Das ge­fähr­de­te Ich

Ein Es­say über den Sturm-und-Drang-Li­te­ra­ten Rolf Die­ter Brink­mann

Töteberg/Vasa: Ich gehe in ein anderes Blau
Töteberg/Vasa: Ich ge­he in ein an­de­res Blau

Fünf­zig Jah­re ist es her, dass Rolf Die­ter Brink­mann im Al­ter von 35 Jah­ren in Lon­don töd­lich ver­un­glück­te, von ei­nem Au­to über­fah­ren, weil, wie es heißt, er die Um­stel­lung auf Rechts­ver­kehr nicht be­rück­sich­tigt hat­te. Jür­gen Theo­bal­dy, ein Schrift­stel­ler-Kol­le­ge (die Be­zeich­nung »Freund« ist bei Brink­mann eher schwie­rig) war da­bei und kein Buch kommt oh­ne die Schil­de­rung des Un­falls durch Theo­bal­dy aus.

Auch die bei­den neu­en Bü­cher ma­chen da kei­ne Aus­nah­me. Da ist zu­nächst ei­ne un­längst er­schie­ne­ne, neue Brink­mann-Bio­gra­fie Ich ge­he in ein an­de­res Blau von Mi­cha­el Tö­te­berg und Alex­an­dra Va­sa. Tö­te­berg ist Film­jour­na­list und lei­te­te lan­ge Jah­re die Agen­tur für Me­di­en­rech­te im Ro­wohlt Ver­lag; Alex­an­dra Va­sa ist Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin. Der Ti­tel ist ei­nem me­lan­cho­li­schen Ge­dicht Brink­manns aus den 1970ern mit dem kar­gen Ti­tel Ge­dicht ent­lehnt, wel­ches mit

  • »Wer hat ge­sagt, daß so­was Le­ben
    ist? Ich ge­he in ein
    an­de­res Blau.«

en­det. Pas­send hier­zu wur­de als Co­ver das längst iko­nisch ge­wor­de­ne Fo­to Brink­manns von Gün­ther Knipp blau ein­ge­färbt. Mi­cha­el Tö­te­berg steu­ert auch das Nach­wort zur er­wei­ter­ten Neu­aus­ga­be der Ge­dicht­samm­lung West­wärts 1 & 2 bei, die 1975, kurz vor Brink­manns Tod (ge­kürzt) er­schie­nen war.

Und im Ver­lag An­dre­as Reif­fer er­scheint dem­nächst ein als Zet­tel­ka­sten apo­stro­phier­tes bio­gra­fi­sti­sches Buch des Schrift­stel­lers und Jour­na­li­sten Frank Schä­fer. Man könn­te von ei­nem wei­te­ren Ver­such spre­chen, den To­des­tag als ei­ne Wie­der­be­le­bung von Rolf Die­ter Brink­manns Werk, das der­zeit nur bruch­stück­haft lie­fer­bar ist, zu eta­blie­ren.

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Ka­tha­ri­na Pek­tor (Hrsg.): Re­né Char und Pe­ter Hand­ke – Gu­te Nach­barn

Bis­lang hat Pe­ter Hand­ke seit 1980 33 Bü­cher ins Deut­sche über­setzt. Nicht ein­ge­rech­net drei ei­ge­ne Thea­ter­stücke, die er vom Fran­zö­si­schen sel­ber über­tra­gen hat­te. Hand­ke hat im­mer dar­auf hin­ge­wie­sen, den pro­fes­sio­nel­len Über­set­zern nicht die Ar­beit weg­ge­nom­men zu ha­ben. Sei­ne Über­tra­gun­gen dien­ten auch (wenn nicht so­gar vor­dring­lich) da­zu, die Auf­merk­sam­keit auf an­de­re, bis da­hin un­be­kann­te Au­toren zu ...

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Lud­wig Fels: Mit mir hast du kei­ne Chan­ce

Bei Jung & Jung ist un­ter dem schö­nen Ti­tel »Mit mir hast du kei­ne Chan­ce« ei­ne Aus­wahl von 98, teil­wei­se bis­her un­ver­öf­fent­lich­ten Ge­dich­ten von Lud­wig Fels aus den Jah­ren zwi­schen 1973 bis 2018 er­schie­nen. Os­kar Roeh­ler, der Sohn von Klaus Roeh­ler, dem ehe­ma­li­gen Luch­ter­hand-Lek­tor, der Fels’ er­ste Bü­cher pu­bli­zie­ren half, ver­fass­te ein Vor­wort. Die Jour­na­li­stin ...

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Stef­fen Men­sching: In der Bran­dung des Traums

Steffen Mensching: In der Brandung des Traums
Stef­fen Men­sching: In der Bran­dung des Traums

2018 be­ein­druck­te der 1958 ge­bo­re­ne Kul­tur­wis­sen­schaft­ler, Ka­ba­ret­tist, Thea­ter­re­gis­seur und Schrift­stel­ler Stef­fen Men­sching mit dem do­ku­fik­tio­na­len Ro­man »Scher­manns Au­gen«. Ein fik­ti­ver deut­scher KPD-An­hän­ger, der in der So­wjet­uni­on leb­te, ge­rät An­fang der 1940er Jah­re in die sta­li­ni­sti­sche Säu­be­rungs­ma­schi­ne und wird we­gen »kon­ter­re­vo­lu­tio­när-trotz­ki­sti­scher Tä­tig­keit« zu zehn Jah­ren Haft in ei­nem Ar­beits­la­ger ver­ur­teilt. Dort be­geg­net er dem Ge­dächt­nis­künst­ler, Hell­se­her und Hand­schrif­ten­deu­ter Ra­fa­el Scher­mann, ei­ne Per­son, die tat­säch­lich exi­stier­te und in ei­nem La­ger ein­ge­sperrt war. Im Buch wer­den nicht nur der La­ger­kos­mos mit sei­nen bis­wei­len bru­ta­len Kon­se­quen­zen ge­schil­dert. Es wird auch ein Le­bens­bild die­ses voll­kom­men un­po­li­ti­schen Scher­mann er­zählt, der ein­fach nur sei­ne Sa­lon- und Va­rie­té-Vor­füh­run­gen fort­set­zen woll­te und durch Krieg, An­ti­se­mi­tis­mus und Ver­fol­gung al­les ver­lor. Tat­säch­lich ist das Schick­sal von Scher­mann bis heu­te nicht ge­klärt.

Men­sching hat nun et­was ge­macht, was man nach die­sem opu­len­ten und viel­schich­ti­gen Ro­man nicht un­be­dingt er­war­tet hät­te: Er ver­öf­fent­licht ein 100seitiges Buch mit 94 Ge­dich­ten.

Das läng­ste Ge­dicht – ver­mut­lich In­spi­ra­ti­on für das wirk­lich schö­ne Co­ver – heißt »Himm­li­sche Bot­schaft«, steht di­rekt am An­fang und um­fasst fünf Sei­ten. Es ist nicht mehr als ei­ne War­nung an die Au­ßer­ir­di­schen, die die kunst­vol­len Bot­schaf­ten, die man 1977 zu­sam­men mit den Raum­son­den Voya­ger 1 und 2 in den Welt­raum ab­ge­schickt hat, le­sen und ver­ste­hen soll­ten. Fast scheint es so als ha­be der War­ner ei­ne ge­wis­se Sehn­sucht an die dar­ge­stell­te Welt (die ja im Lau­fe der Jahr­zehn­te längst ei­ne ganz an­de­re ge­wor­den ist), aber der Rat­schlag an die Ali­ens ist ein­deu­tig: Falls sie sich auf den Weg ge­macht ha­ben soll­ten sie bes­ser »vor­bei­ra­sen«, so­fern sie »ver­nunft­be­gabt« sind. Nur stellt sich die Fra­ge, wer ih­nen jetzt Men­schings Ge­dicht nach­schickt.

So wird die do­mi­nie­ren­de Ton­la­ge vor­ge­ge­ben. Leicht aber nie seicht, welt­zu­ge­wandt, manch­mal idea­li­stisch, aber nie uto­pisch. Es gibt Ge­dich­te mit hei­te­rer Me­lan­cho­lie wie et­wa über ei­nen Ein­bei­ni­gen:

»Der ein­bei­ni­ge Al­te
im Roll­stuhl
vor dem Ein­gang
der Ger­ia­trie
hält sein Ge­sicht
in die Son­ne
und lä­chelt, froh,
dass er noch
am Le­ben ist.«

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Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑7/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

(← 6/8)

Salzburg, auf dem Mönchsberg. Hier soll vor Jahren ein berühmter Epiker gewohnt haben. © Leopold Federmair
Salz­burg, auf dem Mönchs­berg. Hier soll vor Jah­ren ein be­rühm­ter Epi­ker ge­wohnt ha­ben. © Leo­pold Fe­der­mair

Schluß. Mei­ne ab­ge­bro­che­nen Lek­tü­ren woll­te ich doch un­ter den Tep­pich keh­ren. Bes­ser, du machst mal halt und blickst zu­rück (auf die­sen Rück­blick hier). Die Re­de ist da nur von Er­zähl­li­te­ra­tur, fast al­les Ro­ma­ne. Da­bei ha­be ich doch auch Es­says ge­le­sen, nicht nur von Fo­ster Wal­lace, auch von Ol­ga Mar­ty­n­o­va und Tho­mas Stangl. Mon­tai­gne, den le­se ich so­wie­so im­mer, mei­ne Bi­bel, die es­sais. Auch so­ge­nann­te Sach­li­te­ra­tur, Grund­fra­gen der Ma­schi­nen­ethik zum Bei­spiel, die Na­men von Sach­buch­au­to­ren ver­ges­se ich mitt­ler­wei­le fast aus­nahms­los. Und Ge­dich­te? Ich ge­hö­re zu de­nen, die die Ly­rik für den Kern des Pla­ne­ten Li­te­ra­tur hal­ten: ein hei­ßer, glü­hen­der Kern, der in der Epik manch­mal Erup­tio­nen zei­tigt; em­ble­ma­tisch in Bo­la­ños Wil­den De­tek­ti­ven. Ri­car­do Pi­glia hat so gut wie gar kei­ne Ge­dich­te ge­schrie­ben – nur ei­nes, im Traum:

Soy
el equi­li­bri­sta que
en el ai­re ca­mi­na
de­s­cal­zo
sob­re un alambre
de púas

Ich bin
der Seil­tän­zer der
in der Luft geht
oh­ne Schu­he
auf dem
Sta­chel­draht

– aber 2008 zur Er­öff­nung der Buch­mes­se in Bue­nos Ai­res sag­te er in sei­ner (wie üb­lich im­pro­vi­sier­ten) Re­de, in den ei­li­gen Zei­ten, in de­nen wir heu­te leb­ten, sei die Dich­tung ei­ner der we­ni­gen Räu­me, in de­nen man ei­ne ei­ge­ne Zeit­lich­keit ent­fal­ten kön­ne. Und er wi­der­sprach Ador­nos Ver­dikt, nach Ausch­witz sei das Schrei­ben von Ge­dich­ten bar­ba­risch (die Über­lie­fe­rung trans­por­tiert das Ad­verb »un­mög­lich«, doch Ador­no hat­te »bar­ba­risch« ge­schrie­ben, fast so, als mach­te sich ein Dich­ter al­lein durch sein Da­sein mit der Na­zi-Bar­ba­rei ge­mein): Die ar­gen­ti­ni­sche Er­fah­rung nach »un­se­rem klei­nen Ausch­witz« zei­ge, daß dies sehr wohl mög­lich sei, sag­te Pi­glia und ver­wies auf Ju­an Gel­man1 und Leó­ni­das Lam­bor­ghi­ni. »Wir, die Er­zäh­ler«, fuhr Pi­glia fort, »brin­gen den Dich­tern Hoch­ach­tung ent­ge­gen, weil sie mit Spra­che in Rein­kul­tur ar­bei­ten.«

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  1. Diese Mitteilung verbanne ich in die Fußnote, weil die Fülle des Getanen, Gelesenen, Geschriebenen langsam ein bißchen angeberisch wirkt; andererseits gehört das halt alles zum Bericht, dessen Teile sich wechselseitig erhellen sollen: Kürzlich habe ich zwei Gedichte von Gelman für eine zweisprachige Anthologie spanischer und lateinamerikanischer Dichtung übersetzt, und vor einigen Jahren auch einen ganzen Gedichtband, der bisher – auf deutsch – nicht veröffentlicht ist. Von Gedichten bin ich umgeben, mehr als von Romanen, Erzählungen oder Essays. Mit den Gedichten lebe ich. Freilich, sie lassen mir auch keine Ruhe, treten nicht so zurück in ihre Schlafkammer wie, zum Beispiel, die ersten beiden Bände der Suche nach der verlorenen Zeit. Man liest öfter und genauer, es kommt zu Verschiebungen und Überlagerungen des Sinns. So daß wir beim Übersetzen manchmal zu zweifeln beginnen: Was steht hier: amo oder amor, zwei grundverschiedene Wörter, grundverschiedene Bedeutungen. Herr oder Liebe? Mit Susanne Lange, einer großartigen Übersetzerin, der wir u. a. den neuen deutschen Don Quijote verdanken, tausche ich mich jetzt gerade darüber aus. Übersetzen ist ein genaueres, eindringliches, schöpferisches Lesen. 

Frie­de­ri­ke Roth: Abend­land­no­vel­le

Friederike Roth: Abendlandnovelle
Frie­de­ri­ke Roth: Abend­land­no­vel­le
Der Ti­tel »Abend­land­no­vel­le« führt zu­nächst in die Ir­re. Tat­säch­lich han­delt es sich bei Frie­de­ri­ke Roths Buch nicht um ei­ne No­vel­le im klas­si­schen Sin­ne. Es ist ein lan­ges Pro­sa­ge­dicht in drei Tei­len; »An­fan­gen end­lich«, »Un­er­hör­te Be­ge­ben­hei­ten. Wie­der­ho­lun­gen nur« und »Am En­de. Kein An­fang.«

Im zwei­ten Teil wird al­so di­rekt Be­zug auf die De­fi­ni­ti­on Goe­thes ge­nom­men. Bei Roth be­steht die un­er­hör­te Be­ge­ben­heit in den schier end­los emp­fun­de­nen Wie­der­ho­lun­gen des Im­mer­glei­chen im Lau­fe ei­nes Le­bens. Früh er­kennt der Le­ser, dass die Auf­tei­lung ein Le­ben ei­nes Men­schen struk­tu­rie­ren soll: Ju­gend und Er­wach­sen­wer­den zu Be­ginn – am En­de das Al­ter, der her­an­na­hen­de Tod. Da­zwi­schen das, was man sa­lopp wie un­voll­stän­dig mit »Le­ben« be­schrei­ben könn­te. Zur »Abend­land­no­vel­le« wird dies durch die ra­di­ka­le Spie­ge­lung die­ses Le­bens in un­se­rer Ge­sell­schaft, dem »Abend­land«.

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