Die Kunst des Auf­ge­bens III

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Wie­der am bi­vio, war­um nicht doch die an­de­re Mög­lich­keit wäh­len? Ent­schei­dung re­vi­die­ren? Bei­des tun! Es ging steil berg­auf, zu­letzt war die Stra­ße ge­schot­tert, wohl hat­te man sie ver­brei­tert, da­mit Bag­ger an den Schrein her­an­kä­men, die ich dort im ab­ge­holz­ten Ge­län­de ta­ten­los her­um­ste­hen sah. Ei­ne Ta­fel be­zeich­ne­te dem Be­su­cher den Ort, das Grün­dungs­da­tum 1204, da­zu das Göt­ter­lied von Mi­na­mo­to no Yor­i­ma­sa, ei­nem dich­ten­den Krie­ger, der es im Jahr­hun­dert vor dem drei­zehn­ten (nach christ­li­cher Zeit­rech­nung) ver­faßt hat­te. Das klei­ne Bau­werk war zwei­fel­los viel­mal er­neu­ert wor­den, si­cher auch manch­mal be­schä­digt, un­ter­spült, von ei­nem stür­zen­den Baum ge­trof­fen, neu er­rich­tet, wie es hier­zu­lan­de so oder so der Brauch ist. Bei den letz­ten Un­wet­tern hat­te sich das Erd­reich links und rechts vom Ogu­ra-Schrein ge­löst, zwei La­wi­nen wa­ren an ihm vor­bei­gerauscht, er selbst hat die Ka­ta­stro­phe über­stan­den.

Bild 1 – Kunst des Auf­ge­bens III – © Leo­pold Fe­der­mair

Ha­be jetzt wirk­lich den Rand des Ran­des der Welt er­reicht: das war mein Flü­ster­ge­dan­ke, als ich die letz­te Stu­fe der Stein­trep­pe hin­ter mir hat­te und auf dem Pla­teau stand. Wenn die Er­de an­nä­hernd ei­ne Ku­gel ist, gibt es kei­nen Rand, es gibt nur Mit­ten. Der Ogu­ra-Schrein be­fand sich in der Mit­te der Mit­te. Bei­des galt, Rand und Mit­te. Und die Be­we­gung konn­te im­mer noch wei­ter­ge­hen. Ob­wohl sich in Bäl­de, dach­te ich, ei­ne Pau­se emp­fiehlt. Ein (vor­läu­fi­ges) En­de von Rand und Mit­te.

Der Schrein selbst war nichts Be­son­de­res, im Um­kreis gab es Hun­der­te die­ser Art, nur war er un­ge­wöhn­lich reich be­bil­dert und be­schrif­tet; für sei­ne und mei­ne Ver­hält­nis­se, ver­steht sich, ein be­schei­de­ner Reich­tum. Ei­ne wei­te­re Stein­ta­fel re­zi­tier­te in ver­moo­ster Schrift ein Me­men­to Mo­ri, vi­ta bre­vis ars lon­ga, die Kunst über­dau­ert (wenn es wahr ist), ein rei­nes Ge­dan­ken­ge­dicht oh­ne ein ein­zi­ges Bild, oh­ne Mu­sik, oh­ne Ge­fühl: ab­so­lu­te Ab­strak­ti­on. Be­den­ke, Mensch, du bist aus Staub, und wirst zu Staub wer­den. Ein Bild: Staub. Noch ein Bild: die Son­ne. Ich schen­ke es Ma­sa No­ri, dem un­be­kann­ten Dich­ter je­ner Ver­se.

Bild 2 – Kunst des Auf­ge­bens III – © Leo­pold Fe­der­mair

           Der Mensch (das bist du!)
           macht sich aus dem Staub.
           Die Son­ne scheint nur kurz.

Ein dü­ste­res Wald­ge­dicht. Soll sein, Licht der Er­in­ne­rung.

Un­term Dach des Schreins war ein bun­tes Al­ler­lei aus­ge­stellt, ein Fo­to von Pil­gern oder An­woh­nern aus dem Jahr 1955, die hier ir­gend­ein Fest be­gan­gen oder viel­leicht ein Thea­ter­stück auf­ge­führt hat­ten, ge­mal­te Sze­nen von der Reis­aus­saat, wäh­rend der ein Er­eig­nis ge­schah, das ich we­der im Bild noch in der Schrift ent­zif­fern konn­te, und das schön­ste Ge­mäl­de, mit frisch wir­ken­den Far­ben, oliv­grün das Ko­stüm des ei­nen und die Son­ne gelb, ei­ne Dar­stel­lung des Kampfs zwi­schen Benk­ei und Mi­na­mo­to no Yo­shits­une, ei­nem dy­na­sti­schen Vor­fahr des oben er­wähn­ten Yor­i­ma­sa. Die Mo­ti­ve er­kann­te ich, den Schau­platz, die Go­jo-Brücke in Kyo­to, weil ich ein­mal (in To­kyo) ein Ka­bu­ki-Stück ge­se­hen hat­te, das ge­naue die­se, in zahl­rei­chen Ver­sio­nen über­lie­fer­te Ge­schich­te er­zähl­te. Benk­ei macht sich an der Brücke stark, nimmt 999 Per­so­nen das Schwert ab, doch beim tau­send­sten Kampf un­ter­liegt er, wird zum Ge­folgs­mann des er­sten des Mi­na­mo­to-Clans (10. Jahr­hun­dert) und dient ihm treu für den Rest sei­nes Le­bens. Die fe­mi­ni­ne Schön­heit des nur leicht be­waff­ne­ten, leicht­fü­ßig übers Brücken­ge­län­der hüp­fen­den Yo­shits­une ver­wirr­te mich zu­erst, doch es konn­te nur er sein; der schwe­re, gut ge­rü­ste­te Benk­ei zeigt sich ge­gen­über die­ser Er­schei­nung baß er­staunt. Ein Hauch von Hei­an in ei­ner schon ziem­lich kriegs­lü­ster­nen Zeit.

Bild 3 – Kunst des Auf­ge­bens III – © Leo­pold Fe­der­mair

Zu­letzt bin ich noch, schräg hangauf­wärts, zu dem Ne­ben­pa­vil­lon hin­über­spa­ziert, der eben­falls ver­schont ge­blie­ben ist. Das Kist­chen, viel mehr war es nicht, »Hüt­te« wä­re schon zu­viel ge­sagt, das Kist­chen al­so war voll­ge­stellt mit – nun ja, daß man den Göt­tern ein Gläs­chen Reis­wein dar­bringt, ist nichts Un­ge­wöhn­li­ches, aber hier war der Raum voll­ge­stellt mit gro­ßen Schnaps­fla­schen, Asahi-Bier­do­sen (na­tür­lich un­ge­öff­net!) und ei­ner gro­ßen Packung Salz, zum Es­sen nur zwei mochi, Reis­bu­let­ten (wenn ich’s so nen­nen darf).1

           Am Ran­de der Welt,
           den ich nun end­lich er­reich­te,
           steht das Denk­mal des
                     Hei­li­gen Trin­kers.

Bild 4 – Kunst des Auf­ge­bens III – © Leo­pold Fe­der­mair

© Leo­pold Fe­der­mair

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  1. Reislaiberl, für die Österreicher. 

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