(← II)
Wieder am bivio, warum nicht doch die andere Möglichkeit wählen? Entscheidung revidieren? Beides tun! Es ging steil bergauf, zuletzt war die Straße geschottert, wohl hatte man sie verbreitert, damit Bagger an den Schrein herankämen, die ich dort im abgeholzten Gelände tatenlos herumstehen sah. Eine Tafel bezeichnete dem Besucher den Ort, das Gründungsdatum 1204, dazu das Götterlied von Minamoto no Yorimasa, einem dichtenden Krieger, der es im Jahrhundert vor dem dreizehnten (nach christlicher Zeitrechnung) verfaßt hatte. Das kleine Bauwerk war zweifellos vielmal erneuert worden, sicher auch manchmal beschädigt, unterspült, von einem stürzenden Baum getroffen, neu errichtet, wie es hierzulande so oder so der Brauch ist. Bei den letzten Unwettern hatte sich das Erdreich links und rechts vom Ogura-Schrein gelöst, zwei Lawinen waren an ihm vorbeigerauscht, er selbst hat die Katastrophe überstanden.
Habe jetzt wirklich den Rand des Randes der Welt erreicht: das war mein Flüstergedanke, als ich die letzte Stufe der Steintreppe hinter mir hatte und auf dem Plateau stand. Wenn die Erde annähernd eine Kugel ist, gibt es keinen Rand, es gibt nur Mitten. Der Ogura-Schrein befand sich in der Mitte der Mitte. Beides galt, Rand und Mitte. Und die Bewegung konnte immer noch weitergehen. Obwohl sich in Bälde, dachte ich, eine Pause empfiehlt. Ein (vorläufiges) Ende von Rand und Mitte.
Der Schrein selbst war nichts Besonderes, im Umkreis gab es Hunderte dieser Art, nur war er ungewöhnlich reich bebildert und beschriftet; für seine und meine Verhältnisse, versteht sich, ein bescheidener Reichtum. Eine weitere Steintafel rezitierte in vermooster Schrift ein Memento Mori, vita brevis ars longa, die Kunst überdauert (wenn es wahr ist), ein reines Gedankengedicht ohne ein einziges Bild, ohne Musik, ohne Gefühl: absolute Abstraktion. Bedenke, Mensch, du bist aus Staub, und wirst zu Staub werden. Ein Bild: Staub. Noch ein Bild: die Sonne. Ich schenke es Masa Nori, dem unbekannten Dichter jener Verse.
Der Mensch (das bist du!)
macht sich aus dem Staub.
Die Sonne scheint nur kurz.
Ein düsteres Waldgedicht. Soll sein, Licht der Erinnerung.
Unterm Dach des Schreins war ein buntes Allerlei ausgestellt, ein Foto von Pilgern oder Anwohnern aus dem Jahr 1955, die hier irgendein Fest begangen oder vielleicht ein Theaterstück aufgeführt hatten, gemalte Szenen von der Reisaussaat, während der ein Ereignis geschah, das ich weder im Bild noch in der Schrift entziffern konnte, und das schönste Gemälde, mit frisch wirkenden Farben, olivgrün das Kostüm des einen und die Sonne gelb, eine Darstellung des Kampfs zwischen Benkei und Minamoto no Yoshitsune, einem dynastischen Vorfahr des oben erwähnten Yorimasa. Die Motive erkannte ich, den Schauplatz, die Gojo-Brücke in Kyoto, weil ich einmal (in Tokyo) ein Kabuki-Stück gesehen hatte, das genaue diese, in zahlreichen Versionen überlieferte Geschichte erzählte. Benkei macht sich an der Brücke stark, nimmt 999 Personen das Schwert ab, doch beim tausendsten Kampf unterliegt er, wird zum Gefolgsmann des ersten des Minamoto-Clans (10. Jahrhundert) und dient ihm treu für den Rest seines Lebens. Die feminine Schönheit des nur leicht bewaffneten, leichtfüßig übers Brückengeländer hüpfenden Yoshitsune verwirrte mich zuerst, doch es konnte nur er sein; der schwere, gut gerüstete Benkei zeigt sich gegenüber dieser Erscheinung baß erstaunt. Ein Hauch von Heian in einer schon ziemlich kriegslüsternen Zeit.
Zuletzt bin ich noch, schräg hangaufwärts, zu dem Nebenpavillon hinüberspaziert, der ebenfalls verschont geblieben ist. Das Kistchen, viel mehr war es nicht, »Hütte« wäre schon zuviel gesagt, das Kistchen also war vollgestellt mit – nun ja, daß man den Göttern ein Gläschen Reiswein darbringt, ist nichts Ungewöhnliches, aber hier war der Raum vollgestellt mit großen Schnapsflaschen, Asahi-Bierdosen (natürlich ungeöffnet!) und einer großen Packung Salz, zum Essen nur zwei mochi, Reisbuletten (wenn ich’s so nennen darf).1
Am Rande der Welt,
den ich nun endlich erreichte,
steht das Denkmal des
Heiligen Trinkers.
© Leopold Federmair
Reislaiberl, für die Österreicher. ↩
Rand und Mitte
Die Sonne scheint nur kurz
Danke!