Die Kunst des Auf­ge­bens V

(← IV)

Noch ein Nach­spiel

Es war im­mer noch früh, und so be­schloß ich, in Mit­a­ki aus­zu­stei­gen. Seit lan­gem will ich mir die­sen, wie ich oft sa­gen hör­te, spi­ri­tu­el­len Ort an­se­hen. Ich war schon ein­mal hier ge­we­sen, oder doch in der Nä­he, mit mei­ner Toch­ter, als sie klein war. Der Na­me Mit­a­ki be­deu­tet »drei Was­ser­fäl­le«. Schon da­mals hat­te ich mir ge­sagt, ich möch­te doch zu gern wis­sen, ob es sich um ei­nen drei­tei­li­gen Was­ser­fall han­delt oder wirk­lich um drei von­ein­an­der ge­trenn­te, ver­schie­de­ne. Der Auf­stieg bis zur hei­li­gen Zo­ne ist et­was müh­sam, nicht so sehr we­gen der Steil­heit des Ge­län­des als we­gen des Asphalts und den sich gar so hin­zie­hen­den Kur­ven. Die Be­su­cher kom­men im Au­to hier­her, ei­ni­ge we­ni­ge auch im Li­ni­en­bus. Es gibt da wie­der ein­mal ei­ne Ga­be­lung, links geht es zum Wald­spiel­platz und zum Na­tur­mu­se­um für Kin­der, rechts zum Tem­pe lare­al. Yo­ko­hat­te sich na­tur­ge­mäß für das Spiel ent­schie­den, ge­gen bud­dhi­sti­sche Be­schau­lich­keit, und sie war so oft die lan­ge, dem Ge­län­de sich an­schmie­gen­de blaue Rut­sche hin­un­ter­ge­glit­ten und hat­te sämt­li­che Ge­schick­lich­keits­par­cours, Klet­ter­wän­de und Hän­ge­brücken aus­pro­biert, bis sie völ­lig er­schöpft und es Zeit zur Heim­rei­se war.

Bild 1 – Kunst des Aufgebens V – © Leopold Federmair

Bild 1 – Kunst des Auf­ge­bens V – © Leo­pold Fe­der­mair

Dies­mal war ich von An­fang an ge­schwächt, weil mein Ma­gen in letz­ter Zeit we­nig ver­trug und mich die Wäl­le von Bai­rin auch et­was Kraft ge­ko­stet hat­ten. Al­so ge­dach­te ich, nach­dem ich in den Tem­pel­be­zirk ein­ge­tre­ten war, die Ge­le­gen­heit zu nüt­zen und in dem Tee­haus gleich nach dem Ein­gang Udon zu es­sen, das wür­de mein Ma­gen ver­tra­gen. Pech ge­habt, ur­e­ki­ri, aus­ver­kauft, kei­ne Nu­deln; Macha und ja­pa­ni­sche Sü­ßig­kei­ten ka­men lei­der nicht in Fra­ge. Es war ein Lo­kal ähn­lich dem pseu­do­fran­zö­si­schen Ca­fé, das ich vor Mo­na­ten in Ono­mic­hi be­sucht hat­te, wun­der­bar in die Land­schaft ge­fügt, aus dem­sel­ben Stoff, Holz und Stein und Fen­ster­glas, das wie ein Wind­spiel klirr­te, halb ver­bor­gen im Wald, aus dem Berg­dun­kel her­aus schim­mernd, die Gä­ste er­leuch­tend, von welt­li­cher Sor­ge be­frei­end. Näch­stes Mal… Noch ein Plan, Ca­fé bei den Pflau­men­bäu­men, dann bei den Was­ser­fäl­len, ein­fach so, zum Ver­gnü­gen, oh­ne geist­li­chen An­spruch, wie es mei­ne Toch­ter lieb­te, als sie klein war, und wie wir al­le es lie­ben soll­ten. Kin­der als Vor­bild für Er­wach­se­ne, das pre­di­ge ich jetzt schon seit fünf­zehn Jah­ren.

Bild 2 – Kunst des Aufgebens V – © Leopold Federmair

Bild 2 – Kunst des Auf­ge­bens V – © Leo­pold Fe­der­mair

Das Be­son­de­re am Tem­pel­be­zirk von Mit­a­ki ist, daß er von Göt­tern und Vor­fah­ren, von Fi­gu­ren aus Stein und Holz be­wohnt scheint, an­ders als sonst meist in ähn­li­chen Area­len, wo man sich ob der schie­ren Men­ge des Ein­drucks ei­ner In­va­si­on nie ganz er­weh­ren kann. Hier aber wohn­ten sie wirk­lich, die Gott­hei­ten und hei­lig­mä­ßi­gen Leu­te, seit je­her und für al­le Zeit. Es war ihr Be­reich, sie tra­ten sacht oder über­ra­schend aus dem Dickicht her­vor (oh­ne sich von der Stel­le zu rüh­ren) oder ver­bar­gen sich, zo­gen sich zu­rück, sa­hen dir freund­lich auf die Na­se, auf die Knie, lä­chel­ten über die Pil­ger, hie­ßen sie will­kom­men oder zeig­ten sich gleich­gül­tig. Oder dank­bar, ge­dul­dig dan­kend wie die Schar der von ei­nem oran­ge­far­be­nen Moos be­deck­ten Kan­nons, die von al­ten Leu­ten, un­ter ih­nen Grei­se, eif­rig mit Was­ser be­sprüht wur­den. Nun ja, die die Ewig­keit na­hen spü­ren, sie su­chen die Nä­he zu den Tem­peln, zu de­ren dra­ma­tis per­so­nae, in des­sen Rei­hen sie bald tre­ten wer­den. Ei­ne Sta­tue wer­den, im­mer ha­be ich das ver­mei­den wol­len, ha­be es als schö­nen Kampf er­klärt und de­kla­riert, aber nach und nach leh­ren mich die spi­ri­tu­el­len Er­fah­run­gen, daß es dar­auf an­kommt, ei­nen sanf­ten Über­gang ins Stei­ner­ne zu fin­den. Nicht Tier wer­den, son­dern mi­ne­ra­lisch. An­or­ga­nisch, der al­te Mann aus der Berg­gas­se zu Wien hat­te da­für ein Theo­rie­chen be­reit.

Bild 3 – Kunst des Aufgebens V – © Leopold Federmair

Bild 3 – Kunst des Auf­ge­bens V – © Leo­pold Fe­der­mair

Wo­bei die An­or­ga­ni­schen ihr ei­ge­nes Le­ben ha­ben und he­gen, und nicht nur we­gen des Moos­man­tels, son­dern durch ih­ren Blick, der nicht un­be­dingt aus ih­rem Ge­sicht, ih­rem Au­ge kom­men muß, son­dern auch von der Schul­ter, dem Knie, den Ell­bo­gen aus­ge­hen kann. Von über­all, denn da ist kei­ne Stel­le, die dich nicht sieht. So füh­len wir uns ge­hei­ßen und auch schon halb ge­bor­gen, doch dann wer­den wir wie­der auf den Weg ge­sandt, zu­rück in die Pflicht, aus der Frei­heit ent­las­sen.

Am Fuß ei­nes der Was­ser­fäl­le, al­so vor dem Becken, das er dort bil­de­te, stan­den ei­ni­ge Mön­che, auch sie hat­ten die Rän­ge des An­or­ga­ni­schen längst er­reicht. Sie harr­ten dort aus mit ih­ren San­da­len, wa­ren im Ver­gleich zu ih­ren be­schei­de­nen Le­ben auf die dop­pel­te Grö­ße ge­wach­sen, min­de­stens, und lie­ßen die klei­nen Dra­chen und Dä­mo­nen, die sich zu Un­ge­heu­ern auf­plu­ster­ten oder zu lu­sti­gen Po­ké­mons, ih­ren Scha­ber­nack trei­ben – al­les nur Spiel, stei­ner­nes und höl­zer­nes Ka­gu­ra, oder auch schon Ka­bu­ki als Kon­zes­si­on an den Zeit­geist. Er­wach­sen­sein, alt aus­se­hen, hat schon auch Vor­tei­le, man wird in an­de­re Spie­le hin­ein­ge­zo­gen; ich bin si­cher, daß mei­ne Toch­ter in­zwi­schen Ver­ständ­nis hat, oder nein, daß sie mit­ge­hen, das heißt mit­ma­chen wird, näch­stes Mal, auf der Rei­se in die Pflau­men-Was­ser­fall-Welt, bai­ta­ki, 梅滝, wenn ich so sa­gen darf.

Bild 4 – Kunst des Aufgebens V – © Leopold Federmair

Bild 4 – Kunst des Auf­ge­bens V – © Leo­pold Fe­der­mair

Ach ja, die Was­ser­fäl­le. Es sind wirk­lich de­ren drei. Ziem­lich lang, nicht sehr breit, aber das än­dert sich be­stimmt in der Re­gen­zeit. Kei­ne Zer­stö­run­gen hier, viel­leicht ist der gan­ze Be­zirk, so steil er auf­wärts und ab­wärts zieht, in der gro­ßen Mul­de, dem in­ne­ren der Berg­fal­te hier ge­schützt. Oder die bud­dhi­sti­schen Göt­ter sind mäch­ti­ger als die shin­toisti­schen. Ich weiß es nicht. Wie im­mer am Fuß von Was­ser­fäl­len, so­bald man sich auch nur ein paar Mi­nu­ten auf­hält, steigt ein Ge­fühl der Ewig­keit auf, das Stau­nen dar­über, daß sie hier Wirk­lich­keit ist, weil im­mer wie­der et­was, ein Schwall, ein Teil­stück, ein Trop­fen, ein Mo­ment, nach­kommt, er­setzt, wie­der­holt und be­stärkt, viel gleich­mä­ßi­ger als die ver­ge­hen­de Zeit, die rings­um zum Still­stand kommt, so daß man sich un­gern lö­sen möch­te. Und das an­de­re, der selt­sa­me Drang, hin­ter den Vor­hang zu ge­hen, so schmal er auch sein mag, was wür­de sich da­hin­ter be­fin­den, ei­ne an­de­re, zu­gleich trans­pa­ren­te und opa­ke Welt? »Er ver­schwand hin­ter dem Was­ser­fall…« Und wer schreibt, was ich jetzt schrei­be? Rich­tig, es ist ein lee­rer Brief an die Lee­re, die der 滝 (ta­ki) gleich­sam, im­mer nur gleich­sam ver­kör­pert.

Bild 5 – Kunst des Aufgebens V – © Leopold Federmair

Bild 5 – Kunst des Auf­ge­bens V – © Leo­pold Fe­der­mair

Ich lö­ste mich und ging wei­ter, den Berg hin­an, den Tem­pel­be­zirk zu­rück­las­send. Al­te Frau­en am Stock ka­men mir ent­ge­gen, zu­frie­den, daß sie es schaff­ten. Ein Klein­kind auf den Schul­tern des Va­ters. Ei­ne an­de­res, das durch den Wald brüll­te, nach­dem es hin­ge­fal­len war. Ja, es war Sonn­tag – schon wie­der, dach­te ich. Und mein ei­ge­nes Keu­chen, das mir die Be­we­gung er­leich­ter­te, oh­ne es hät­te ich kehrt­ma­chen müs­sen. Ich hat­te Hun­ger, die Ober­schen­kel schmerz­ten, die Knie wa­ren weich. An der Weg­ga­be­lung ging ich nach links, in Rich­tung Kü­ste, das Hin­ter­land mit dem ver­mut­lich hö­he­ren Gip­fel wür­de mich über­for­dern. Ich paß­te mich an, be­dach­te die Kräf­te­ver­hält­nis­se, gab aber nicht auf. Es war jetzt nicht Zeit zum Auf­ge­ben.

Bild 6 – Kunst des Aufgebens V – © Leopold Federmair

Bild 6 – Kunst des Auf­ge­bens V – © Leo­pold Fe­der­mair

Ei­ne Fa­mi­lie mit zwei klei­nen Kin­dern kam von ei­ner an­de­ren Sei­te her­auf, er­reich­te den Gip­fel gleich­zei­tig mit mir. Der Va­ter mach­te die Klei­nen auf ei­nen Specht auf­merk­sam, der sich nicht in sei­ner Klopf- und Hack­ar­beit stö­ren ließ, als wir uns ihm nä­her­ten, ich als un­vor­sich­ti­ger On­kel, bei­na­he wä­re ich ab­ge­rutscht, nur we­gen dem Bild. Es war hier fel­sig, und ei­ne gan­ze Wei­le sa­ßen wir dann, al­le fün­fe, auf ei­nem kor­pu­len­ten, wel­len­för­mig ge­rill­ten Block, un­se­ren Blick schwei­fen las­send über das Häu­ser­meer, zu den Sand­plät­ze vor den Schul­ge­bäu­den und den Fluß­brücken, die gott­sei­dank al­le noch stan­den und be­fahr­bar wa­ren, zu den Hoch­häu­sern und Bahn­ge­lei­sen und nach Eki­ci­ty, zu den Rie­sen­tür­men, die aus dem ehe­ma­li­gen Markt­ge­län­de wuch­sen, und wei­ter zum blau­en Meer, zu den In­seln, die sich mehr oder we­ni­ger ab­rupt er­ho­ben, zum Hi­ji­ya­ma, der vor viel­tau­send Jah­ren selbst ei­ne In­sel ge­we­sen war, zu den La­ger­flä­chen des Ha­fens und nach Eta­ji­ma, wo ich mir bald ein­mal neue Stie­fe­let­ten kau­fen woll­te, und nach Mi­ya­ji­ma, das von der blen­den­den Son­ne na­he­zu aus­ge­löscht wur­de.

Bild 7 – Kunst des Aufgebens V – © Leopold Federmair

Bild 7 – Kunst des Auf­ge­bens V – © Leo­pold Fe­der­mair

Sehr fern hör­te ich ein Schiff tu­ten, und bald auch schon die jauch­zen­den, fra­gen­den, mit­un­ter heu­len­den Kin­der­stim­men, die das Ver­gnü­gen ver­rie­ten, das die Kin­der dem Ler­nen und der Be­schau­lich­keit vor­zo­gen, mit ei­ner Un­be­küm­mert­heit, als woll­ten sie sa­gen: Aber wir ler­nen doch hier, seht ihr denn nicht, ihr Er­wach­se­nen, daß sich Ver­gnü­gen und Be­schau­lich­keit, Welt­li­ches und Spi­ri­tu­el­les gar nicht so sehr gar nicht so aus­schlie­ßen, wie ihr es uns ein­trich­tern wollt? Aber Yo­ko, sie ist ja schon groß und wie al­le ih­res Al­ters ein­ge­spannt in die Lern­müh­le: Ob sie ein­mal, bald ein­mal – be­vor es zu spät ist – Zeit ha­ben wird für ih­ren Va­ter und für das be­schau­li­che Ver­gnü­gen?

© Leo­pold Fe­der­mair