(← III)
Nachspiel
Da ich mit Daikoku nun einmal vertraut, wenn nicht sogar vertraulich geworden war, konnte ich nicht umhin, den Schrein aufzusuchen, der seinen Namen trug. Er war mir auf der Landkarte aufgefallen, lag noch in unserer Region, aber ziemlich weit weg von meiner näheren Umgebung. Ich konnte ihn nur mit der Eisenbahn erreichen, stieg am Hauptbahnhof von Hiroshima in einen Waggon der mir recht vertrauten Kabe-Linie um.
Der Ort selbst hieß Bairin, also Pflaumenhain; noch ein Grund für mich, hinzufahren. Ich stieg an einem wahren Provinzbahnhof aus, kaum mehr als eine Haltestelle, mit Wegerl neben dem einzigen Geleis, das der Bahnsteig für ein paar Meter in zwei gabelte. Dabei wurde der Raum jenseits des Geleises, stadtseitig, von einem weitläufigen Einkaufszentrum mit den üblichen fensterlosen Kästen und Kuben eingenommen, während gegenüber die bewaldeten Berge alsbald steil anstiegen. Auf der Karte hatte ich erkannt, daß ich ein Stückweit gegen die Fahrtrichtung zu gehen hatte, und war überrascht, als der Schrein, besser: das Schreinchen schon nach wenigen Schritten vor mir auftauchte. Bedrängt von einem Einfamilienhaus, zwei davor geparkten Autos und lauter Radiomusik, schien es sich dünn zu machen wie jemand, der den Bauch einzieht – ein Eindruck, den die vielen kleinen, an Obelisken erinnernden Schriftsäulchen, die ihn umfriedeten, noch verstärkte. Ich ging ein‑, zweimal um ihn herum. Von Daikoku keine Spur, überhaupt keine einzige Statue, nur die übliche Leere im Tabernakel. Der Kranich im Giebelfeld, die Flügel über Wellen oder Wolken ausgebreitet, war die einzige Verbindung zu meiner Begegnung mit der lustigen Gottheit in Ogura. Immerhin!
Es war also noch früh; gewöhnlich schätze ich die Wege ja mehr als das Ziel. Ich ging weiter in die Richtung, wo sich die Bergkette erhob, irgendwo müßte ich auf Pflaumenbäume stoßen, stieß aber nur auf ein einziges, ein Bäumchen, das allerdings sehr schöne weiße Blüten vorwies. Es stand unbekümmert da in einem winzigen Gärtchen neben einem Brachfeld – nein, hier war einmal ein Haus gestanden, in einer Ecke hatte man Steine und Gemäuer zusammengetragen. Weiter oben dann ein erster Wall aus hellgrauem Beton; als ich die enge Unterführung durchquerte, sah ich auch schon den nächsten, den übernächsten Wall, einer mächtiger als der andere. Wohin ich mich auch wende, immer werde ich an die Katastrophen erinnert. Von einem Haus war nur der erste Stock erhalten (gewöhnlich flüchten sich die Menschen nach oben, in diesem Fall sind sie hoffentlich unten geblieben), eine ganze Ecke fehlte, man sah durch ein großes Loch in das leergeräumte Wohnzimmer. Mir war bald klar, daß die Zerstörung, die ich hier ahnen konnte, nicht vor zweieinhalb Jahren geschehen war, sondern ein paar Jahre vorher, damals hatten sich die Unwetter auf den Norden von Hiroshima konzentriert, nicht auf den Osten. Ich erinnerte mich, daß auch damals viele Menschen umgekommen waren, und bei dem, was ich jetzt sah, wunderte mich die Zahl der Opfer nicht.
Die Verbauung war ein gewaltiges Projekt von schützenden Dämmen und nützlichen Trassen, einer neuen Autobahn, einem Tunnel, der hier ganz in der Nähe gegraben wurde. Seitlich vom zweiten Damm und der aufgerissenen Schlucht, die er versperrte, war ein Weg, an dem kaputten Haus vorbei, und bald darauf fand ich mich in einem Garten wieder, der im Frühling und Sommer paradiesisch aussehen mußte und es im Grunde genommen auch jetzt tat – unverlierbares Eden! –, frei zugänglich und gepflegt, wenige Meter vom Katastrophenstreifen entfernt. Gedrungene Palmen mit grün und golden glänzenden Wedeln und struppig-gedrungenen Stämmen, ein großer Kusuno-Baum und – ja, da waren sie! – zahlreiche Pflaumenbäume, von denen einige weiß blühten, während die lila, fast purpurn gefärbten schon ein wenig am Verblühen waren, auf dem Boden sich bereits Blütenteppiche bildeten. Zurechtgeschnittene Buschköpfe stiegen den Hang hinauf, im Sommer trugen sie allesamt Farben, das Schauspiel der voranschreitenden Jahreszeit hatte eben erst, mit den Pflaumen, zaghaft begonnen. An einer Seite, parallel zur Bergkette, wurde der Garten von einem langgezogenen Blockhaus begrenzt, das unbewohnt war und wohl auch keine Gemeinschaftstreffen beherbergte, es schien irgendwie einfach übriggeblieben. Dahinter dann noch ein letztes, weißes Wohnhaus, an dem die Lawine seitlich vorbeigerauscht war, ohne es auch nur im geringsten anzugreifen.
Und dann noch ein Wall, der dritte und mächtigste, man konnte ihn besteigen auf einer Treppe. An seinem Fuß befand sich ein Tümpel mitsamt Quelle und Bambusrohr zum Trinken, und hinter diesem im Gebüsch ein Vogel, plötzlich sah ich ihn, als er aufflog, sah zuerst nur den glänzenden Fleck in der Luft, die türkis und silbrig blau glänzenden Flügel, das Bäuchlein von einem zarten Rot, kaum größer als ein Spatz, ein Fing, jedoch ein Wundervogel; kein Sittich und auch kein Kolibri, er stand fliegend nicht in der Luft, flatterte er fast behäbig mit den Flügeln und nahm meine Gegenwart hin, mit leiser Neugier, nicht anders, als ich ihn betrachtete. Nicht so zutraulich wie das eine Rotkehlchen, das mir auf dem Campus oft begegnet und mich dann eine Weile begleitet, von Bäumchen zu Bäumchen, aber auch nicht so scheu wie die meisten anderen. Er hüpfte eine Weile am Tümpelrand, ließ sich dann auf dem Schotter nieder, dann wieder auf einem Ast, als ich schon dachte, er hätte mich verlassen. Ich erstieg den dritten Wall, um einen Überblick über die Gegend zu bekommen, und war damit zufrieden, weiter nach oben gab es ohnehin keinen Weg. Der Wundervogel piepste mich einmal an, fast unhörbar, heiser, ein einziges Mal, großartiger Sänger war er nicht, seine Schönheit ganz im Bildhaften aufgegangen.
Ein guter Sänger war der andere, der mir beim Abstieg in Richtung Bahngeleise begegnete. Er saß auf einer Stromleitung, war grau, unansehnlich, vereinzelt; kein Spatz, doch er sang mir etwas vor und hörte nicht damit auf, so daß ich nach gar nicht so kurzer Hörerschaft, die ich genoß, die Geduld verlor – zu meiner Schande muß ich es gestehen – und weiterging, indem ich dem Sänger zuzwitscherte: »So lang wie du, mein Freund, habe ich nicht Zeit.« Und ein paar Augenblicke später, an einem Abschnitt der neuen Trasse vorbeikommend, dachte ich, daß sie, die Menschen – die anderen? – die Katastrophen zum Vorwand und zur Rechtfertigung für ihr eigenes Zerstörungswerk nehmen. Die Katastrophen und genauso die Epidemien, dachte ich noch. Zuletzt, schon auf der Ausfallstraße, am Rand des Shopping-Areals, wo Fußgeher wie ich nicht sehr beliebt sind, sah ich noch ein Café, das man auf einer steilen Außentreppe im zweiten Stock (japanischer Zählung) eines schmalen Gebäudes erreichte. Es nannte sich Hiro’s Café, war geschlossen und ragte himmelblau in den blauen Himmel. Noch ein Grund, hierher zurückzukehren!
Was mir, wieder im Zug, einfiel, ist die Idee, daß Daikoku den Schrein freiwillig verlassen haben könnte. Er ist ausgewandert. Vielleicht schützt er nicht vor Hochwasser, sondern umgekehrt, er zieht es an. Und so, um den Anrainern nicht noch mehr Unglück zu bringen, war er irgendwohin übersiedelt, in eine menschenleere Gegend wie Ogura drüben im Osten.
© Leopold Federmair