger 1 und 2 in den Welt­raum ab­ge­schickt hat, le­sen und ver­ste­hen soll­ten. Fast scheint es so als ha­be der War­ner ei­ne ge­wis­se Sehn­sucht an die dar­ge­stell­te Welt (die ja im Lau­fe der Jahr­zehn­te längst ei­ne ganz an­de­re ge­wor­den ist), aber der Rat­schlag an die Ali­ens ist ein­deu­tig: Falls sie sich auf den Weg ge­macht ha­ben soll­ten sie bes­ser »vor­bei­ra­sen«, so­fern sie »ver­nunft­be­gabt« sind. Nur stellt sich die Fra­ge, wer ih­nen jetzt Men­schings Ge­dicht nach­schickt.

So wird die do­mi­nie­ren­de Ton­la­ge vor­ge­ge­ben. Leicht aber nie seicht, welt­zu­ge­wandt, manch­mal idea­li­stisch, aber nie uto­pisch. Es gibt Ge­dich­te mit hei­te­rer Me­lan­cho­lie wie et­wa über ei­nen Ein­bei­ni­gen:

»Der ein­bei­ni­ge Al­te
im Roll­stuhl
vor dem Ein­gang
der Ger­ia­trie
hält sein Ge­sicht
in die Son­ne
und lä­chelt, froh,
dass er noch
am Le­ben ist.«

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Die Quar­tett-Ver­schwö­rung

To­bi­as Rüt­her hat in ei­nem Text für die »Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Sonn­tags­zei­tung« so et­was wie ei­ne Bi­lanz der letz­ten Fol­gen des »li­te­ra­ri­schen Quar­tetts« mit der Mo­de­ra­to­rin Thea Dorn ge­zo­gen. Und am Schluss ist er dann ei­ner ganz gro­ßen Sa­che auf der Spur. Aber ge­mach. Zu­nächst geht es ihm um die bun­te Schar der Gä­ste, die ja ...

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Thea Dorn: Trost

Thea Dorn: Trost
Thea Dorn: Trost

Die (Feuilleton?)Journalistin Jo­han­na er­hält zwi­schen Mai und Au­gust 2020 ins­ge­samt sechs Post­kar­ten von ih­rem Freund Max, ei­nem (und ih­rem) ehe­ma­li­gen Uni­ver­si­täts­do­zen­ten. Es be­ginnt mit »Wie geht es Dir?« und ei­ner An­sicht der grie­chi­schen In­sel Pat­mos, auf der Max seit Jah­ren lebt. Die Kor­re­spon­denz zwi­schen den bei­den, die nur brief­lich mög­lich ist, da Max kei­nen In­ter­net­an­schluss hat, muss wohl ins Stocken ge­ra­ten sein. In­zwi­schen ist min­de­stens die hal­be Welt in ei­ner Pan­de­mie. Die Fra­ge nach dem Be­fin­den scheint al­so be­rech­tigt. Im wei­te­ren Ver­lauf schickt der »al­te Freund« der »lie­ben Freun­din« noch fünf Ge­mäl­de-An­sichts­kar­ten mit ora­kel­haf­ten, hand­schrift­li­chen Sprü­chen, die im Buch ab­ge­druckt sind. Jo­han­na schickt auf die un­re­gel­mä­ßig ein­tref­fen­den Kar­ten ins­ge­samt 16 Brie­fe (plus ei­ner Kar­te am En­de) an Max. Streng ge­nom­men han­delt es sich al­so um ei­nen Brief­ro­man. Der Brief­cha­rak­ter wird durch die hand­schrift­li­chen Gruß- und Ab­schieds­for­mu­lie­run­gen noch ver­stärkt; die Brie­fe sel­ber sind am Com­pu­ter ge­schrie­ben.

Jo­han­na ist nicht nur trau­ernd und ver­zwei­felt, weil ih­re 84jährige Mut­ter nach ei­ner fahr­läs­si­gen Ita­li­en­rei­se auf der In­ten­siv­sta­ti­on an der neu­en Krank­heit ver­stor­ben ist, son­dern auch wü­tend über die Um­stän­de die­ses Ster­bens. Ei­ner­seits be­klagt sie den Leicht­sinn der Mut­ter, die die Krank­heit wohl ba­ga­tel­li­siert hat­te und es ge­noss, in den Uf­fi­zi­en oh­ne an­de­re Tou­ri­sten zu sein wäh­rend in den Nach­rich­ten be­reits Schreckens­mel­dun­gen lie­fen. Dann wie­der­um wirft sie den po­li­tisch Ver­ant­wort­li­chen Über­vor­sich­tig­kei­ten vor. Denn sie wur­de nicht mehr zu ih­rer Mut­ter ins Kran­ken­haus ge­las­sen. »Den Si­cher­heits­dienst ha­ben sie ge­ru­fen, als ich ver­sucht ha­be, trotz­dem in das Ge­bäu­de rein­zu­kom­men. Ir­gend­wo da drin­nen hing mei­ne Mut­ter an ir­gend­wel­chen be­schis­se­nen Ma­schi­nen, war am Er­sticken, Ver­recken, und sie ha­ben mich nicht zu ihr ge­las­sen!!!!«

Die­se Wut setzt sich bei der Be­er­di­gung fort. Die Mut­ter war pro­mi­nent, be­trieb ei­ne Schau­spie­ler-Agen­tur, stand frü­her sel­ber auf der Büh­ne. Sie hat­te ei­nen Plan ent­wor­fen, wie ih­re Be­er­di­gung aus­zu­se­hen hat­te – das üb­li­che Fest, auf dem al­le fröh­lich zu sein ha­ben. Und dann dies: »Wie ver­spreng­te schwar­ze Schäf­chen stan­den Mut­ters Schau­spie­ler, Mut­ters Freun­de, Mut­ters ‘Ge­schöp­fe’ auf den bei­den Stra­ßen um den Fried­hof her­um. Aus­ge­sperrt von den Mau­ern. Be­wacht von min­de­stens zwan­zig Ord­nungs­hü­tern…« Tat­säch­lich mu­tet ei­ni­ges recht skur­ril an: »Aus Grün­den, die ein­zig die Hy­gie­ne­göt­ter ken­nen, durf­te kei­ner Er­de ins Grab wer­fen. Nur Blu­men.«

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Con­stan­tin Schrei­ber: Die Kan­di­da­tin

Constantin Schreiber: Die Kandidatin
Con­stan­tin Schrei­ber:
Die Kan­di­da­tin

Ir­gend­wann, in viel­leicht nicht all­zu fer­ner Zu­kunft, in Deutsch­land: Ei­ne mus­li­mi­sche Kan­di­da­tin der »Öko­lo­gi­schen Par­tei« hat gro­ße Chan­cen, Bun­des­kanz­le­rin zu wer­den. Es ist Wahl­abend. Sie will zu ih­ren An­hän­gern spre­chen. Die skan­die­ren ih­ren Wunsch nach der »to­ta­len Di­ver­si­tät«. Und dann wer­den die letz­ten drei Mo­na­te re­ka­pi­tu­liert.

Na­tür­lich fällt ei­nem rasch Mi­chel Hou­el­le­beqs »Un­ter­wer­fung« von 2015 ein, in dem ein mus­li­mi­scher Prä­si­dent ge­wählt wird und nicht zu­letzt mit ara­bi­schem Geld ei­ne »freund­li­che Über­nah­me« des in­sti­tu­tio­nel­len Frank­reich er­reicht. Con­stan­tin Schrei­bers »Die Kan­di­da­tin« nimmt durch­aus An­lei­hen an die­ses Ar­ran­ge­ment, aber es ist doch ein ganz an­de­rer Ro­man.

Der Ver­lag nennt das Jahr 2041, in dem das Ge­sche­hen an­ge­sie­delt sein soll. Ei­ni­ge An­ga­ben im Buch le­gen na­he, dass das nicht sein kann. Wie auch im­mer: Ma­ri­ne Le Pen ist Prä­si­den­tin in Frank­reich und der grei­se Xi Jin­ping steu­ert im­mer noch die Ge­schicke Chi­nas. Er ist so­eben mit sei­ner Ar­mee in Tai­wan ein­mar­schiert und hat die In­sel an­nek­tiert. Auch Wla­di­mir Pu­tin ist noch Prä­si­dent und be­droht (wie schon im­mer) die Ukrai­ne. Der Na­he Osten (au­ßer Is­ra­el) droht zu »im­plo­die­ren«. Aber Sau­di Ara­bi­en hat die Atom­bom­be. Die USA kommt nur als Ort von Ras­sen­un­ru­hen vor. Die EU ist prak­tisch am En­de. Der Eu­ro exi­stiert noch, aber »ste­tig fal­len­de Ne­ga­tiv­zin­sen führ­ten da­zu, dass so­wohl Gut­ha­ben als auch Schul­den im­mer we­ni­ger wert wur­den« und »Gold und Aktien…zur Par­al­lel­wäh­rung« wur­den. Chi­na er­presst die Eu­ro­pä­er mit sei­nen Eu­ro­an­lei­hen. Hier ist die neue Su­per­macht.

Deutsch­land wird von ei­ner Bun­des­kanz­le­rin re­giert. Sie wird nur als Funk­ti­ons­trä­ge­rin er­wähnt; die Per­son bleibt dif­fus, wie die Re­gie­rung zu­sam­men­ge­setzt ist, er­fährt man nicht. Der In­nen­mi­ni­ster ist ein För­de­rer von Sa­bah Hus­sein, für die er »den Po­sten der Son­der­be­auf­trag­ten für öf­fent­li­che Dia­lo­ge« schuf – we­ni­ger aus Über­zeu­gung als aus Kar­rie­re­grün­den, um nicht von Men­schen und Or­ga­ni­sa­tio­nen mit »Viel­falts­merk­ma­len« an­ge­grif­fen zu wer­den. Hus­sein ist 44, sieht aber jün­ger aus. Den Hi­jab hat­te sie nach Kon­sul­ta­ti­on mit »ih­rem« Imam mit Ein­tritt in die Po­li­tik ab­ge­legt, aber in ei­ner bun­des­wei­ten Ak­ti­on das Tra­gen des Hi­jab als fe­mi­ni­stisch-eman­zi­pa­to­ri­sche Ge­ste für jun­ge Mus­li­ma ge­fr­amt. Sie sel­ber klei­det sich mo­disch, auf­fal­lend, wäh­rend »von zahl­rei­chen pro­gres­si­ven Frau­en und Män­nern und Di­ver­sen« ganz selbst­ver­ständ­lich der »ein­far­bi­ge Gen­der­kaf­tan« ge­tra­gen wird, »der jeg­li­che Kör­per­for­men neu­tral ver­hüllt« (er­gän­zend da­zu die »Uni­s­ex­boots ‘Bir­ken­docs‘«).

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Sahra Wa­gen­knecht: Die Selbst­ge­rech­ten

Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten
Sahra Wa­gen­knecht:
Die Selbst­ge­rech­ten

Sahra Wa­gen­knecht ge­hört in Deutsch­land zwar zu den be­kann­te­sten Po­li­ti­kern der Par­tei Die Lin­ke (hier im wei­te­ren »Links­par­tei« ge­nannt, um die­se von der all­ge­mein­po­li­ti­schen Rich­tung »Lin­ke« ab­zu­gren­zen), aber ist auch ein Bei­spiel da­für, dass Be­kannt­heit, über­par­tei­li­che Be­liebt­heit und Re­spekt nicht au­to­ma­tisch mit Ein­fluss in der je­wei­li­gen Par­tei ver­bun­den ist. Man spricht dann schnell von je­man­den, der »in der fal­schen Par­tei« sei.

Man kann Wa­gen­knecht vie­les vor­wer­fen, aber Angst vor Kon­flik­ten ge­hört nicht da­zu. Trotz ih­rer Ent­mach­tung nebst Ab­lö­sung als Frak­ti­ons­vor­sit­zen­de der Links­par­tei im Bun­des­tag 2019 und dem mehr oder we­ni­ger sicht­ba­ren Schei­tern ei­ner au­ßer­par­la­men­ta­ri­schen, lin­ken Samm­lungs­be­we­gung »auf­ste­hen« wagt sie sich im­mer wie­der ins Ge­tüm­mel. So wur­de sie un­längst zur Spit­zen­kan­di­da­tin der Links­par­tei in NRW ge­wählt, was da­hin­ge­hend in­ter­es­sant ist, weil Wa­gen­knecht ei­gent­lich nichts mit die­sem Bun­des­land zu tun hat. Was sie nicht da­von ab­hält, im Wahl­kreis Düs­sel­dorf II an­zu­tre­ten.

Zum in­ner­par­tei­li­chen Streit­fall wur­de die Kan­di­da­tur un­ter an­de­rem durch die Pu­bli­ka­ti­on ih­res neue­sten Bu­ches »Die Selbst­ge­rech­ten«, in dem Wa­gen­knecht fu­ri­os mit dem so­ge­nann­ten »Links­li­be­ra­lis­mus« ins Ge­richt geht, für den sie bis­wei­len den leicht de­spek­tier­li­chen, aber grif­fi­gen Be­griff »Life­style-Lin­ke« ver­wen­det.

Al­len Be­kennt­nis­sen zum Trotz ist »Die Selbst­ge­rech­ten« bis­wei­len durch­aus auch ei­ne Ab­rech­nung. Da­bei ist es kein Zu­fall, dass es star­ke Über­ein­stim­mun­gen mit Bernd Ste­ge­manns »Die Öf­fent­lich­keit und ih­re Fein­de« gibt – war doch Ste­ge­mann Mit­grün­der und im Vor­stand von »auf­ste­hen«. Wa­gen­knechts Vor­ha­ben geht aber wei­ter. Zwar kri­ti­siert sie zu­nächst auf rund 200 Sei­ten die so­ge­nann­te »lin­ke« Iden­ti­täts­po­li­tik, aber an­schlie­ßend fol­gen auf rund 140 Sei­ten Po­si­tio­nie­run­gen für ei­ne neue, zeit­ge­mä­sse »lin­ke« Po­li­tik, die die­sen Na­men ver­die­nen soll.

Ent­frem­de­te Life­style-Lin­ke

Im Fo­kus von Wa­gen­knechts Kri­tik steht der »Links­li­be­ra­lis­mus«. Da­mit meint sie aus­drück­lich nicht die so­zi­al­li­be­ra­le Po­li­tik­rich­tung der Re­gie­run­gen zwi­schen 1969 und 1982: »Wenn in die­sem Buch von Links­li­be­ra­lis­mus die Re­de ist, ist der Be­griff im­mer im mo­der­nen Ver­ständ­nis als Be­zeich­nung für die Welt­sicht der Life­style-Lin­ken ge­meint und nie in dem frü­he­ren Wort­sinn.« Die­se Un­ter­schei­dung sei wich­tig weil bei­de Denk­rich­tun­gen nichts mit­ein­an­der zu tun hät­ten. Den Be­griff ver­wen­de sie trotz­dem, weil er sich eta­bliert ha­be. Da­mit ver­fährt sie ähn­lich wie in ih­rem Buch »Frei­heit statt Ka­pi­ta­lis­mus« von 2011, in dem »Neo­li­be­ra­lis­mus« eben­falls in der zeit­ge­nös­si­schen Kon­no­ta­ti­on (vul­go: de­re­gu­lier­tes Wirt­schafts­sy­stem) ver­wen­det wird und nicht im Sin­ne der ordo-li­be­ra­len Ent­wür­fe von Eucken und Mül­ler-Arm­ack (ob­wohl sie die­se er­wähnt).

Die vor­ge­brach­te Dia­gno­se ist bei­lei­be nicht neu: Sich links wäh­nen­de Ak­ti­vi­sten, mehr­heit­lich aka­de­misch aus­ge­bil­det, so­li­de Mit­tel- bis Ober­schicht, groß­städ­tisch, »welt­of­fen und selbst­ver­ständ­lich für Eu­ro­pa, auch wenn je­der un­ter die­sen Schlag­wor­ten et­was an­de­res ver­ste­hen mag«, be­sorgt ums Kli­ma, setzt sich für »Eman­zi­pa­ti­on, Zu­wan­de­rung und se­xu­el­le Min­der­hei­ten ein«. Sie usur­pie­ren den Dis­kurs in­ner­halb der po­li­ti­schen Lin­ken. Der Na­tio­nal­staat ist die­sen »Life­style-Lin­ken« ein Aus­lauf­mo­dell: Man schätzt »Au­to­no­mie und Selbst­ver­wirk­li­chung mehr als Tra­di­ti­on und Ge­mein­schaft. Über­kom­me­ne Wer­te wie Lei­stung, Fleiß und An­stren­gung fin­det [man] un­cool.«

Wa­gen­knecht kon­sta­tiert ei­ne Ent­frem­dung der Lin­ken mit ih­ren po­ten­ti­el­len Wäh­lern: »Frü­her ge­hör­te es zum lin­ken Selbst­ver­ständ­nis, sich in er­ster Li­nie für die we­ni­ger Be­gün­stig­ten ein­zu­set­zen, für Men­schen oh­ne ho­he Bil­dungs­ab­schlüs­se und oh­ne res­sour­cen­star­kes fa­mi­liä­res Hin­ter­land. Heu­te steht das La­bel links meist für ei­ne Po­li­tik, die sich für die Be­lan­ge der aka­de­mi­schen Mit­tel­schicht en­ga­giert und die von die­ser Schicht ge­stal­tet und ge­tra­gen wird.«

Ge­meint ist der bis­wei­len ver­bit­ter­te, in Uni­ver­si­tä­ten aber auch so­zia­len Netz­wer­ken bis hin­ein in die Pu­bli­zi­stik ge­führ­te Kampf für Sprach- und Sprech­ge- bzw. ver­bo­te, vor al­lem je­doch ge­gen ver­meint­li­chen Ras­sis­mus und Dis­kri­mi­nie­run­gen von Min­der­hei­ten. Er will al­ler­dings, so Wa­gen­knecht, kei­ne recht­li­che Gleich­heit, son­dern ufert aus in »Quo­ten und Di­ver­si­ty, al­so für die un­glei­che Be­hand­lung un­ter­schied­li­cher Grup­pen.« Die Fol­ge: »Der iden­ti­täts­po­li­ti­sche Links­li­be­ra­lis­mus, der die Men­schen da­zu an­hält, ih­re Iden­ti­tät an­hand von Ab­stam­mung, Haut­far­be, Ge­schlecht oder se­xu­el­len Nei­gun­gen zu de­fi­nie­ren, […] spal­tet […] da, wo Zu­sam­men­halt drin­gend not­wen­dig wä­re. Er tut das, in­dem er an­geb­li­che Min­der­hei­ten­in­ter­es­sen fort­lau­fend in Ge­gen­satz zu de­nen der Mehr­heit bringt und An­ge­hö­ri­ge von Min­der­hei­ten da­zu an­hält, sich von der Mehr­heit zu se­pa­rie­ren und un­ter sich zu blei­ben. Nach­voll­zieh­ba­rer­wei­se führt das bei der Mehr­heit ir­gend­wann zu dem Ge­fühl, die ei­ge­nen In­ter­es­sen ih­rer­seits ge­gen die der Min­der­hei­ten be­haup­ten zu müs­sen.« (Her­vor­he­bun­gen S. W.)

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Bea­trix Lang­ner: Der Vor­hang

Beatrix Langner: Der Vorhang
Bea­trix Lang­ner: Der Vor­hang

Ei­gent­lich sind es vier Er­zäh­lun­gen, die die Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin Bea­trix Lang­ner in ih­rem 190 Sei­ten-Ro­man »Der Vor­hang« in­ein­an­der ver­wo­ben hat. Zum ei­nen, je­weils in Kur­siv­schrift, zu Be­ginn ei­nes je­den der 27 Ka­pi­tel, ein wild-par­odi­sti­scher Zei­ten­ritt der er­sten Men­schin (wahl­wei­se auch Be­he­mots Toch­ter oder »ein Am­phib«) durch die Erd­ge­schich­te, über »kä­no­zoi­sche Ufer« mit »ju­ras­si­schem Sand« in »vor­ter­tiä­rem Un­ter­grund«, ei­nem »wie ei­ne Glocke« schwin­gen­den Erd­man­tel und dann fest­stel­len, dass es am »di­luvia­ni­schen Ho­ri­zont« hell wird. Da jet­tet je­mand 2496 Mil­li­ar­den Jah­re (un­ter Be­rück­sich­ti­gung ei­ner von der Er­zäh­le­rin eher lang­wei­lig emp­fun­de­nen Epi­so­de von ei­ner Mil­li­ar­de Jah­ren) mit ei­nem – wie soll­te es an­ders sein – apo­ka­lyp­ti­schen Fi­na­le mit »rol­len­den Feu­er­ne­stern«. In­spi­riert wer­den die­se Phan­tas­ma­go­rien durch die Rie­sen­bag­ger, die seit Jahr­zehn­ten in der Köl­ner Bucht die Land­schaft um­frä­sen und von der Er­zäh­le­rin in ei­ner Mi­schung aus Ab­scheu und Fas­zi­na­ti­on be­trach­tet wer­den. Dör­fer wer­den um­ge­sie­delt, Men­schen ih­rer Hei­mat be­raubt (bis­wei­len so­gar ent­eig­net), nur (nur?) um Braun­koh­le zu för­dern, die, wie sich jetzt ei­ni­ger­ma­ßen über­ra­schend her­aus­stellt, für den dro­hen­den Kli­ma­wan­del nicht so gün­stig zu sein scheint.

Und dann gibt es noch die Ich-Er­zäh­le­rin, die aus ih­rer Kind­heit er­zählt, aus ei­ner Stadt, die, war­um auch im­mer, mit »E.« ab­ge­kürzt wird, ob­wohl man nach Se­kun­den er­ken­nen kann, dass es wohl doch Er­kel­enz ist. Die­se Kind­heits­er­in­ne­run­gen wie­der­um wer­den aus­ge­löst durch die Be­treu­ung, spä­ter Pfle­ge der durch ei­nen Schlag­an­fall und/oder De­menz ge­zeich­ne­ten Mut­ter, Jahr­gang 1924, de­ren jah­re­lan­ger Ver­fall bis hin zu Win­del­ho­sen und Bett­un­ter­la­gen in mit­leid­lo­sem Zorn er­zählt wird. Da die Mut­ter auf die zahl­rei­chen Fra­gen nicht mehr ant­wor­ten kann (oder will), über­nimmt die Toch­ter die Re­kon­struk­ti­on ih­res Le­bens gleich selbst, lässt, wie es ein­mal heißt, die Zeit rück­wärts lau­fen, füllt Leer­stel­len aus, ima­gi­niert Er­eig­nis­se, die sie nicht er­lebt hat, nicht er­lebt ha­ben kann und setzt dem (ge­woll­ten?) Ver­ges­sen das Fa­bu­lie­ren ent­ge­gen.

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Wenn Wi­der­stand Pflicht wür­de

Mei­ne letz­te Äu­ße­run­gen auf die­ser Sei­te zur Ta­ges­ak­tua­li­tät der Pan­de­mie liegt jetzt mehr als ein Jahr zu­rück. Da­mals ver­fiel ich kurz der Ge­fahr, mich in täg­li­chen Be­find­lich­kei­ten aus­zu­las­sen, die am En­de noch we­ni­ger als mei­ne Buch­be­spre­chun­gen von In­ter­es­se ge­we­sen wä­ren. Die­se schrei­be ich ja ei­gent­lich nur, um mich sel­ber mei­ner Lek­tü­re zu ver­ge­wis­sern; die Pu­bli­ka­ti­on hat eher dis­zi­pli­na­ri­sche Funk­ti­on.

Seit Ja­nu­ar 2020 le­be ich nun in Augs­burg und rück­blickend be­trach­tet, war es – streng ge­nom­men – nur rund ei­ne Wo­che »Nor­ma­li­tät«. Denn nach ei­ner Wo­che tauch­te der er­ste Fall der neu­en Vi­rus-Er­kran­kung »Co­ro­na« in Deutsch­land auf. Und zwar in Augs­burg. Da­mals lach­ten wir noch.

Sechs, sie­ben Wo­chen spä­ter dann der »Lock­down«. Ich ge­be zu, dass ich es zu­nächst ei­ne span­nen­de Zeit fand. Na­tür­lich bin ich pri­vi­le­giert: ich ha­be kei­ne Kin­der, die ich be­schäf­ti­gen muss, kei­nen Ar­beits­platz, den ich er­rei­chen soll­te und auch sonst kei­ner­lei Ver­pflich­tun­gen. Ein biss­chen war es ein Aus­flug in ei­ne fast un­be­schwer­te Kind­heit. Man blieb zu Hau­se (was ich im­mer am lieb­sten tat). Vor­über­ge­hend stell­te man per­sön­li­che Kon­tak­te ein bzw. re­du­zier­te sie auf ein Min­dest­maß. Ostern 2020 hieß es plötz­lich, dass man Mas­ken tra­gen soll­te, was mir von Be­ginn an schon merk­wür­dig vor­kam, es nicht ein­mal er­wo­gen, son­dern so­gar, ta­ges­schau in Zu­sam­men­ar­beit mit dem Ge­sund­heits­mi­ni­ste­ri­um, als mehr oder we­ni­ger nutz­los dar­ge­stellt wur­de.

Wie auch im­mer, man kram­te sei­ne al­te Näh­ma­schi­ne her­vor und ba­stel­te Mas­ken (An­lei­tun­gen gab es im In­ter­net). Än­de­rungs­schnei­de­rei­en häng­ten ih­re Pro­duk­te ins Fen­ster. Bald gab es auch No­bel­mar­ken, die ih­re Krea­tio­nen im In­ter­net an­bo­ten. Ich er­griff die Ge­le­gen­heit, ein biss­chen ehe­ma­li­ge Hei­mat her­auf­zu­be­schwö­ren, und be­stell­te ei­ni­ge Mas­ken bei Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach. War­um nicht.

Die Bil­der, die ei­nem aus Ita­li­en, Spa­ni­en und ei­ni­ge Mo­na­te spä­ter aus den USA er­reich­ten, er­zeug­ten Angst. Sze­na­ri­en vom Bun­des­in­nen­mi­ni­ste­ri­um, die, nach au­ßen dran­gen (si­cher­lich ei­ne kon­trol­lier­te Ak­ti­on), ver­stärk­ten die­se noch. Spä­ter wur­de be­kannt, dass es ge­ra­de­zu ein Auf­trag ge­we­sen war, die Be­dro­hun­gen mög­lichst dra­stisch dar­zu­stel­len.

Über­ra­schen­der­wei­se senk­ten sich die Zah­len rasch. Die mei­sten Ein­schrän­kun­gen des Lock­downs wur­den auf­ge­ho­ben. Der Fuß­ball roll­te wie­der – mit aus­ge­feil­ten »Hy­gie­ne­kon­zep­ten«, ob­wohl PCR-Tests knapp wa­ren. Ge­schäf­te und die Ga­stro­no­mie konn­ten wie­der öff­nen. Auch Gren­zen zu Nach­bar­län­dern, die man über­ra­schen­der­wei­se auch schlie­ßen konn­te, öff­ne­ten wie­der. Der Som­mer konn­te be­gin­nen. Der Bun­des­ge­sund­heits­mi­ni­ster ver­sprach, dass es nie mehr zu ei­nem Lock­down kom­men müss­te. Gleich­zei­tig kam je­doch be­reits re­la­tiv früh die Mel­dung auf, dass der Kar­ne­val 2021 prak­tisch aus­zu­fal­len ha­be. Das pass­te nicht.

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