Szc­ze­pan Twar­doch: Die Null­li­nie

Szczepan Twardoch: Die Nulllinie
Szc­ze­pan Twar­doch:
Die Null­li­nie

Koń ist 45, Hi­sto­ri­ker, leb­te in War­schau und wie er in der an­de­ren Welt, »die es nicht mehr gibt«, ge­hei­ßen hat, wer­den wir nie er­fah­ren. Er hat­te sei­ne Woh­nung der gro­ßen Schwe­ster Ewa über­ge­ben und war auf­ge­bro­chen in den Krieg. Da war er 43. Koń liegt zu Be­ginn des Ro­mans Die Null­li­nie von Szc­ze­pan Twar­doch zu­sam­men mit je­man­dem, der Rat­te ge­ru­fen wird. Den Na­men kennt der auf­merk­sa­me Twar­doch-Le­ser aus ei­ner Re­por­ta­ge, die im Ok­to­ber 2023 in der NZZ er­schie­nen war. Koń und Rat­te sit­zen in ei­nem Erd­loch, eu­phe­mi­stisch Un­ter­stand ge­nannt, auf der »fal­schen Sei­te« von »Va­ter Dnipro«, we­ni­ge Ki­lo­me­ter ent­fernt von der Null­li­nie. Dort sind sie, die »Rus­sacken«, oder, ver­ächt­li­cher: »Pä­do­rus­sen«. Ei­ne Kam­mer­spiel­sze­ne zu Be­ginn, mit dem er­zäh­len­den Koń, dem lust­los am to­ten Han­dy dad­deln­den Rat­te. Dem er­zählt Koń von sei­nem Groß­va­ter, der ukrai­ni­sche Wur­zeln hat­te und un­be­dingt woll­te, dass der En­kel ukrai­nisch sprach und, der, wie sich spä­ter her­aus­stell­te, bei der SS-Ga­li­zi­en war. Er er­zählt von sei­nem pol­ni­schen Va­ter, der sich als Eu­ro­pä­er fühl­te, die Na­tio­na­lis­men ab­le­gen woll­te und sei­ner ver­knö­cher­ten Mut­ter. 2016 war Koń, der da­mals noch nicht Koń war, zum er­sten Mal in der Ukrai­ne, ein »ci­ty break« in Kiew, hier: Ky­jiw (was merk­wür­dig ist, zwi­schen den Lem­bergs und Kra­kaus). Ei­ne Stadt »wie ein Frei­licht­mu­se­um«, er schau­te sich noch die Spu­ren vom Mai­dan an und mach­te Be­kannt­schaft mit ei­nem all­ge­gen­wär­ti­gen Na­tio­na­lis­mus.

Wer ist hier Ro­bert Jor­dan?

Spä­ter, kurz vor der Un­ter­schrift, der Ver­pflich­tung, wie­der in Ky­jiw, sah er die um­trie­bi­gen Ge­schäfts­leu­te in den Lu­xus­ho­tels in ih­ren »gro­ßen, ge­pan­zer­ten Land Crui­sern«, wäh­rend er we­nig spä­ter in ei­nem al­ten, klapp­ri­gen Nis­san Na­va­ra zu den Stel­lun­gen fah­ren muss­te, was nicht ein­fach ge­we­sen war. Vor dem Ein­satz ein Be­such in ei­nem Lu­xus­re­stau­rant, das »Pic­co­li­no«, nichts Ukrai­ni­sches war hier, au­ßer auf den Kra­wat­ten der Kell­ner, dort war ein »auf­ge­stick­tes Folk­lo­re­mo­tiv« zu se­hen, an­son­sten blieb hier der Na­tio­na­lis­mus, der Pa­trio­tis­mus, drau­ßen und man ras­pel­te am Tisch dem Gast den Trüf­fel auf das »ide­al ge­hack­te Rind­fleisch«.

Und nun sitzt im an­de­ren, im »gu­ten Kel­ler« die­ser Stel­lung, Ja­go­da, der auch nicht Ja­go­da heißt, der meh­re­re Spra­chen spricht, ein Le­ser, mit Kind­le im Ruck­sack, mehr­spra­chig, der fünf Jah­re in Ber­lin ge­lebt und stu­diert hat­te, da­vor und da­nach dann je­weils die Ver­wand­lung zum Krie­ger, in­klu­si­ve drei­mo­na­ti­ger Ge­fan­gen­schaft bei den Rus­sen in Do­nezk. Ja­go­da ist es, der an He­ming­ways Wem die Stun­de schlägt denkt, an Ro­bert Jor­dan, der ei­ne Brücke spren­gen soll, »da­mit die Fa­schi­sten nicht durch­kom­men«. We­nig­stens wä­re das et­was Sinn­vol­les ge­we­sen, meint er, wäh­rend sie hier in ei­nem Loch sit­zen, fest­sit­zen, nur dass »Se­len­skyj mit sei­ner Sor­gen­mie­ne im kack­grü­nen Hemd auf den Kon­fe­ren­zen da­von fa­seln kann, dass ihr ei­nen Brücken­kopf auf die­ser Sei­te eu­res Va­ters Dnipro hal­tet, oh­ne ge­nau­er zu er­klä­ren, wo­zu das gut sein soll.«

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Car­lo Ma­sa­la: Wenn Russ­land ge­winnt

Carlo Masala: Wenn Russland gewinnt
Car­lo Ma­sa­la:
Wenn Russ­land ge­winnt

Wenn Russ­land ge­winnt geht in­zwi­schen in die 5. Auf­la­ge und ist, als die­ser Text ent­steht, Platz 1 der Spie­gel-Best­stel­ler­li­ste »Ta­schen­bü­cher Sach­buch« und vom Ver­lag nicht lie­fer­bar. Das liegt na­tür­lich vor al­lem an der Pro­mi­nenz sei­nes Au­tors, Car­lo Ma­sa­la. Der Pro­fes­sor für In­ter­na­tio­na­le Po­li­tik an der Uni­ver­si­tät der Bun­des­wehr ist seit dem rus­si­schen Über­fall auf die Ukrai­ne in den Me­di­en om­ni­prä­sent. Es ist un­be­streit­bar Ma­sa­las Ver­dienst, dass er die Not­wen­dig­keit geo­po­li­ti­schen Den­kens als exi­sten­ti­ell wich­ti­gen Teil ei­ner Au­ßen­po­li­tik in den Fo­kus der Öf­fent­lich­keit ge­rückt hat. Sein 2022 über­ar­bei­te­tes Buch Welt­un­ord­nung zeig­te die Ver­wer­fun­gen und Irr­tü­mer des »We­stens« der letz­ten drei­ßig Jah­re auf. Deutsch­land wur­de dar­an er­in­nert, sich sei­ner ei­ge­nen In­ter­es­sen be­wusst zu wer­den.

Ma­sa­la be­für­wor­te­te von Be­ginn an fi­nan­zi­el­le Un­ter­stüt­zung, po­li­ti­sche West­bin­dung und um­fas­sen­de Waf­fen­lie­fe­run­gen für die Ukrai­ne. Das Land soll­te der­art un­ter­stützt wer­den, das für Russ­land die Ko­sten für ei­ne Wei­ter­füh­rung des Krie­ges zu hoch und da­durch Ver­hand­lun­gen auf Au­gen­hö­he mög­lich wä­ren. Den Ein­satz von Atom­waf­fen durch Russ­land schätz­te er eher ge­ring ein. Im Ge­gen­satz zu vie­len Au­gu­ren und Ex­per­ten sprach er al­ler­dings mei­nes Wis­sens nie von ei­nem »Sieg« der Ukrai­ne über Russ­land – wohl wis­send, dass dies il­lu­so­risch wä­re.

Par­al­lel plä­diert Ma­sa­la für ei­ne bes­se­re Aus­stat­tung der Bun­des­wehr und sah im »Zeitenwende«-Sondervermögen erst ei­nen An­fang. Hier kam ei­nem der Ver­gleich mit dem spä­ter recht kon­tro­vers dis­ku­tier­ten Chri­sti­an Dro­sten wäh­rend der Co­ro­na-Pan­de­mie in den Sinn (Ma­sa­la lehn­te den Ver­gleich ab). In den so­zia­len Netz­wer­ken zeig­te sich Ma­sa­la bis­wei­len als Hitz­kopf (was auch der Au­tor die­ser Zei­len mit­er­le­ben durf­te).

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Chri­sti­an Schwep­pe: Zei­ten oh­ne Wen­de

Christian Schweppe: Zeiten ohne Wende
Chri­sti­an Schwep­pe: Zei­ten oh­ne Wen­de

Fast zwei­ein­halb Jah­re be­ob­ach­te­te der Jour­na­list Chri­sti­an Schwep­pe das, was man »Zei­ten­wen­de« nann­te: Die Re­ak­tio­nen der deut­schen Re­gie­rung auf den Über­fall Russ­lands auf die Ukrai­ne. Schwep­pe weiß, dass es vom Kanz­ler­stuhl der Re­gie­rungs­bank zum Red­ner­pult sie­ben Schrit­te sind. Am 27. Fe­bru­ar 2022 rief Bun­des­kanz­ler Olaf Scholz ei­ne »Zei­ten­wen­de« aus. Spä­ter er­fährt man von Schwep­pe, dass Scholz sich mit dem Be­griff der Zei­ten­wen­de selbst pla­gi­iert hat­te; er ver­wen­de­te ihn be­reits 2017 in ei­nem Buch, frei­lich oh­ne Ver­bin­dung mit mi­li­tä­ri­schen Fra­gen. An je­nem Fe­bru­ar 2022 kün­dig­te er ei­ne In­stand­set­zung der längst ma­ro­de ge­wor­de­nen Bun­des­wehr mit­tels ei­ner als Son­der­ver­mö­gen de­kla­rier­ten Ver­schul­dung von 100 Mil­li­ar­den Eu­ro an und ver­sprach, zu­künf­tig 2% des BIP für die Bun­des­wehr aus­zu­ge­ben. Die Ukrai­ne soll­te mit Waf­fen un­ter­stützt wer­den, um sich ge­gen den rus­si­schen Ag­gres­sor zu weh­ren. Mit die­ser Re­de und den er­sten Schrit­te da­nach brach man mit meh­re­ren Ta­bus der Bun­des­re­pu­blik, die spä­te­stens seit der Ver­ei­ni­gung 1990 in ei­nen geo­po­li­ti­schen Däm­mer­schlaf ver­fal­len war. Vie­le Me­di­en wa­ren be­ein­druckt, ei­ni­ge an­de­re zeig­ten sich pflicht­schul­dig schockiert, sa­hen den ag­gres­si­ven Deut­schen wie­der auf­le­ben.

Zei­ten oh­ne Wen­de heißt das Buch von Schwep­pe über die­se Zeit, das An­fang Ok­to­ber er­schie­nen ist. Ein Wort­spiel. Der Un­ter­ti­tel nimmt das im Früh­jahr bei Druck­le­gung sich ab­zeich­nen­de Re­sul­tat be­reits vor­weg: »Ana­to­mie ei­nes Schei­terns«. Man liest die 350 Sei­ten trotz­dem, in ei­nem Rutsch, in ei­ner Mi­schung aus Fas­zi­na­ti­on und Wi­der­wil­len.

Schwep­pe schreibt ei­ne Lang­zeit­re­por­ta­ge, Stil und Am­bi­ti­on er­in­nern an Ste­phan Lam­by. Im­mer wie­der wer­den ei­ni­ge aus­ge­such­te Prot­ago­ni­sten be­sucht. Be­son­ders häu­fig spricht er mit Ma­rie-Agnes Strack-Zim­mer­mann (»Flak-Zim­mer­mann«), je­ner FDP-Frau, die in hib­be­li­ger Un­ge­duld und mit en­er­gi­schem me­dia­len Auf­tre­ten den bei Waf­fen­lie­fe­run­gen für die Ukrai­ne chro­nisch stocken­den und zö­gern­den Scholz mehr­mals her­aus­for­der­te. Er be­glei­tet Da­ni­el An­drä, zu Be­ginn 43, Oberst­leut­nant, zu­nächst Kom­man­dant ei­nes in­ter­na­tio­na­len Ge­fechts­ver­bands in Li­tau­en. Man lernt Mat­thi­as Leh­na ken­nen, Mit­te 30, ei­nen ehe­ma­li­gen Ge­birgs­jä­ger, der in Ma­li war. Bei­de wer­den am En­de über die Bun­des­wehr und den Um­gang in ihr und mit ihr des­il­lu­sio­niert sein.

Schwep­pe zeich­net Por­traits von Al­fred Mais, Deutsch­lands ober­stem Hee­res­ge­ne­ral und In­go Ger­hartz, dem »Chef« der Luft­waf­fe – bei­de könn­ten nicht un­ter­schied­li­cher sein. Aber auch Ar­min Pap­per­ger, der Vor­stands­vor­sit­zen­de von Rhein­me­tall, wird be­äugt. Er schaut dem Haus­häl­ter To­bi­as Wald­hü­ter über die Schul­ter (da­bei be­kommt man in­ter­es­san­te Ein­blicke in die so­ge­nann­te »Nacht der lan­gen Mes­ser«, in der »der fi­na­le Haus­halt für das neue Jahr aus­ge­dealt« wird), be­glei­tet den Nach­rücker Nils Grün­der, der »in der FDP-Ar­beits­grup­pe Ver­tei­di­gung« ar­bei­tet, zi­tiert den ehe­ma­li­gen Wehr­be­auf­trag­ten Hans-Pe­ter Bartels und er­lebt die am­tie­ren­de Wehr­be­auf­trag­te Eva Högl, die zwar al­les zu wis­sen scheint, was die Man­gel­la­ge der Bun­des­wehr an­geht, aber ir­gend­wie wir­kungs­los bleibt.

Man­che Tref­fen wir­ken wie pflicht­schul­di­ge Pro­to­kol­le, weil sie kei­ner­lei Er­kennt­nis­ge­winn lie­fern. Et­wa bei Agnieszka Brug­ger, die über­zeugt ist, dass die Bun­des­wehr im »Ernst­fall« bes­ser funk­tio­nie­ren wür­de, als man­che Schlag­zei­le ver­mu­ten las­se. Dass es nicht »Ernst­fall« heißt, wis­sen bei­de an­schei­nend nicht, was ein biss­chen pein­lich ist, wenn man sich gleich­zei­tig dar­über amü­siert, dass Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­rin wie Bun­des­kanz­ler von »Luft­ab­wehr« (statt Flug­ab­wehr oder Luft­ver­tei­di­gung) spre­chen. Er scheint auch Brug­ger zu­zu­stim­men, die meint, dass die »Zei­ten­wen­de« zu sehr von Män­nern do­mi­niert wür­de. Ei­ne merk­wür­di­ge Fest­stel­lung, schließ­lich ist zu die­sem Zeit­punkt Chri­sti­ne Lam­brecht Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­rin, Eva Högl Wehr­be­auf­trag­te, An­na­le­na Baer­bock ist om­ni­prä­sent und sieht sich auch schon ein­mal mit Russ­land im Krieg und Strack-Zim­mer­mann be­herrscht die in­nen­po­li­ti­schen Schlag­zei­len.

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Ri­chard Da­vid Precht / Ha­rald Wel­zer: Die vier­te Ge­walt

Precht/Welzer: Die vierte Gewalt
Precht/Welzer:
Die vier­te Ge­walt

We­ni­ge Ta­ge vor der of­fi­zi­el­len Ver­öf­fent­li­chung des Bu­ches »Die vier­te Ge­walt« schlug den bei­den Au­toren für ihr Werk ei­ne gro­ße Por­ti­on Hä­me und Un­ver­ständ­nis ent­ge­gen. Grund wa­ren vor al­lem die für das Buch­mar­ke­ting vor­ge­nom­me­nen (und von den Leit­me­di­en be­reit­wil­lig ge­führ­ten) In­ter­views, in dem bei­de (oder auch nur ei­ner von bei­den) vor al­lem ih­re Po­si­ti­on zum Russ­land-Ukrai­ne-Krieg und den deut­schen Waf­fen­lie­fe­run­gen noch ein­mal poin­tiert – und teil­wei­se mit gro­ßer Ar­ro­ganz – vor­brach­ten. Precht und Wel­zer sind ge­gen die Lie­fe­rung von schwe­ren Waf­fen an die Ukrai­ne (und zwar ge­ne­rell – nicht nur von Deutsch­land), weil sie ei­ne Es­ka­la­ti­on fürch­ten. Russ­land sei, so das Cre­do, Atom­macht. Dass Atom­mäch­te in der Ver­gan­gen­heit durch­aus ih­re In­va­sio­nen auf­grund zu ho­her Ge­gen­wehr ab­ge­bro­chen ha­ben, schei­nen sie nicht zu wis­sen. Statt­des­sen schla­gen sie Ver­hand­lun­gen mit Pu­tin vor, ob­wohl des­sen Re­gime die Be­din­gun­gen hier­für mehr­fach er­klärt hat: Hier­zu wä­re die Ka­pi­tu­la­ti­on der Ukrai­ne not­wen­dig.

Mehr­fach ha­ben Precht wie auch Wel­zer (hier der Ein­fach­heit hal­ber mit der Sig­le »WP« ab­ge­kürzt) in »Of­fe­nen Brie­fen« zur Ein­stel­lung der mi­li­tä­ri­schen Un­ter­stüt­zung der Ukrai­ne auf­ge­ru­fen. Dies und das ag­gres­si­ve Mar­ke­ting führt zu ful­mi­nan­tem Wi­der­spruch ins­be­son­de­re in den so­ge­nann­ten so­zia­len Me­di­en (Twit­ter, Face­book). Dass die über­wäl­ti­gen­de Mehr­zahl der Kri­ti­ker das Buch bis da­hin nicht ge­le­sen hat­ten (bzw. es nicht le­sen konn­ten) spielt kei­ne Rol­le. Man schloss schlicht­weg vom In­halt der bis­he­ri­gen State­ments von WP auf das Buch.

Om­ni­prä­sen­te Dar­lings

Bei­de Au­toren sind seit vie­len Jah­ren pu­bli­zi­stisch om­ni­prä­sent und man kann sie als Dar­lings des Me­di­en­be­triebs be­zeich­nen. Ha­rald Wel­zer, Au­tor zahl­rei­cher Bü­cher ist ei­ne be­kann­te Fi­gur der sich pro­gres­siv ge­ben­den De­growth-Be­we­gung und gern­ge­se­he­ner Gast in den Me­di­en. Ri­chard Da­vid Prechts Kar­rie­re ver­dankt sich vor al­lem dem öf­fent­lich-recht­li­chen Sy­stem: es war die Li­te­ra­tur­kri­ti­ke­rin El­ke Hei­den­reich, die sein Buch »Wer bin ich – und wenn ja, wie vie­le?« der­art em­pha­tisch lob­te, dass es prak­tisch über Nacht zum Best­stel­ler wur­de. Zu­schau­er von po­pu­lär­wis­sen­schaft­li­chen Sen­dun­gen konn­ten von da an dem so­ge­nann­ten Phi­lo­so­phen Precht schwer ent­kom­men; sei­ne Bü­cher wur­den stets in ent­spre­chen­den Sen­dun­gen »vor­ge­stellt« (Eu­phe­mis­mus für be­wor­ben) und er­reich­ten dem­entspre­chend ho­he Ver­kaufs­zah­len. Tat­säch­lich hat Precht kei­nen ein­zi­gen phi­lo­so­phi­schen For­schungs­bei­trag pu­bli­ziert und spielt in der aka­de­mi­schen Phi­lo­so­phie kei­ne Rol­le.

Nun ha­ben al­so WP ein Buch ge­schrie­ben, in dem sie un­ter an­de­rem be­kla­gen, dass die so wich­tig ge­wor­de­nen Talk­show­run­den im deut­schen Fern­se­hen nicht pa­ri­tä­tisch nach Um­fra­ge­er­geb­nis­sen be­setzt sind. Weil sie her­aus­ge­fun­den ha­ben, dass im Früh­jahr bis zu 46% der be­frag­ten deut­schen Be­völ­ke­rung ge­gen Lie­fe­run­gen schwe­rer Waf­fen an die Ukrai­ne ge­we­sen sind, lei­ten die bei­den dar­aus ab, dass Dis­kur­se die­ses (schwan­ken­de) Stim­mungs­bild je­des Mal ab­zu­bil­den ha­ben. Man soll­te al­so kei­ne Mi­li­tär­ex­per­ten, Geo­po­li­tik­wis­sen­schaft­ler oder Russ­land­for­scher ein­la­den, son­dern, so wird sug­ge­riert, ver­mehrt wis­sens­fer­ne Ak­teu­re, de­ren ein­zi­ge Qua­li­fi­ka­ti­on dar­in be­steht, ei­ne be­stimm­te Mei­nungs­quo­te zu er­fül­len.

In­ter­es­sant ist da­bei, dass die­se Dis­kus­si­ons­run­den von WP wie ei­ne Art Ring­kampf be­trach­tet wer­den, in dem es nur »pro« oder »con­tra« gibt. Zwar be­kla­gen die bei­den im Lau­fe des Bu­ches ex­akt die­se bi­nä­re Aus­rich­tung und set­zen sich (et­was ob­skur for­mu­liert) für »mehr als fünf­zig Schat­tie­run­gen von Grau« (wer kommt da nicht auf ei­nen Buch­ti­tel?) ein, die »nicht an­ge­mes­sen re­prä­sen­tiert« sei­en – aber man sel­ber be­treibt das »Entweder-Oder«-Spiel sehr häu­fig.

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Das Re­gime Pu­tin

Be­mer­kun­gen zu sechs Bü­chern

John Sweeney: Der Killer im Kreml
John Sweeney: Der Kil­ler im Kreml

Der Bri­te John Sweeney, jah­re­lan­ger BBC-Re­por­ter und ein er­fah­re­ner Kriegs­be­richt­erstat­ter, ist 64 Jah­re alt. Er hat mehr als 240.000 Fol­lower auf Twit­ter und trägt zu­meist ei­ne oran­ge Müt­ze. Er war im Fe­bru­ar 2022 in der Ukrai­ne, in Kiew (ich blei­be bei die­ser Schreib­wei­se) und er­leb­te den Kriegs­be­ginn haut­nah mit. Sei­ne jah­re­lan­ge Be­schäf­ti­gung mit Wla­di­mir Pu­tin und die Er­fah­run­gen auch in die­sem neu­en Krieg (er fuhr un­ter an­de­rem nach But­cha) hat er nun zu ei­nem mehr als 300seitigen Buch mit dem rei­ße­ri­schen Ti­tel »Der Kil­ler im Kreml« zu­sam­men­ge­fasst. Es wird, so der Un­ter­ti­tel, »Wla­di­mir Pu­tins skru­pel­lo­ser Auf­stieg und sei­ne Vi­si­on vom groß­rus­si­schen Reich«, be­han­delt.

Sweeney kennt Pu­tins Kriegs­füh­rung, war in den 2000er Jah­ren mehr­mals in Tsche­tsche­ni­en, be­rich­te­te von Zi­vi­li­sten, die un­ter Ar­til­le­rie­feu­er flie­hen muss­ten, ob­wohl ih­re Eva­ku­ie­rung an­ge­mel­det war und sich mit wei­ßen Fah­nen be­weg­ten. Er war bei der Ab­schuss­stel­le der MH17 und sah Grau­si­ges. Für ihn ist Pu­tin nie­mand, der sich ver­än­dert hat – sei­ne Bru­ta­li­tät war schon im­mer da. Die Bom­ben­an­schlä­ge auf Wohn­häu­ser in Mos­kau 1999, die Gei­sel­nah­men im Du­brow­ka-Thea­ter 2002 und Be­slan 2004 – al­les Ter­ror­an­schlä­ge, die nach of­fi­zi­el­ler Les­art von tsche­tsche­ni­schen Ter­ro­ri­sten ver­übt wor­den wa­ren, aber, so ei­ni­ge In­di­zi­en Sweeneys, in Wirk­lich­keit »schwar­ze Ope­ra­tio­nen« des rus­si­schen In­lands­ge­heim­dien­stes wa­ren, um die Bru­ta­li­tät im Krieg in Tsche­tsche­ni­en zu recht­fer­ti­gen und Pu­tin als »star­ken Mann« zu zei­gen.

Die The­se, dass die Mos­kau­er An­schlä­ge auf Wohn­häu­ser vom FSB in­sze­niert wor­den sind, wird von der Ge­schich­te um den »ge­schei­ter­ten« An­schlag von Ra­j­san, als Zeu­gen ein­deu­tig rus­sisch-aus­se­hen­de Bom­ben­le­ger iden­ti­fi­zier­ten, ge­nährt. Auch zur Gei­sel­nah­me von 2002 gibt es zahl­rei­che Un­ge­reimt­hei­ten und un­ge­klär­te Fra­gen (die ver­mut­lich der Jour­na­li­stin An­na Po­lit­kows­ka­ya das Le­ben ge­ko­stet ha­ben könn­ten). Sweeneys Ein­las­sun­gen zu Be­slan sind hin­ge­gen eher spe­ku­la­tiv.

Da­mit wird – lei­der – das We­sen die­ses Bu­ches deut­lich. Die­se Bou­le­var­di­sie­rung ist um­so be­dau­er­li­cher, als Sweeney wirk­lich um­fang­rei­che und fak­ten­ba­sier­te In­for­ma­tio­nen über die (Un-)Taten Pu­tins und sei­ner Re­gie­rung chro­no­lo­gisch, al­ler­dings in po­pu­lä­rem Duk­tus vor­legt. Die Li­ste ist lang: An­schlä­ge, merk­wür­di­ge »Selbst­mor­de« von Op­po­si­tio­nel­len, Ver­haf­tun­gen, Mor­de, Ver­gif­tun­gen und Ver­let­zung völ­ker­recht­lich ver­bind­li­cher Gren­zen, völ­ker­mord­ähn­li­ches Vor­ge­hen in Krie­gen und die Ein­lul­lung west­li­cher Staats- und Re­gie­rungs­chefs bis hin zur Un­ter­stüt­zung rechts­na­tio­na­li­sti­scher und lin­ker Par­tei­en in der EU und der Trump-Par­tei­nah­me im US-Wahl­kampf. Das ist al­les nicht neu, aber in der Auf­zäh­lung be­ein­druckend, weil man deut­lich ge­macht be­kommt, wie die­se Vor­ge­hens­wei­sen prak­tisch schon zur Nach­rich­ten­rou­ti­ne ge­wor­den wa­ren, wo­bei die ein­zel­nen Ta­ten kurz­fri­stig für Ent­set­zen sorg­ten, am En­de je­doch wie­der rasch zum All­tag zu­rück­ge­kehrt wur­de. Manch­mal ver­blüfft Sweeney den Le­ser, in dem er schein­bar Un­wich­ti­ges be­rich­tet, wie et­wa die Li­ste der Ver­spä­tun­gen, die aus­län­di­sche Staats- und Re­gie­rungs­chefs auf Pu­tin war­ten muss­ten (man ist über­rascht, wer am läng­sten war­ten muss­te).

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Haus oh­ne Dach­stuhl

1991 schmie­de­te der da­ma­li­ge US-Prä­­si­­dent Ge­or­ge Bush ei­ne welt­wei­te Ko­ali­ti­on, mit der er über die UN die Er­mäch­ti­gung er­hielt, das von Sad­dam Hus­s­eins Trup­pen ein­ge­nom­me­ne Ku­wait un­ter Füh­rung der USA zu be­frei­en. Spä­ter wur­de be­kannt, dass es zum Teil Des­in­for­ma­tio­nen gab, um die Be­reit­schaft in den je­wei­li­gen Be­völ­ke­run­gen, Teil die­ser Ko­ali­ti­on zu sein, zu er­hö­hen. ...

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Irr­we­ge

Als der ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent Bush (sr.) 1991 in ei­ner bis heu­te bei­spiel­lo­sen Ko­ali­ti­on mit Un­ter­stüt­zung der UN ei­ne mul­ti­na­tio­na­le Trup­pe schick­te, um das sie­ben Mo­na­te zu­vor von Irak an­nek­tier­te Ku­wait zu be­frei­en, heg­te sich in Deutsch­land Angst und Wi­der­stand. Er be­stand u. a. dar­in wei­ße Bett­la­ken aus dem Fen­ster zu hän­gen. Im Wahn be­fürch­te­te man, ...

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Post­kar­ten

Am in­ter­es­san­te­sten bei den gest­ri­gen Bei­trä­gen, In­ter­views und Stel­lung­nah­men auf al­len mög­li­chen (deut­schen) Fern­seh­ka­nä­len wa­ren die Be­kennt­nis­se de­rer, die ei­ne In­va­si­on der ge­sam­ten Ukrai­ne durch Pu­tin hat­ten kom­men se­hen. Es wa­ren na­tür­lich die­je­ni­gen, die seit Jah­ren da­vor warn­ten und die man am En­de nicht mehr hö­ren konn­te (oder woll­te). Nun ist es zu spät. Zu ...

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