Kom­mu­ni­ka­ti­on: ge­stört

Der Dra­ma­turg und Au­tor Bernd Ste­ge­mann wid­met sich in sei­nem neue­sten Buch »Die Öf­fent­lich­keit und ih­re Fein­de« mit al­ler ge­bo­te­nen Aus­führ­lich­keit dem ak­tu­el­len Sta­tus quo des­sen, was man Kom­mu­ni­ka­ti­ons- oder auch Dis­kurs­ge­sell­schaft nennt und be­schreibt, wie Ent­wick­lun­gen aus den USA auch in Deutsch­land im­mer mehr Fuß fas­sen. Die glei­che The­ma­tik be­han­delt »Ge­ne­ra­ti­on be­lei­digt«, ein viel be­ach­te­tes Buch der fran­zö­si­schen Jour­na­li­stin Ca­ro­li­ne Fou­rest, die sich ein­deu­tig als Ak­ti­vi­stin u. a. für LGBTQ-Rech­te stark macht und aus ei­ner fe­mi­ni­sti­schen Po­si­ti­on her­aus ar­gu­men­tiert. Ste­ge­mann be­gnügt sich nicht mit ei­ner Zu­stands­be­schrei­bung, son­dern führt aus, wie dies den Um­gang mit den tat­säch­li­chen, exi­sten­ti­el­len Pro­ble­men des An­thro­po­zäns (Kli­ma­wan­del, Um­welt­ver­schmut­zung, so­zia­le Un­gleich­heit, Mi­gra­ti­ons­strö­me) nicht nur hemmt, son­dern ver­un­mög­licht. Sein Buch steht im Zen­trum die­ser Be­spre­chung.

Bernd Stegemann: Die Öffentlichkeit und ihre Feinde

Bernd Ste­ge­mann: Die Öf­fent­lich­keit und ih­re Fein­de

Zu­nächst un­ter­schei­det er zwi­schen den gän­gi­gen Kon­zep­ten der spät­mo­der­nen Ge­sell­schafts­be­schrei­bung: »Auf der ei­nen Sei­te gibt es die Sy­stem­theo­rie, die er­klärt, dass je­des Sy­stem ei­nen blin­den Fleck braucht, um funk­tio­nie­ren zu kön­nen, und die zu­gleich re­flek­tiert, dass Fort­schritt nur da­durch mög­lich ist, dass al­le Sy­ste­me wech­sel­wei­se ih­re blin­den Flecken kri­ti­sie­ren. Auf der an­de­ren Sei­te ste­hen die My­then­er­fin­der und Fun­da­men­ta­li­sten, die ih­ren ei­ge­nen blin­den Fleck ver­leug­nen und je­den Hin­weis dar­auf als An­griff auf ih­re Iden­ti­tät zu­rück­wei­sen.«

Neo­li­be­ra­lis­mus und In­di­vi­dua­lis­mus

Wie konn­te es so­weit kom­men? Ste­ge­mann cha­rak­te­ri­siert die Post­mo­der­ne als »Er­zäh­lung ei­nes ra­di­ka­len In­di­vi­dua­lis­mus«. Da­mit war, spä­te­stens nach dem Zu­sam­men­bruch des Kom­mu­nis­mus 1989/90, der Weg frei für das, was er »Neo­li­be­ra­lis­mus« nennt. Er ver­wen­det den Be­griff nicht in sei­ner ur­sprüng­li­chen Be­deu­tung, dem ordo-li­be­ra­len Wirt­schafts­sy­stem à la Wal­ter Eucken. Neo­li­be­ra­lis­mus ist für ihn Syn­onym für den ent­fes­sel­ten, gren­zen­lo­sen, glo­ba­li­sier­ten Ka­pi­ta­lis­mus, der un­ter­schwel­lig die Prio­ri­tä­ten in Ge­sell­schaft und Po­li­tik be­stimmt. Er wird zur Ur­quel­le ei­ner sich im­mer wei­ter spal­ten­den Ge­sell­schaft, de­ren Fol­gen bis hin­ein in die öf­fent­li­che Dis­kur­se spür­bar sind.

Neo­li­be­ra­lis­mus ver­bin­de »ein ho­hes Maß an staat­li­cher Or­ga­ni­sa­ti­on mit ei­ner größt­mög­li­chen Frei­heit öko­no­mi­scher Kräf­te. Der Markt soll frei sein für die In­ter­es­sen des Ka­pi­tals, und die Men­schen sol­len als Kon­su­men­ten und Ar­beits­kräf­te die­sem Markt mög­lichst ge­winn­brin­gend aus­ge­lie­fert sein«. Da­mit wur­de der In­di­vi­dua­lis­mus, der nach dem Krieg in Deutsch­land für öko­no­mi­schen Fort­schritt sorg­te, ge­ka­pert. »Der Mensch kann sein Le­ben frei füh­ren, doch sei­ne Stel­lung in­ner­halb der öko­no­mi­schen Ord­nung ist un­frei. Als Staats­bür­ger ist er frei, als Ar­beits­kraft und Kon­su­ment ist sei­ne Frei­heit ma­te­ri­ell be­grenzt.« Die »Le­gi­ti­ma­ti­on des Ka­pi­ta­lis­mus« liegt dar­in, dass der Un­ter­neh­mer die Ar­beit an­bie­tet, die der Ar­beit­neh­mer dann aus­füh­ren darf, um ent­spre­chend des Sy­stems zu kon­su­mie­ren. Deut­li­cher: Der Ab­hän­gi­ge des Ka­pi­tals wird auch noch zum Kon­su­men­ten­da­sein ver­gat­tert, da­mit die Ma­schi­ne wei­ter ar­bei­ten kann. Das Per­fi­de dar­an: Er fin­det es noch gut, spielt mit. Ste­ge­mann ver­mei­det zwar wei­ter­ge­hen­de klas­sen­kämp­fe­ri­sche Rhe­to­rik, lässt die­se Deu­tung al­ler­dings zu.

Tat­säch­lich hat sich das öko­no­mi­sche Den­ken in­zwi­schen tief in den All­tag ein­ge­ni­stet. Die Spra­che tut ihr üb­ri­ges. Wor­te wie »Viel­falt, Gren­zen­lo­sig­keit, Di­ver­si­tät oder In­no­va­ti­on« hät­ten zwar »ei­nen op­ti­mi­sti­schen Klang, doch da­hin­ter ver­birgt sich ei­ne Be­la­stung für den Ein­zel­nen.« Die Aus­wir­kun­gen die­ser Po­li­tik wür­den, so die The­se, längst sub­ku­tan ak­zep­tiert und nicht mehr be­fragt, weil sie als sol­che nicht mehr wahr­ge­nom­men wür­den.

»Um die Fol­ge­pro­ble­me für die Na­tur und die so­zia­len und psy­cho­lo­gi­schen Nö­te«, soll sich, so in­ter­pre­tiert Ste­ge­mann die Adep­ten des Neo­li­be­ra­lis­mus »die Bio­po­li­tik küm­mern.« Mit Bio­po­li­tik meint er ei­ne Re­gie­rungs­form, »die sich ak­tiv um das Le­ben der Be­völ­ke­rung küm­mert.« Ins­be­son­de­re in der Co­ro­na-Zeit ist die­se stark ins Zen­trum ge­rückt, was am Ran­de an­ge­spro­chen wird.

Ge­ne­rell dürf­te der not­fall­ver­sor­gen­de So­zi­al­staat ge­meint sein, der bei Ste­ge­mann an­son­sten ver­blüf­fend we­nig zur Kennt­nis ge­nom­men wird. Im üb­ri­gen kennt man sei­ne Schluss­fol­ge­rung eher un­ter dem grif­fi­gen Bon­mot, dass die Ge­win­ne pri­va­ti­siert und die Ver­lu­ste so­zia­li­siert wer­den. Wor­an dies liegt, bleibt be­dau­er­li­cher­wei­se un­er­ör­tert.

Ge­ra­de die Corona-»Biopolitik« könn­te ein Ge­gen­ar­gu­ment zu Ste­ge­manns Neo­li­be­ra­lis­mus-The­se set­zen. Die Wirt­schaft tritt weit­ge­hend zu Gun­sten der »Ge­sund­heit« der Bür­ger zu­rück. Lock­downs exi­stie­ren, um das Zu­sam­men­bre­chen des Ge­sund­heits­sy­stems zu ver­hin­dern, was be­deu­ten wür­de, dass Ärz­te in ethi­sche Di­lem­ma­ta ge­ra­ten könn­ten. Um dem Staats­bür­ger die­se Bil­der und die da­mit ein­her­ge­hen­den Dis­kus­sio­nen nicht zu­zu­mu­ten, tritt das Pri­mat der Wirt­schaft zu­rück. Ste­ge­mann konn­te oder woll­te die­sen Aspekt nicht auf­neh­men.

Rechts-po­pu­li­stisch und links-iden­ti­tär

Sein Buch ar­gu­men­tiert mit ei­nem Kniff. Der Neo­li­be­ra­lis­mus wird von ihm zur do­mi­nie­ren­den Ideo­lo­gie im Dis­kurs der po­pu­li­sti­schen und links-iden­ti­tä­ren Be­we­gun­gen er­klärt. Die Er­folgs­ge­schich­te des Neo­li­be­ra­lis­mus ha­be »zu ei­ner dia­lek­ti­schen Wen­dung ge­führt, bei der die Mit­tel sei­nes Er­fol­ges – die Ato­mi­sie­rung der Ge­sell­schaft und Auf­lö­sung al­ler Zu­sam­men­hän­ge in re­la­ti­ve, nur noch vom Markt zu ent­schei­den­de Er­eig­nis­se – die Grund­la­ge des­sen zer­stört ha­ben, was heu­te an­ge­sichts des An­thro­po­zäns drin­gend nö­tig wä­re.« Po­pu­lis­mus und rechts- wie links­iden­ti­tä­re Po­li­tik­ent­wür­fe schrei­ben die­se Ato­mi­sie­rung wei­ter fort, um der ei­ge­nen Grup­pe Auf­merk­sam­keit zu ver­lei­hen und ih­re Wün­sche durch­zu­set­zen. Ste­ge­mann re­fe­riert die US-ame­ri­ka­ni­sche Phi­lo­so­phin Nan­cy Phra­ser mit ih­rer The­se vom »pro­gres­si­ven Neo­li­be­ra­lis­mus«, der »po­si­ti­ve Wer­te wie Frei­heit, Gleich­heit und Of­fen­heit für die Durch­set­zung von Ren­dit­ein­ter­es­sen« und, so führt Ste­ge­mann spä­ter aus, für po­li­ti­sche Macht­in­ter­es­sen ver­wen­det. (Letz­te­res ist ein wich­ti­ger Punkt, der häu­fig über­se­hen wird.) Er­staun­lich, dass von der sich de­zi­diert links de­fi­nie­ren­den Fou­rest die­ser Aspekt in ih­rem Buch nir­gends the­ma­ti­siert wird.

Iden­ti­täts­po­li­tik nutzt, so die Ste­ge­manns The­se, die per­fi­de In­di­vi­dua­li­sie­rungs­stra­te­gie des Neo­li­be­ra­lis­mus. Iden­ti­täts­po­li­tik be­deu­tet, dass Sub­jek­te ih­ren »je­wei­li­gen Eth­ni­en, Na­tio­nen und so­zia­len Ver­bän­den« zu­ge­ord­net wer­den. Ca­ro­li­ne Fou­rest de­fi­niert Iden­ti­täts­po­li­tik als »Be­reit­schaft, ei­ne auf Min­der­hei­ten aus­ge­rich­te­te Po­li­tik zu be­trei­ben, die sich auf ‘Ras­se’, Ge­schlecht und Gen­der be­zieht«. Die­se sub­jek­ti­ve Iden­ti­tät wird zum (macht-)politischen In­halt ge­macht. Ziel sei es, so Ste­ge­mann wie­der, »ein­zel­nen Stim­men mehr Ge­wicht und an­de­ren we­ni­ger Ge­wicht zu ver­lei­hen«. Es geht dar­um, »wes­sen In­ter­es­sen in wel­cher Form öf­fent­lich ver­han­delt wer­den dür­fen.« Und wer dies ent­schei­det.

Das Den­ken da­hin­ter ist nicht nur to­ta­li­tär, son­dern sel­ber dis­kri­mi­nie­rend. Der Mensch ist nicht fä­hig, aus die­ser Iden­ti­tät in ir­gend­ei­ner Form zu ent­flie­hen. Ste­ge­manns Be­schrei­bun­gen die­ser »Po­li­tik« er­in­nern von Fer­ne an die Zunft- und Stän­de­ge­sell­schaf­ten des Mit­tel­al­ters oder an die ge­sell­schaft­li­chen Bar­rie­ren des 19. Jahr­hun­derts, in de­nen Bür­ger­tum und Adel ge­trennt bzw. so­zi­al kaum durch­läs­sig wa­ren. Heut­zu­ta­ge wird die Zu­ge­hö­rig­keit zu ei­ner be­stimm­ten Min­der­heit zur Grund­vor­aus­set­zung um ge­sell­schaft­li­che, po­li­ti­sche oder äs­the­ti­sche Sach­ver­hal­te kom­men­tie­ren zu dür­fen. Wer dann nicht der glei­chen Eth­nie, Haut­far­be und/oder (se­xu­el­len) Ori­en­tie­rung an­ge­hört, gilt nicht mehr als sa­tis­fak­ti­ons­fä­hig. Aus dem Ge­fühl, dis­kri­mi­niert zu wer­den, wird ein all­ge­mein­gül­ti­ger Gel­tungs­an­spruch ab­ge­lei­tet. Wel­che Blü­ten dies trei­ben kann, ist bei Fou­rest in zahl­rei­chen Bei­spie­len aus den USA, aber auch Frank­reich und Bel­gi­en, in­ten­si­ver be­schrie­ben als bei Ste­ge­mann. Die ak­tu­el­len Aus­ein­an­der­set­zun­gen um die Über­set­zung ei­nes Ge­dichts ei­ner schwar­zen Au­torin zei­gen, dass dies längst kei­ne Ein­zel­fäl­le mehr sind.

Die der­art ent­ste­hen­de »Wo­ke­ness«, ei­ne pro­ak­ti­ve Su­che nach »Ver­stö­ßen ge­gen die po­li­ti­sche Kor­rekt­heit […], um sie an­schlie­ßend skan­da­li­sie­ren zu kön­nen«, er­zeugt Dis­so­nan­zen in der Öf­fent­lich­keit. Da­bei ist mit dem (mo­ra­li­schen) Auf­schrei we­der ei­ne Kor­rek­tur bzw. Be­sei­ti­gung von Miss­stän­den be­ab­sich­tigt noch ein dis­kur­si­ver Aus­tausch ge­wünscht. Ziel ist die »öf­fent­li­che Ver­nich­tung«. Ar­gu­men­te wer­den, wenn sie über­haupt noch be­rück­sich­tigt wer­den, ent­we­der mit Tau­to­lo­gien be­ant­wor­tet (es ist so, weil es so ist) oder ad ho­mi­nem ge­gen den ge­rich­tet, der sie vor­bringt. Er hat zu schwei­gen und, wenn er da­zu nicht be­reit ist, wird ver­sucht, ihn zum Schwei­gen zu brin­gen. Aus Geg­nern wer­den Fein­de. Das Re­sul­tat ist bis­wei­len das, was ge­mein­hin »Can­cel Cul­tu­re« ge­nannt wird.

Ver­su­che »mo­ra­li­scher Rein­heit«

Die­se Me­cha­nis­men ha­ben, wie vor al­lem Fou­rest ein­dring­lich schil­dert, längst im uni­ver­si­tä­ren Be­reich vor al­lem in an­gel­säch­si­schen Län­dern Ein­zug ge­hal­ten (aber nicht nur). Die Fol­ge ist ei­ne ri­gi­de Form der »un­ver­söhn­li­chen Par­tei­lich­keit« (Ste­ge­mann). Dies färbt auch be­reits auf Leit­me­di­en ab. Öf­fent­lich-recht­li­che Me­di­en ver­ge­ben Sen­de­zeit an Iden­ti­täts­ak­ti­vi­sten und dis­ku­tie­ren, ob be­stimm­te Prot­ago­ni­sten über­haupt noch zur Kennt­nis ge­nom­men wer­den sol­len.

Ste­ge­mann de­cou­vriert die sich hier zei­gen­den All­machts­phan­ta­sien und Wi­der­sprü­che (die er »blin­de Flecken« nennt). Er ana­ly­siert die Si­tua­ti­on deut­lich un­auf­ge­reg­ter als Fou­rest, die zum Teil aus per­sön­li­cher Er­fah­rung her­aus schreibt und für die Prot­ago­ni­sten Be­zeich­nun­gen wie »In­qui­si­to­ren«, »Ge­dan­ken­po­li­zei«, »Epi­der­mis-Be­ses­se­ne« oder »Kul­tur-Ta­li­ban« fin­det. Die­se har­te Spra­che ist auch dar­in be­grün­det, dass auf der Wel­le des »An­ti­ras­sis­mus« in ih­rem Hei­mat­land Frank­reich auch mus­li­misch-fun­da­men­ta­li­sti­sche Kräf­te sur­fen, die je­de Kri­tik an der Durch­set­zung uni­ver­sa­li­sti­scher Wer­te als »Isla­mo­pho­bie« de­nun­ziert.

Die Form der Eli­mi­nie­rung un­lieb­sa­mer An­sich­ten »un­ter­schei­det sich von ar­chai­schen Ta­bui­sie­run­gen da­durch, dass sie kein ge­samt­ge­sell­schaft­li­ches In­ter­es­se mehr ver­folgt, son­dern die in­di­vi­du­el­le Em­pö­rung zum all­ge­mei­nen Maß­stab er­klärt«, so Ste­ge­mann. Be­ab­sich­tigt ist ei­ne Form in­tel­lek­tu­el­ler, po­li­ti­scher und, was die Kunst an­geht, auch äs­the­ti­scher »Rein­heit«. Und hier fin­det er tat­säch­lich wie­der zu sei­nem Geg­ner zu­rück, dem Neo­li­be­ra­lis­mus: »Dass im­mer mehr Künst­ler in der Spät­mo­der­ne für sich selbst […] nach ei­ner Po­si­ti­on der mo­ra­li­schen Rein­heit stre­ben, zeigt, wie er­folg­reich die neo­li­be­ra­le Ideo­lo­gie ist.«

Ste­ge­mann be­lässt es nicht bei der Be­schrei­bung des Ist-Zu­stands. Er ver­schränkt In­di­vi­dua­lis­mus, po­li­ti­sche Kor­rekt­heit und Can­cel Cul­tu­re zu Phä­no­me­nen der »neo­li­be­ra­len Spät­mo­der­ne«. Sie sind, so die The­se, ver­ant­wort­lich für die mehr­fach ge­stör­te Kom­mu­ni­ka­ti­on in der Öf­fent­lich­keit.

Kri­tik an Me­cha­nis­men kon­tern Iden­ti­täts- und Kor­rekt­heits­adep­ten, die Ste­ge­mann »Pro­fi­teu­re der dop­pel­ten Stan­dards« nennt, da­mit, die Phä­no­me­ne ent­we­der zu be­schwich­ti­gen oder schlicht­weg zu leug­nen. Auch hier wer­den Par­al­le­len zum Neo­li­be­ra­lis­mus er­kannt, der sich vor Kri­tik ge­schützt hat, »in­dem er die Ur­sa­che der Un­gleich­heit un­sicht­bar ge­macht hat«. »In der De­bat­te um Po­li­ti­cal Cor­rect­ness« wird der Trick der Leug­nung »seit vie­len Jah­ren prak­ti­ziert. Wer ei­ne Sprach­re­gu­lie­rung als zen­sie­ren­den Ein­griff be­zeich­net, dem wird au­to­ma­tisch ent­geg­net, dass es Po­li­ti­cal Cor­rect­ness gar nicht gibt. Wer et­was an­de­res be­haup­tet, hängt ei­ner po­li­tisch ver­däch­ti­gen Mei­nung an.«. Ähn­lich funk­tio­niert das Prin­zip der Leug­nung von Can­cel Cul­tu­re.

Wie sol­len so die exi­sten­ti­el­len Pro­ble­me be­kämpft wer­den?

Die Kon­se­quen­zen für die Ge­sell­schaft sind im­mens, weil sie der exi­sten­ti­el­len Pro­ble­me der Er­de, wie dem des Kli­ma­wan­dels, nicht ge­recht wer­den. Un­ter­des­sen geht näm­lich die »sy­ste­misch ge­wor­de­ne Gier nach Wachs­tum« un­ge­bremst vor­an. Die Mensch­heit sei »taub für die war­nen­den Si­gna­le der Öko­lo­gie«. Ei­ne Ge­sell­schaft, die hier­auf nicht an­ge­mes­sen re­agie­ren kann, weil sie kom­mu­ni­ka­tiv ge­stört ist, wird die Pro­ble­me nicht lö­sen.

Ste­ge­mann schließt in der Kri­tik aus­drück­lich auch bei­spiels­wei­se Be­we­gun­gen wie »Fri­day for Fu­ture« ein. De­ren Pro­test­kom­mu­ni­ka­ti­on wie­der­ho­le die Streit­struk­tur und ver­fe­sti­ge da­durch die Wi­der­sprü­che. Zwar kon­ze­diert er, dass sie »zu den Mit­teln der Kom­ple­xi­täts­re­duk­ti­on grei­fen« müs­se und at­te­stiert hier ins­be­son­de­re zu Be­ginn der Ak­ti­vi­stin Gre­ta Thun­berg durch­aus ei­ne rich­ti­ge Wahl des Pro­te­stes. In­zwi­schen wür­de je­doch von wohl­si­tu­ier­ten Gym­na­sia­sten und Stu­den­ten nur noch ei­ne »recht­ha­be­ri­sche Sub­jek­ti­vi­tät« ge­pflegt. Er sei eben »kein Streik der­je­ni­gen, die in der res­sour­cen­in­ten­si­ven In­du­strie oder im Nied­rig­lohn­sek­tor ar­bei­ten, oder der­je­ni­gen, die ar­beits­los sind. Es sind die Ver­tre­ter im­ma­te­ri­el­ler Wer­te, de­ren Le­bens­grund­la­ge von ko­gni­ti­ver oder emo­tio­na­ler Ar­beit ab­hängt, die de­mon­strie­ren. Mit ei­nem Wort: Die Kli­ma­be­we­gung ist der neue Aus­druck ei­nes al­ten Klas­sen­ver­hält­nis­ses.«

Was müss­te ge­sche­hen? »Wä­ren die Pro­te­stie­ren­den den Weg des ei­ge­nen Op­fers wei­ter­ge­gan­gen und hät­ten z. B. ei­nen Kon­sum­ver­zicht vor­ge­lebt, wä­ren ih­re Ak­tio­nen wie ein Me­teo­rit in die Kon­sum­ge­sell­schaft ein­ge­schla­gen.« Dies sei je­doch un­ter­blie­ben – statt­des­sen ver­schanz­ten sie sich hin­ter uto­pisch an­mu­ten­den Ma­xi­mal­for­de­run­gen und ei­nem eher un­ter­kom­ple­xen Wis­sen­schafts­be­griff.

Zwar ist Ste­ge­mann nicht ab­ge­neigt, die na­tur­wis­sen­schaft­li­chen Fak­ten in Be­zug auf den Kli­ma­wan­del als Ba­sis für den Pro­test ein­zu­bin­den. Aber er kann nicht aus­blen­den, dass die Wahr­hei­ten der Na­tur­wis­sen­schaf­ten, »die als Kron­zeu­gen für ra­tio­nal ge­führ­te Dis­kur­se her­hal­ten« »im­mer nur so lan­ge gel­ten, bis sie wi­der­legt wor­den sind«. »Die« Na­tur­wis­sen­schaf­ten (die ja kei­ne ho­mo­ge­ne Mas­se sind) dro­hen, mit der Kom­mu­ni­ka­ti­on die­ser Wahr­hei­ten »in die Fal­len der stra­te­gi­schen Kom­mu­ni­ka­ti­on« zu tap­pen. Denn »je­des Ar­gu­ment [er­hält] durch sei­ne Über­tra­gung in die Po­li­tik ei­ne zwei­te Di­men­si­on. In die­ser wird da­nach ge­fragt, wes­sen In­ter­es­sen in der Tat­sa­che ver­tre­ten wer­den.«. Hier­in liegt ein nicht un­er­heb­li­ches Pro­blem – eben auch in der dis­kur­si­ven Aus­ein­an­der­set­zung um »die« Wis­sen­schaft.

Die ak­tu­el­le Form der Pro­te­ste wird vom Au­tor nicht per se ab­ge­lehnt, je­doch plä­diert er zu­sätz­lich für »ei­ne neue Form der gei­sti­gen Ein­stel­lung«, der ein »wei­ter Blick für die öko­lo­gi­schen Zu­sam­men­hän­ge« schaf­fen soll. Die Hür­den »in­ner­halb ei­ner car­te­sia­nisch-ka­pi­ta­li­sti­schen Lo­gik die Er­de an­ders den­ken zu wol­len« sei­en hoch. Das klingt nach Sy­stem­wech­sel – aber das Wort fällt nicht. Man ist über­rascht, we­nig spä­ter von »De­mut« zu le­sen, die es bräuch­te, »um sich der Öko­lo­gie zu nä­hern«. Zwar ge­hö­re »den Lau­ten, den Pa­ni­schen, den Auf­trump­fen­den« im­mer noch die Welt. Aber da­bei gin­ge die Er­de »ka­putt«. De­mut sei die »psy­cho­lo­gi­sche Ant­wort auf die Tran­szen­denz der Öko­lo­gie«. Das ist al­ler Eh­ren Wert – aber ist es die Lö­sung?

Al­ter­na­ti­ven?

Ste­ge­manns The­sen­ge­flecht ist in­ter­es­sant, aber er macht es bis­wei­len ein biss­chen ein­fach. So fragt man sich, wor­in das Ge­gen­mo­dell des von ihm teil­wei­se zu Recht kri­tisch be­äug­ten In­di­vi­dua­lis­mus lie­gen könn­te. Denn aus gu­ten, vor al­lem hi­sto­ri­schen Grün­den, be­trach­tet man kol­lek­ti­vi­sti­sche Ge­sell­schafts­ent­wür­fe spä­te­stens in den 1960er Jah­ren mit gro­ßen Vor­be­hal­ten. Wie tief die­se ver­an­kert wa­ren (und im­mer noch sind) zeig­te sich wäh­rend des Pro­zes­ses der Wie­der­ver­ei­ni­gung 1989/90 und, so­gar noch stär­ker, 2006, als kurz­zei­tig ein neu­es na­tio­na­les Selbst­be­wusst­sein durch die deut­sche Fuß­ball­na­tio­nal­mann­schaft wäh­rend der Welt­mei­ster­schaft im ei­ge­nen Land auf­kam. Al­lei­ne die Nei­gung ver­mehrt deut­sche Fähn­chen zu zei­gen wur­de so­fort arg­wöh­nisch ge­trach­tet und so­gar dif­fa­miert. Als der grü­ne Po­li­ti­ker Ro­bert Ha­beck 2010 in ei­nem Buch für ei­nen neu­en, lin­ken Pa­trio­tis­mus plä­dier­te, mach­ten spe­zi­ell lin­ke Kri­ti­ker ei­ne Wie­der­ein­füh­rung des preu­ßi­schen Na­tio­na­lis­mus mit Pickel­hau­be aus. Wie auch im­mer: Po­li­ti­sche Ent­wür­fe für Ge­mein­sinn und All­ge­mein­wohl gel­ten im­mer noch als pro­ble­ma­tisch und su­spekt. Was weit­ge­hend sank­ti­ons­los bleibt ist der Be­zug auf sich sel­ber. Und dar­an hat der »Neo­li­be­ra­lis­mus« nicht den größ­ten An­teil.

Denn auch die Adep­ten ei­nes eher für­sorg­li­chen Staat ver­mö­gen nicht mehr zu über­zeu­gen. Zu stark das Ver­sa­gen in so­zia­li­sti­schen Mo­del­len. Und auch die ak­tu­el­le La­ge in der Pan­de­mie und das vi­ru­len­te Staats­ver­sa­gen in Deutsch­land was das vor­aus­schau­en­de Han­deln an­geht, dürf­te eher ein ab­schrecken­des Bei­spiel für ei­ne Re­vi­ta­li­sie­rung ei­nes all­zu do­mi­nan­ten Staa­tes sein. Wenn Po­li­ti­kern in An­be­tracht ih­rer Un­ter­las­sun­gen nichts wei­ter bleibt, als die Be­völ­ke­rung ein­zu­sper­ren, dürf­te kein neu­es, in­tel­lek­tu­ell pro­duk­ti­ves Ge­mein­we­sen ent­ste­hen.

Auch dass die Re­li­gi­on als Bin­dungs­glied längst nicht mehr exi­stiert, ist Fakt. Dies war der Weg von der Auf­klä­rung zur Mo­der­ne (die in­zwi­schen mit der groß­zü­gi­gen Aus­le­gung der Re­li­gi­ons­frei­heit ih­re Pro­ble­me hat – hier­zu ei­ni­ges bei Fou­rest). Ver­ein­zelt gab es Ent­wür­fe, sä­ku­la­re und zu­gleich ge­mein­sinns­tif­ten­de Idea­le zu et­was Neu­em zu for­men. Die gän­gig­ste Form, das Mo­dell der de­li­be­ra­ti­ven Öf­fent­lich­keit, ver­wirft Ste­ge­mann: »Das de­li­be­ra­ti­ve Ver­fah­ren ist […] kei­ne neu­tra­le Me­tho­de, son­dern als Ver­fah­ren schon Teil ei­ner be­stimm­ten po­li­ti­schen Hal­tung«. Am En­de wird das Ur­teil ge­fällt: »Bei der de­li­be­ra­ti­ven Öf­fent­lich­keit han­delt es sich […] we­ni­ger um ei­ne zu­tref­fen­de Be­schrei­bung der rea­len Öf­fent­lich­keit als viel­mehr um ei­ne Wunsch­vor­stel­lung.« Auch der aus glei­cher Quel­le her­an­ge­zo­ge­ne Ver­fas­sungs­pa­trio­tis­mus ver­moch­te nicht Bin­dungs­kräf­te in­ner­halb der Ge­sell­schaft zu er­zeu­gen. Hin­zu kam schließ­lich, dass die im­mer stär­ke­re Fo­kus­sie­rung auf die Eu­ro­päi­sche Uni­on (nicht zu­letzt durch die in zahl­rei­chen Staa­ten ein­ge­führ­te Ge­mein­schafts­wäh­rung) nicht den ge­wünsch­ten Ef­fekt ei­nes »eu­ro­päi­schen« Ver­ständ­nis­ses er­zeug­te, son­dern in­ner­halb der Fi­nanz­kri­se 2008f ins Ge­gen­teil um­schlug. Es ist eben schwie­rig, po­li­ti­sche Uto­pien von oben zu »ver­ord­nen«.

In­so­fern ist der In­di­vi­dua­lis­mus, der jetzt im rechts-po­pu­li­sti­schen wie auch links-iden­ti­tä­ren La­ger die skur­ril­sten Blü­ten treibt, das Pro­dukt der seit Jahr­zehn­ten fort­schrei­ten­den und nach dem Zu­sam­men­bruch des Kom­mu­nis­mus end­gül­tig er­folg­rei­chen Ent­kol­lek­ti­vie­rung von In­di­vi­du­en. Die Kon­fron­ta­tio­nen, die jetzt ent­ste­hen, wer­den nicht zu­letzt auf­grund der di­gi­ta­len Me­di­en in Echt­zeit auf dem kom­mu­ni­ka­ti­ven Markt sicht­bar, so­fort vi­ru­lent und von Leit­me­di­en auf­ge­nom­men und teil­wei­se so­gar for­ciert.

Für Ste­ge­mann ist es der »Neo­li­be­ra­lis­mus«, der die­se Spal­tungs­ten­den­zen ge­ra­de­zu er­zeugt. Er ist Ver­ur­sa­cher nicht nur für die Ato­mi­sie­rung des Dis­kur­ses son­dern da­mit am En­de so­gar für die Hand­lungs­lo­sig­keit was die glo­ba­le Um­welt­zer­stö­rung an­geht. Si­cher­lich, man muss nicht Koch sein, um fest­zu­stel­len, dass die Sup­pe ver­sal­zen ist. Aber wel­che an­de­ren Re­zep­te bie­ten sich an? Wie wird der not­wen­di­ge Be­wusst­seins­wan­del, von dem ge­gen En­de die Re­de ist, her­bei­ge­führt? Ne­ben De­mut fällt das Wort »Tran­szen­denz«. Auf der letz­ten Sei­te steht dann, leicht rau­nend, pa­the­tisch: »Die Tran­szen­denz der Öko­lo­gie zeigt sich uns nicht von sich aus, und wir ha­ben die kul­tu­rel­len Mit­tel ver­lernt, mit de­nen frü­he­re Ge­sell­schaf­ten ver­sucht ha­ben, das Tran­szen­den­te in die mensch­li­che Ge­gen­wart zu ho­len.« Und das na­tür­lich oh­ne Gott. Blie­be die Fra­ge, wie man all das Ver­lern­te wie­der Er­ler­nen und po­si­tiv ein­brin­gen kann, oh­ne in ei­nen Kli­ma- oder Um­welt-Dog­ma­tis­mus zu ver­fal­len.

Caroline Fourest: Generation beleidigt

Ca­ro­li­ne Fou­rest:
Ge­ne­ra­ti­on be­lei­digt

Fou­rests Schluss sieht an­ders aus. Sie will den iden­ti­tä­ren »Tri­ba­lis­mus« mit­tels »kon­struk­ti­ver Kri­tik« und dem un­ein­ge­schränk­ten Ein­tre­ten für uni­ver­sa­li­sti­sche Wer­te be­kämp­fen, den »Selbst­hass« der Prot­ago­ni­sten an­grei­fen. Man müs­se da­hin­ge­hend über­zeu­gen, dass sich »an­ti­ras­si­stisch« nen­nen­de Iden­ti­täts­po­li­tik (die in Wirk­lich­keit rei­ner Ras­sis­mus sei), nur den rechts­iden­ti­tä­ren Kräf­ten in die Kar­ten spie­len wür­de. Die­sen Pro­zess kön­ne nur durch ei­ne uni­ver­sa­li­sti­sche Lin­ke ge­sche­hen, die mul­ti­kul­tu­ra­li­stisch den­ke und agie­re. Kon­ser­va­ti­ve will sie nicht da­bei ha­ben, sie wür­den nur ein zu­rück in ei­ne mo­no­kul­tu­rel­le Welt an­stre­ben. Fort­schritt be­deu­te nicht, so Fou­rest, »schwei­gen zu ler­nen, son­dern bes­ser re­den zu ler­nen.« Ste­ge­manns un­ter­schwel­li­ge Klas­sen­rhe­to­rik kommt bei ihr nicht vor, ver­mut­lich weil die den weit­hin aus­ge­lob­ten »Ras­sen­kampf« als das dring­li­che­re Pro­blem als den ein­sti­gen »Klas­sen­kampf« ver­or­tet.

Die Vor­gän­ge, die bei­de Au­toren be­schrei­ben, sind mehr als nur Ver­ir­run­gen harm­lo­ser Wirr­köp­fe. Frank­reich und Deutsch­land sind da­bei noch nicht auf dem Hy­ste­rie­ni­veau der USA. Aber auch in Deutsch­land stellt sich zu­neh­mend die Fra­ge, wie man mit Men­schen re­det, die kei­nem Dis­kurs, kei­nem Ar­gu­ment ge­gen­über of­fen sind und so­mit jeg­li­chen po­li­ti­schen Kom­pro­miss a prio­ri ne­gie­ren, in­dem sie Ma­xi­mal­for­de­run­gen stel­len, von de­nen sie nicht ab­rücken. Ste­ge­mann be­schreibt, was dies für die ge­sell­schaft­li­chen Her­aus­for­de­run­gen in Zei­ten von Kli­ma­wan­del, Um­welt­zer­stö­rung und – ak­tu­ell – Pan­de­mie be­deu­tet. Es geht am En­de um mehr als nur ein paar lä­cher­li­che Sprach­re­ge­lun­gen oder wer ein Ge­dicht über­set­zen darf. Es geht dar­um, wie man ge­mein­sam exi­sten­ti­el­le Pro­ble­me löst. Oder ob man dies laut­star­ken Min­der­hei­ten – ob von rechts, von links oder aus der »an­ti­ras­si­sti­schen« Ecke – über­lässt. Das wä­re, so zei­gen bei­de Bü­cher, kei­ne Al­ter­na­ti­ve.

3 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Biss­chen scha­de, dass Sie das Buch von Fou­rest da noch mit rein­quet­schen. Den­noch ei­ne hoch­in­ter­es­san­te Be­spre­chung von Ste­ge­mann, den viel­leicht glän­zend­sten Wirr­kopf mo­men­tan. Ich kann gar nicht ver­ste­hen, wie er mit al­le die­sen links­he­ge­lia­ni­schen Kli­schees im Kopf noch an dem sprich­wört­li­chen »of­fe­nen Fen­ster« vor­bei­kommt, oh­ne sich schrei­end hin­aus­zu­stür­zen.
    In­ter­es­sant ist an dem Buch, dass der Au­tor zwei völ­lig un­ter­schied­li­che Bau­stel­len der of­fe­nen Ge­sell­schaft zu ein-und-der­sel­ben Ge­gen­warts­ka­ta­stro­phe zu­sam­men­fasst. Das kann ich wirk­lich nach­voll­zie­hen. Spä­te­stens bei Gre­ta muss­te je­der auf die Fra­ge sto­ßen: wie un­be­darft däm­lich darf ein Dis­kurs-Teil­neh­mer ei­gent­lich sein, da­mit er nicht mehr »sa­tis­fak­ti­ons­fä­hig« ist?!
    Ich ha­be die Dis­kre­panz schon Jah­re zu­vor wahr­ge­nom­men. Das durch­schnitt­li­che In­ter­es­se an Fra­gen des wirt­schaft­li­chen Um­baus der »post­mo­der­nen In­du­strie­ge­sell­schaft« reicht nur für ein paar stei­le Sprü­che im Par­tei­pro­gramm (Die GRÜNEN), oder et­was spoo­ky-fic­tion zur Prime-Time. Es ist ei­ne spek­ta­ku­lä­re Dis­kre­panz zwi­schen Sor­ge-Be­reit­schaft und po­li­ti­scher In­kom­pe­tenz ent­stan­den. Wir schaf­fen das. Ga­ran­tiert nicht.
    Ste­ge­mann geht in­tui­tiv rich­tig vor: was ge­nau sind die Ur­sa­chen für die­se Ko­nin­zi­denz?! Wann hat es auf­ge­hört, dass die Teil­neh­mer ge­übt zwi­schen den Eta­gen ‑Ra­tio­na­lil­tät, ‑Em­pa­thie und ‑Prag­ma­tik wech­seln konn­ten, und da­bei be­last­ba­re Er­geb­nis­se ent­stan­den?! Die al­te Fra­ge: Wann war es je­mals bes­ser?!
    Die al­te Ant­wort: Nie­mals; es ist die Ab­stim­mung der Zu­mu­tun­gen, die ei­nen schär­fe­ren Kon­trast er­zeugt, als noch vor Jah­ren.
    Noch zwei Punk­te: deut­lich un­si­cher, aber nicht völ­lig fehl­ge­hend, sind Stegemann’s Be­mer­kun­gen zur neu­en »Na­tur­wis­sen­schaft«. Auch das pfei­fen die Spat­zen schon von den Dä­chern. Es gibt Wis­sen­schaft­ler, und es gibt »Wis­sen­schaft­ler«, al­so ge­nau je­ne In­di­vi­du­en aus den Zünf­ten, die kei­nen Deut zwi­schen ei­ner Aus­sa­ge in ih­rer Stu­die und ei­nem Ar­gu­ment in der po­li­ti­schen Run­de un­ter­schei­den. Wich­tig da­bei: die mei­sten Fach­kol­le­gen kön­nen das, und er­ken­nen die Über­grif­fig­keit, aber al­le Lai­en kön­nen das nicht un­ter­schei­den. Die Kli­ma­for­schung hat die­se Sy­stem­gren­ze (Luh­mann) zum Ein­sturz ge­bracht, und et­was we­ni­ger deut­lich wie­der­holt sich die Mal­lai­se in der Pan­de­mie. Al­so: Re­spekt für Ste­ge­mann, dass er die­se pre­kä­re Über­schrei­tung als Au­ßen­ste­hen­der er­kennt!

  2. Ach ja, ver­ges­sen! Der zwei­te Punkt: sei­ne Aus­füh­run­gen zum The­ma »die Er­de an­ders den­ken« sind ir­gend­wie an­rüh­rend. Da schwingt ein Grund­ton aus der deut­schen Ro­man­tik mit, den ich sehr ger­ne ha­be...

  3. Das mit dem »Reinquetschen«...den Schuh muss ich mir an­zie­hen. Ich woll­te aber un­be­dingt auf das Buch hin­wei­sen und auf die un­ter­schied­li­chen Rich­tun­gen der bei­den Au­toren. Fou­rests Buch ist deut­lich de­skrip­ti­ver (und bis­wei­len auch er­nüch­tern­der).

    Und ja, die­sen »Romantik«-Ton – den kann man bei Ste­ge­mann be­s­in­ders zum En­de hin her­aus­hö­ren. Die Zei­ten der Be­wußt­ma­chung sind al­ler­dings – so mei­ne Dia­gno­se – vor­bei.