Im letzten Kapitel seiner im Sommer 2020 neu überarbeiteten Handke-Biographie »Meister der Dämmerung« hatte Malte Herwig vielleicht etwas indiskret aus dem Werkstattkästchen des Schriftstellers geplaudert. Peter Handke wolle »noch« eine »Dämonengeschichte« schreiben, so schreibt Herwig. Womöglich in Anlehnung an Geschichte des Besessenen von Gerasa aus dem Markus-Evangelium (5,1–20), der von Jesus von seinen Dämonen befreit wurde. Da war von Plänen die Rede, nach Israel zu fahren, sich auf die »Spuren des geheilten Besessenen« zu begeben. Eine Pilger- oder Bußfahrt, die eine »Erlösung« des Dichters von seinen bösen Geistern bringen soll?
Mit »Mein Tag im anderen Land« liegt nun diese »Dämonengeschichte« (so der Untertitel) vor. Erzählt wird sie von einem namenlos bleibenden Ich-Erzähler, einem Obstgärtner, der einst ein Buch über den Obstbau verfasst hatte und jetzt am Schreibtisch sitzend, von seiner Besessenheit nebst »Heilung« nachsinnt. Vielleicht ist es jener Gärtner, der in Wim Wenders’ Film »Die schönen Tage von Aranjuez« im Hintergrund ein, zweimal erscheint?
Zwar habe er, so der Erzähler, die Zeit seiner Besessenheit erlebt, aber dennoch keine oder nur unzureichende Erinnerung daran. Er ist auf das »Hörensagen« anderer angewiesen, insbesondere seiner Schwester, die sich um ihn fast mütterlich kümmert (die Eltern bleiben seltsam Verschollene). Eine »Schlafwandlerexistenz« habe er geführt, in einem Zelt auf einem alten Friedhof lebend, »Beschimpfungen und Schmähreden« auf seiner »Ortsdurchquerungssuada« ausstoßend, dann »kreuz und quer durch das Land« ziehend. Zunächst eher harmlos, etwa »Lebewesen, Tiere, einzeln, zu Paaren, zu mehreren« anredend oder einfach nur eine singende Amsel mit »Maul halten!« anherrschend.
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Peter Handke / Peter Hamm: Es leben die Illusionen. Gespräche in Chaville und anderswo. Wallstein Verlag, Göttingen 2006, S. 32–34.
Peter Hamm: Du schilderst diese Gegend hier als eine Bucht.
Peter Handke: Es ist auch eine Bucht.
Peter Hamm: Und da heißt es: „Mit uns als dem Strandgut darin.“ Und der Ich-Erzähler empfindet sich doch … Wohltuendste für ihn ist doch, daß er sich als Zuschauer fühlen kann.
Peter Handke: … Peter! Er erzählt doch aber genau, was Zuschauen sein kann, daß Zuschauen vielleicht eine Aktivität, welche die, denen man zuschaut, auf den Sprung bringt, oder: ändert!
Peter Hamm: Belebt.
Peter Handke: Oder belebt. Einfach auch besser spielen läßt, so wie beim Fußballspiel gute Zuschauer die Spieler vielleicht zu ihrem besten Spiel oder zu ihrem edelsten Spiel anfeuern können. Das Zuschauen ist ja sehr … ich merke das ja immer wieder, wenn ich einmal gut zuschaue, irgendwo, wo ich auch bin, daß viele Leute das brauchen. Daß die einfach besänftigt sind, nicht das sie harmloser werden in ihrer fast Messerziehhaltung, sondern sie werden besänftigt, sie werden aufmerksam, auf eine Weise humorvoll mit sich selber. Das Zuschauen ist etwas, das wir alle brauchen … daß uns jemand zuschaut auf eine umfassende Weise, wie man sich vielleicht das von Gott vorstellt, nicht?, daß Gott eigentlich durch das Zuschauen … daß das seine einzige Macht ist, denke ich mir manchmal so als Gedankenspiel: die einzige Macht Gottes ist, daß er uns zuschaut – und wenn wir uns gegenwärtig machen, daß Gott umfassend zuschaut, wären wir alle total besänftigt.
Peter Hamm: Ich glaube sogar, das ist ein Bild von Gottfried Keller, in dessen „Grünen Heinrich“ heißt es einmal: „Gott hält sich mäuschenstill, darum bewegt sich die Welt um ihn. Für den künstlerischen Menschen wäre das so anzuwenden, daß er sich eher zusehend verhalten … soll“, usw.
Peter Handke: Ich denke mir manchmal, diese Wendung zu Gott ist, daß man innerlich sich angeschaut sieht. Daß man sich gesehen sieht. Daß man sich von einem alles verstehenden, aber nicht allmächtigen, also von einem verstehenden Wesen gesehen sieht – und im Handumdrehen oder im Blickaufschlagen wird etwas anders mit dir. Das ist das, was man vielleicht – Punkt Punkt Punkt. Ich möchte da nicht weiterreden, aber es ist eine Erzählung zumindest wert, dieser Zustand: Was ist Zuschauen? Wie, was für verschiedene Stufen von Zuschauen gibt es? Ich glaube, es gibt wirklich etwas wie ein gottähnliches Zuschauen. Also daß man ganz und gar nicht gottgleich ist, aber … eine Güte im Zuschauen da ist, ja, ein gütiges, aktives Zuschauen, das man ruhig, glaube ich, ein Ideal nennen könnte, im Leben und im Arbeiten, auch im Lassen, im Sein-Lassen der anderen. Damit will ich … der langen Rede kurzer Sinn, daß diesem Mann, dem Keuschnigg, dem Chronisten-Erzähler der „Niemands-Bucht“, der ja nicht ich ist, sondern der eine Projektionsfigur von mir ist, dieses Zuschauen nicht gelingt. Der ist auf diese Weise auch gescheitert, nicht? Aber das heißt nicht, daß er nichts will, er will zuschauen, das Zuschauen weitergeben.
Was immer ich schön und gut gesehen habe, rhythmisch, gebe ich weiter. Was ist Schreiben anderes? Wie sagt Mörike? – Die Rose leuchtet voran. Und so leuchtet das Zuschauen voran. Wie Mörikes Rosen vorleuch… Ah, nicht „voran“, „vorleuchten“. Vor… noch schöner, viel schöner.