Eigentlich sind es vier Erzählungen, die die Literaturwissenschaftlerin Beatrix Langner in ihrem 190 Seiten-Roman »Der Vorhang« ineinander verwoben hat. Zum einen, jeweils in Kursivschrift, zu Beginn eines jeden der 27 Kapitel, ein wild-parodistischer Zeitenritt der ersten Menschin (wahlweise auch Behemots Tochter oder »ein Amphib«) durch die Erdgeschichte, über »känozoische Ufer« mit »jurassischem Sand« in »vortertiärem Untergrund«, einem »wie eine Glocke« schwingenden Erdmantel und dann feststellen, dass es am »diluvianischen Horizont« hell wird. Da jettet jemand 2496 Milliarden Jahre (unter Berücksichtigung einer von der Erzählerin eher langweilig empfundenen Episode von einer Milliarde Jahren) mit einem – wie sollte es anders sein – apokalyptischen Finale mit »rollenden Feuernestern«. Inspiriert werden diese Phantasmagorien durch die Riesenbagger, die seit Jahrzehnten in der Kölner Bucht die Landschaft umfräsen und von der Erzählerin in einer Mischung aus Abscheu und Faszination betrachtet werden. Dörfer werden umgesiedelt, Menschen ihrer Heimat beraubt (bisweilen sogar enteignet), nur (nur?) um Braunkohle zu fördern, die, wie sich jetzt einigermaßen überraschend herausstellt, für den drohenden Klimawandel nicht so günstig zu sein scheint.
Und dann gibt es noch die Ich-Erzählerin, die aus ihrer Kindheit erzählt, aus einer Stadt, die, warum auch immer, mit »E.« abgekürzt wird, obwohl man nach Sekunden erkennen kann, dass es wohl doch Erkelenz ist. Diese Kindheitserinnerungen wiederum werden ausgelöst durch die Betreuung, später Pflege der durch einen Schlaganfall und/oder Demenz gezeichneten Mutter, Jahrgang 1924, deren jahrelanger Verfall bis hin zu Windelhosen und Bettunterlagen in mitleidlosem Zorn erzählt wird. Da die Mutter auf die zahlreichen Fragen nicht mehr antworten kann (oder will), übernimmt die Tochter die Rekonstruktion ihres Lebens gleich selbst, lässt, wie es einmal heißt, die Zeit rückwärts laufen, füllt Leerstellen aus, imaginiert Ereignisse, die sie nicht erlebt hat, nicht erlebt haben kann und setzt dem (gewollten?) Vergessen das Fabulieren entgegen.
Der Ton ist erfüllt von Wut. Betroffen ist nicht nur die schweigende, sich stets fügende Mutter oder der prügelnden Vater, beide Flüchtlinge aus dem Osten, die sich nach einigen Wirrungen in der Kölner Bucht wieder begegnen und kurz zur »heiligen Familie« verklärt werden. Zunächst wird diese klassische Aufstiegsgeschichte erzählt, aus dem Neckermann-Vertreter wird ein Pächter eines kleinen Kaufhauses, der aber bald gegen die großen Konkurrenten nicht ankommt. Als die Schulden immer grösser werden, verlassen sie den Ort und teilen dies dem Kind als Fakt einen Tag vorher mit. Da ist es 13 oder 14 und am Boden zerstört.
Aber es steigert sich noch bis in einen Totengesang, wenn es um die jüdischen Bewohner des Ortes Erkelenz geht, die Untaten der Nazis, die Schuld der Deutschen, das Wegschauen, Verharmlosen und Vergessen. Zwei Mal besucht die Erzählerin später Erkelenz, 1989 und »ein halbes Menschenalter später«, eine »winterliche Reise in die missglückte Heimat«. Dabei schildert sie nicht nur den Niedergang der Stadt und der Region sondern auch diese servile Unterordnung dem Stromkonzern gegenüber (der natürlich 1940 von den Nazis gegründet wurde), empört sich über die behördlich angeordneten Niederwalzungen der Natur, der Wälder, die auch ein wenig verklärt werden. Einher geht damit für die Erzählerin der Verlust der Spuren des einstigen jüdischen Lebens. Ein doppelter »Un-Ort«.
Noch einmal, so der Subkontext, werden sie vertrieben. Sie besucht das einstige »Dorf der Juden« Berrendorf oder auch »Hexendorf« genannt. Der Taxifahrer nennt es »Terra Nova«, eine Art Freizeitpark, neu gegründet, »Zukunftslandschaft Energie«. »Untergangsromantik«. Wie in einer Liturgie werden die Schicksale der Menschen erzählt, die Verbrechen, die an ihnen verübt wurden nebst der Gleichgültigkeit der anderen.
Dazwischen Kindheitsimpressionen. Obwohl: Langners Erzählerin möchte nicht einer dieser Schriftsteller sein, die ihre Kindheit »liebevoll mit allerlei Trödel aus den Gefühlsarchiven ihrer Epoche« möblieren, »nur um nach gründlicher Seeleninventur festzustellen, dass all diese…schon fast entfallenen Dinge ihnen nichts bedeuten« (man weiß, was gemeint ist, auch wenn die Beispiele, die sie nennt – Nabokov und Mandelstam etwa – nicht überzeugen). In den schönsten Momenten ihrer Kindheitserzählungen bekommen plötzlich auch die Dinge eine Seele, Kindheit ist »Koexistenz aller Dinge und Zeiten«. Dieses Gefüge war selten und fragil, aber möglich. Es zerbrach, als man sie zwang, in den Osten überzusiedeln. Und dann endgültig, als sie mit der deutschen Geschichte konfrontiert wurde.
Zuweilen verschwimmen die Grenzen zwischen Erinnerungen und Fiktionen, was gewollt ist, denn schon im Untertitel wird der Roman als »eine (beinahe) wahre Geschichte« ausgewiesen. Etwa als sie in einem Karnevalszug ein paar Menschen verkleidet in Schlafanzügen entdeckt und sofort KZ-Häftlingskluft assoziiert, und die Lager vor ihrem geistigen Auge erscheinen (mit allen sinnlichen Wahrnehmungen – die sie wiederum imaginieren muss), diese »Gebirge von Verbrechen« nachempfindet. Und das kontrastiert natürlich scharf mit der ausgelassenen rheinischen Karnevalsstimmung um sie herum.
Erinnerungslosigkeit, ein »Du sollst vergessen« war, so die Essenz, das 11. Gebot der der »Davongekommenen« nach 1945. Adenauer, Verkörperung einer »geschmeidigen Unbeugsamkeit« (natürlich erst nachträglich beobachtet). Aber sie, die Autorin, will es nicht, sie steigert sich in einen Furor. Die Erzählerin, 1950 geboren, macht sich nicht nur zum »Kind des Nachkriegs«, sondern stilisiert sich »für immer« zu der »Generation nach Auschwitz«. Der Krieg habe auch für sie »nie aufgehört«. Sie lebt in »friedlosem Frieden«. In Anspielung an Martin Walsers autobiographischem Roman »springenden Brunnen« deklamiert sie für sich: »Meine Kindheit war ein leerer Brunnen«.
Schicksalhafte Ausweglosigkeit einer Generation? Kurz erwähnt wird Emmanuel Lévinas’ »Selbstscham«-Theorie. Dabei verortet sie die Selbstscham auf den sie wegen jeder Kleinigkeit prügelnden Vater, der nach seinen Schlägen vom Kind auch noch Reue für dessen »Vergehen« einforderte.
Unverhofft liefert diese Passage eine Möglichkeit einer Erklärung für ihre Erbsündentheorie einer Generation. Scham ist für Lévinas nicht nur ein Moment, in dem man nach außen ein schlechtes Bild in einer Situation abgegeben hat. Scham ist für ihn ein existentielles Gefühl, basierend auf der Unmöglichkeit, »vor sich zu fliehen, um sich vor sich selbst zu verbergen, zu verbergen, daß wir an uns selbst gekettet sind, daß das Ich der Anwesenheit seiner selbst gnadenlos ausgesetzt ist«. In »Ausweg aus dem Sein« schreibt Lévinas 1932 weiter: »Beschämend ist also unsere Intimität, d. h. die Gegenwart unserer Selbst. Sie enthüllt nicht das Nichts, sondern die Totalität unserer Existenz, die für ihr Dasein Ausreden sucht.«
Beatrix Langner erschafft für ihre »Ausrede« diesen Roman. Ihre Selbstscham geht einher mit einer Selbst-Viktimisierung, in dem sie sich zum Opfer macht, ein Opfer, überhaupt geboren zu sein. Keine Gnade einer späten Geburt, sondern Bürde. In den besten Momenten gelingen ihr erschütternde und expressiv-poetische Szenen. Aber immer wenn sie beginnt, politische Thesen beifallheischend zu predigen, statt ihrem Erzählen zu vertrauen, wird es ärgerlich. Manches wirkt dann aufgesetzt, arg simplifizierend, etwa wenn bei der Erwähnung von Fukushima der Eindruck erweckt wird, als seien die Toten auf die Kernenergie zurückzuführen. Eher peinlich die Erfindung des Dialogs zwischen Churchill und Stalin, die 1944 darüber reden, ob noch es noch eine oder zwei Millionen weitere Tote bis zum Ende des Krieges geben wird.
Langners Romantitel bleibt leicht mysteriös. »Der Vorhang« steht vermutlich als Allegorie für die unterschiedlichen Welten, die, obwohl eng beieinander, nicht zueinander kommen können, sei es im Krämerladen des Vaters, wenn die Dinge kurzzeitig eine Seele erhalten, wenn sie nicht bloße Verkaufsobjekte sind, sei es der Eiserne Vorhang, hinter den man vor den Wirtschaftswunder-Gläubigen flüchtet. Wobei eigentlich in diesem Zusammenhang »Vorhang« eher als Euphemismus zu verstehen ist.
Von Ferne erinnert man sich bei Langner Erzählerin an einige Figuren von Heinrich Böll, die an ihrem Unwillen, sich mit den Verhältnissen abzufinden und diese stattdessen in ihrem Sinne zu gestalten, zerbrachen. Kongenial wurde dies einst in einem Kurzfilm von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet mit dem Titel »Nicht versöhnt« inszeniert. Der Untertitel damals: »Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht.« Auf die menschengemachten Verwüstungen heutzutage bedeutet dies, so eine Lesart des Romans, dass der Mensch die an der Natur vollbrachte Gewalt zurückbekommt. Als Beleg hierzu dient am Ende der Hinweis auf ein »menschengemachtes« Erdbeben aus dem Jahr 2019, ein sogenanntes Spannungsbeben, unter der Stadt Elsdorf, bei der »Terra Nova«. Die Erwähnung des dort keineswegs so seltenen tektonischen Bebens klingt bei Langner wie eine Genugtuung.
Wie kann man an einem Text derart vorbeilesen?
Wer (nur ein Beispiel) aus den gelieferten geographischen Angaben das ‘E’ zu Erkelenz zu entschlüsseln glaubt, belegt damit nur seine Flüchtigkeit, mehr noch seine Dümmlichkeit. Diese Rezension ist ein Schmarren garniert mit mancher Einbildung, mancher Böswilligkeit.
Gegenvorschläge?
Der Vorhang. Was für ein Buch! Zentrifuge. Und Schwarzes Loch. Ein Multum-in-Parvo wie ich es mir wünsche. Fülle und Tempo mit Sinn für Rhythmus, Fantasie und Flow, viele viele Geschichten, Reflektion und persönliche Analyse für alle, die innerlich frei genug sind, einer Stimme in Aufruhr durch Zeiten und Schichten zu folgen – in Rückblick, Abschied, Erinnern und Vergessen. Für alle, die gerne Buckelpiste fahren und Schanzen springen und im Wäldchen etwas zu lange im Schnee liegen bleiben und träumen – fast wären die Zehen abgefroren! Mein grosser Dank an den Sprachvulkan Beatrix Langner.